18. Dezember

Aionia, Schottland, in vielleicht gar nicht so ferner Zukunft:

Heißer Dampf stieg von den Plätzchen auf, als die Frau mit den großen roten Handschuhen das Blech aus einer Art heißem Schrank holte, den ich schon öfter in den Häusern der anderen Neros gesehen hatte. Neugierig streckte ich mich ein wenig weiter, um auch den Rest des Raums erspähen zu können. Ich wusste genau, dass ich nun zu weit ging, ja sogar gegen das Gesetz verstieß, als ich meine von Schweißperlen besetzte Stirn gegen die kalte Scheibe drückte und gleichzeitig versuchte meine kratzende Mütze, die ich schon seit meiner Kindheit hasste, nicht zu verlieren.

Inzwischen hatte die Frau das Blech auf dem Tisch abgestellt und ein junges Mädchen war zu ihr getreten. Gemeinsam beugten sie sich über ein Buch und eine bunte Mischung aus großen und kleinen Perlen, die ich so nur aus den wenigen Bildern meiner Omama kannte. Gebannt verfolgte ich, wie sie begannen diese nur auf den Plätzchen zu verteilen und dabei fröhlich durch die Gegend tanzten. Ich konnte sehen, wie ihre Augen strahlten und ihre Haare durch die Gegend wirbelten, als die Nero das Mädchen hochhob und sich mit ihr zum Takt der Musik bewegte. Musik, ein Luxus, den sich nur die Neros im Alltag leisten konnten.

Meine Omama hatte mir schon oft von ihrer früheren Leidenschaft zur Musik erzählt. Jeder, auch wir jetzigen Antemas, hatte Zugang zur Musik. Sie erfüllte die Städte mit Leben, zog tausende Menschen auf so genannte Konzert, die nur für die Musik veranstaltet wurden, und war in jedem Haus allgegenwärtig. Sie steuerte die Gefühle, wie es sonst keiner konnte. Musik, so oft hatte ich mich danach gesehnt sie zu hören.

Neugierig, wie ich war, presste ich in einer schnellen Bewegung aufgeregt mein Ohr an die Scheibe und zog mich gleichzeitig am Fensterrand noch ein Stückchen höher.

Und da geschah es. Meine Fußspitzen verloren den Halt auf der rutschigen, morschen Bank, die schon vorhin beim Besteigen so gewackelt hatte, und ich stürzte haltlos auf den Boden. Ein Scheppern, ein Krachen, ein Donner. Die stille Straße wurde durchzogen von dem Lärm wie von einer Peitsche und die ersten Fenster begannen sich zu regen, auf der Suche nach der Lärmursache, dem Störenfried. Auf der Suche nach mir, die, ich als Antema, gar nicht in diesem Stadtteil zu gelassen war.

Panisch rappelte ich mich auf, griff nach meiner gehassten Mütze, die mir vorhin vom Kopf gerutscht war, und versuchte trotz des stechenden Gefühls in meinem linken Knöchel möglichst schnell hier weg zu kommen. Doch wohin? Es gab keinen Ausweg. Unerlaubt, wie ich es schon häufig getan hatte, war ich auch an diesem Tag mal wieder durch das Zentrum der Stadt, das Viertel der Neros geschlichen auf der Suche nach einem Tropfen Wasser oder wenigen Gaben, die ihre Besitzer vor den Türen liegen gelassen hatten. Doch normalerweise verschmolz ich immer mit dem Schatten, machte mich unsichtbar, geräuschlos, nicht exisistent wie eine der Sagen umwogenen Schneeflocken in der eisigen Luft diese Dezemberabends.

Unerkannt blieb ich jetzt aber wohl nicht mehr. Hinter mir hörte ich bereits die schweren Schritte eines Mannes auf dem grauen Kopfsteinplaster, die wohl nur einem der Wärter, den Philaken, gehören konnten. Und bald würden sie mich eingeholten haben. Nach meiner Hand verlangen. Und dann... ein Schauer lief mir über den Rücken... dann würden sie das große Alpha, das mich als eine Antema auszeichnete, auf meinem Handrücken entdecken.

Diese Gedanken verdrängend versuchte ich verzweifelt, meine Schritte zu beschleunigen, und bog um die nächste Häuserecke. Die großen, kunstvollen Hecken, die dieses Nero-Viertel verschönerten und zu ihrem Wohlgefallen angelegt wurden, warfen lange Schatten und auch ich konnte meine Gestalt nicht von dem strahlenden Licht der Straßenlaternen verbergen.

Mein Atem ging immer schneller und mein Herz raste so sehr, dass ich glaubte, es würde mir bald aus der Brust springen und auf dem kalten, klinisch reinen Boden in tausende Stücke zerspringen. Meine Hand streifte die Blätter der Hecken, als ich an ihnen vorbei rannte und scharf, um die nächste Ecke bog. Noch zwei Straßen nach links und eine nach rechts, dann hatte ich das Labyrinth, das Gefängnis der identischen Häuser verlassen, und würde mich endlich wieder in meinem Revier befinden, dem Kreis der Antemas, ein Gewirr von morschen, baufälligen Hütten mit abertausenden kleinen Gassen und Verstecken, die nur die Einheimischen durchblicken konnten.

