25. Dezember
Müde blickt er zum gefühlt tausendsten Mal in dieser Minute auf die Uhr. Sie scheint still zu stehen. Mühsam widersteht er dem Drang, sein Steinzeit-Handy verbotener Weise hervorzuziehen und zu überprüfen, ob die Uhr richtig geht. Stattdessen beobachtet er die Straße vor dem Polizeirevier. Sie ist nur eine Nebenstraße, doch führt sie die Fußgänger direkt in den großen Park. Auch den kann der Hauptkommissar von seinem Büro im 2 Stock aus gut überblicken.
Familien laufen glücklich durch die kleine Stadt.
Kinder formen mit ihren kleinen Händen den frisch gefallenden Schnee zu Kugeln und bewerfen sich gegenseitig mit ihnen. Ihr Lachen und Freudengeschrei dringt durch die verschlossenen, manngrößen Fenster zu dem Diensthabenden. Verliebt Pärchen schauen den Kindern gedankenversunken zu. Alles strahlt die Weihnachtsruhe und Vollkommenheit des Festes aus.
Eine Familie springt ihm besonders ins Auge. Ein kleiner, maximal zwei Jahre alter Junge mit blauer Bommelmütze läuft, vor Freude lachend und kreischend, seiner älteren Schwester hinterher, die einige Meter vor ihm den Weg entlang läuft. Die Eltern der beiden kann der Kriminologe neben einander hergehend am Eingang des Parks aus machen. Sie laufen Hand in Hand durch die weiße Schneelandschaft. Liebevoll streicht die Frau sich über ihren Bauch. Unter der dicken Winterjacke lässt sich eine leichte und fein definierte Rundung vermuten. Der Mann an ihrer Seite schiebt mit der linken Hand einen Baggie. Fasziniert von dem Wunder, das sich ihren Augen bietet, bleiben die beiden stehen. Ihre Kinder tollen erfüllt durch die, von Schnee bedeckten Wiesen. Passanten sammeln sich neben dem Paar, und freuen sich über die Freude der Kinder, als wäre es ihre eigene.
So sollte Weihnachten sein!
Bei dem Gedanken muss er an seine Familie denken. Sie sitzen jetzt wahrscheinlich zuhause bei Café für seine Frau, Kakao für Emma, Clara und Jakob, und Kuchen. Was würde er nicht alles dafür geben, wenigstens an Weihnachten bei ihnen sein zu können.
Der kleine Junge draußen ist ausgerutscht und hat sich anscheinend weh getan. Sofort setzt der Vater sich in Bewegung, geht zu ihm, hockt sich in den Schnee, hilft dem Kind sich wieder aufzurichten, pustet auf die schmerzende Stelle, gibt seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn und lässt ihn wieder laufen.
Die vom Schnee nassen Hände trocknet er an seiner Hose ab, schlägt den Dreck ab und geht schmunzelt auf seine schwangere Frau zu, sie gibt erwidert diese und gibt ihm einen kurzen, aber energischen Kuss.
Selbstverständlich legt er seinen Arm um ihre Schulter und zieht sie eng zu sich. Die Blondine lehnt sich vorsichtig gegen ihn, und so blicken sie auf ihre Kinder, die wieder glücklich mit einander spielen.
Seufzend lässt der Polizist sich in seinen alten Schreibtischstuhl fallen. Irgendwie macht ihn das Schauspiel der Familien glücklich und traurig zu gleich.
Wie seine Kinder wohl Weihnachten wahrgenommen haben? Nachdenklich spielt er mit dem Füller, den seine Kinder ihm letztes Jahr geschenkt haben. War es für sie auch ein Fest der Liebe, Gemeinschaft und Familie? Er dreht den Stift in seiner Hand. Ist es das überhaupt? Ein Fest der Liebe, Gemeinschaft, Familie? Mit einem, die nachdenkliche Stille unterbrechenden, Klackern, fällt der Deckel auf den Boden. Er rollt bis zur Fensterbank. Ob er seiner Rolle als Vater richtig nachgekommen ist? Ob er ihr noch nachkommt? War er ein guter Vater? Ist er ein guter Vater?
Um die Gedanken zu verdrängen wuchtete er sich aus dem Ohrensessel, den er bei seiner Beförderung vor knapp 15 Jahren von seinem Vater bekommen hat, und seitdem als Schreibtischstuhl in seinem Büro nutzt. Als er am Fester angekommen ist, hebt er den Deckel auf, doch anstatt sich wieder zu setzen, öffnet er das Fenster. Frische, kalte Luft flutet den Raum. Geräuschvoll atmet er ein. Nun hört er die begeisterten Schreie der Kinder durch den Park in sein Büro schallen. Lächelnd betrachtet er das Treiben.
Zwar hatten seine Kinder nicht umbedingt so eine Kindheit, aber das kann er jetzt sowieso nicht mehr ändern. Was er ändern kann, ist die Gegenwart. Er kann sie so verändern, dass er in der Zukunft in die Vergangenheit schauen kann, und sagen: ,,Es war zwar noch immer alles perfekt, es war nicht von Anfang an gut, aber es ist besser geworden, und jetzt bin ich stoß darauf, was ich in der Vergangenheit getan und vor allem geändert habe, damit ich jetzt glücklich damit bin."
Ein Schneeball, der nur knapp sein Gesicht verfehlt, reist ihn aus seinen Gedanken.
Empört blickt er auf die weiße Fläche unter ihm. Dort unten, zwei Stockwerke unter ihm, stehen drei mittelgroße Gestallten und formen lachend neue. Ihr Lachen vermischt sich mit dem der kleinen Kinder, die mit ihrer Familie weiter in den Park hinein gegangen sind. Das Lachen der Jugendlichen ist unverkennbar. Als Sekunden später auch noch die Frau, am Wegrand mit einstimmt, ist der Familienvater sich sicher.
Dort unten steht seine Familie!
,,Komm Papa! Jetzt steh da nicht so doof rum! Komm runter! Es ist Weihnachten!"
Mit diesen Worten fliegen erneut Schneebälle zu ihm hinauf. Nur einer kommt wirklich in seine Reichweite, und den fängt er gekonnt aus der Luft, nur um ihn sekundenspäter seinem Sohn auf den Kopf fallen zu lassen.
Schnell, bevor noch mehr Schnee ins Haus kommt, schließt er das Fenster und wendet sich von ihm ab. Fassungslos bleibt sein Blick an der Uhr hängen. Es war eine Stunde vergangen, seit er das letzte mal auf die Uhr geschaut hatte und in genau einer Minute hatte er frei. War er frei. Frei um zu tun, was ihm beliebt.
In einer Minute würde er unten bei seiner Familie stehen und endlich mal wieder Spaß mit ihnen haben. Denn das, Spaß mit seinen Liebsten, hatte er in den letzten Jahren kaum gehabt.
Zeit das zu ändern!
Grinsend läuft, rennt er fast, durch die Gänge und Treppenhäuser der Polizeistation.
Kollegen schauen ihm verwundert hinterher, doch das ist ihm egal. Am 7. Januar wird er fragen gestellt bekommen, doch auch das ist ihm egal. Denn jetzt hatte er Ferien. Zeit. Zeit für seine Familie, und die will er endlich mal nutzen. Schließlich hat nicht jeder so ein Glück eine an seiner Seite zu haben. Denn genau das hat der Polizeikommissar, Kriminologe, Diensthabende und Familienvater. Glück.
- JSM1294
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