Meine Rettung vor Augen bog ich mit rasanter Geschwindigkeit um die vermeintlich letzte Ecke. Die Freiheit war so nah. Doch all meine Hoffnungen zersprangen wie eine unserer Tonschalen in klirrende Scherben, als ich die Hecke am Ende der Straße erblickte.

Ich hatte mich verlaufen. Jetzt war ich verloren. Es gab keinen Ausweg mehr, der mich von dem Philaken hinter mir wegführen könnte, keine Rettung mehr, die mich vor der sicheren Dulistation bewahren konnte. Ich war geliefert. So oft hatten mich meine Eltern nach dem Verschwinden meines Bruders davor gewarnt, durch die Viertel der Neros zu streifen, doch ich hatte nicht auf sie gehört. Und jetzt war ich kurz davor, das gleiche verheerende Schicksal zu erleben und meine Eltern so kurz vor ihrem geliebten, heiligen Fest nun auch allein zu lassen.

Mein Herz raste und ich sog hektisch die eiskalte und trockene Luft in meine Lunge. Ich presste mich an die Hauswand hinter mir, legte meinen Kopf in den Nacken, betete stumm vor mich hin, auf ein Wunder hoffend. Der Himmel über mir war klar und erstrahlte in einem dunklen Samtblau, das mich schmerzhaft an die funkelnde Farbe der Augen meines Bruders denken ließ. Ganz weit oben, kaum zu erkennen, bemerkte ich das metallische Glänzen des großen Daches, wie wir Antemas das große Gebilde, die riesige Kuppel über unserer Stadt zu nennen pflegten.

Durch sie sollte der ganze Regen abgehalten, jeder feinster Nebeltropfen aufgefangen und jede noch so kleine Schneeflocke gefasst werden. Dieses Dach war der Grund, warum wir überhaupt noch lebten. So erzählten uns die Neros zumindest.

Nach dem schrecklichen Wüten des dritten Weltkriegs, der die Menschheit erschüttert und alle unsere Resourcen aufbraucht hatte, war eine Dürre über unsere Welt gekommen. Es gab nicht mehr genug Wasser für die überbevölkerte Erde, deren Bevölkerung verzweifelt versuchte, zum Normalzustand zurückzukehren. Doch das war unmöglich.

Erst als das Zwei-Klassen System eingeführte wurde, kehrte wieder Ruhe und Ordnung ein, die nun seit mehr als 50 Jahren herrschte.

Die Neros hatten die Kontrolle über die Wasserversorgung erlangt und kontrollierten damit jeglichen Kreislauf des Lebens. Sie kontrollierten uns.

Die lauten Schritte des Philaken, die auf das Plaster donnerten, rissen mich aus meinen Gedanken und ich schreckte von der Wand hoch. Er konnte nicht mehr weit sein, gleich würde er um die Ecke biegen. Vor Schreck erstarrt lief ich langsam rückwärts, während ich gleichzeitig versuchte kein Geräusch von mir zu geben, durch keinen zu lauten Schritt seine Aufmerksamkeit zu wecken. Vielleicht hatte ich Glück. Vielleicht würde er mich in den dunklen Schatten der hohen Häuser nicht sehen. Vielleicht würde er einfach weiter laufen.

Immer noch um Luft ringend, setze ich weiterhin einen Schritt hinter den anderen, während meine Augen hektisch über die dunklen Umrisse der Häuser glitten.

Doch plötzlich stieß ich hinter mir auf eine kleine Stufe und rutschte auf dem ausgetretenen Stein aus. Gleichzeitig entfuhr mir ein kleiner, spitzer Schrei und während ich noch meine Hand auf meinen Mund presste, als könnte ich den entwichen Laut so zurücknehmen, sah ich den Lichtkegel des Philaken um die Ecke biegen.

Jegliche Hoffnung wich aus mir mit der angehaltenen Luft aus meiner Lunge hersaus. Alle Kräfte, die ich bis jetzt noch verzweifelt zusammengehalten hatte, verließen mich und ich sank erschöpft gegen die Wand hinter mir. Ein Knirschen. Ein Quietschen. Die Wand, die ich geglaubt hatte zu fühlen, brach hinter mir einfach entzwei und das leise Krachen verriet mir, das morsches Holz unter meinem Gewicht nachgegeben hatte.

Schnell rappelte ich mich auf und trapierte die beiden Holzstücke der Tür, die für mich den Weg in die Freiheit bedeutetet hatten, wieder. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass der Raum, in dem ich mich nun befand, nichts mit all den Räumen gemein hatte, die ich jahrelang unbemerkt durch die Fenster beobachtet hatte. Die Tapete blätterte von der Wand ab, ein unangenehmer muffiger Geruch kroch mir in die Nase und ich musste meine Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas in der Dunkelheit erkennen zu können.

Die Bruchstücke der Tür hinderten jeden Lichtstrahl, der sich vielleicht an diesem Dezemberabend in die Straßen des Nero Viertels verirrt hätte, am Durchdringen dieses Raumes. Ich wusste nicht, ob der Philake mit angesehen hatte, wie ich hierhinein verschwunden war, doch ich wollte mein Glück nicht auf die Probe stellen und tastete mich deshalb Stück für Stück halb blind durch den Raum bis zur einer weiteren Tür, die ich in meiner Hektik vorhin nicht erkannt hatte.

Mit einem leisen Knarren stieß ich sie auf und trat in den nächsten Raum. Das helle Licht, das mir entgegenstrahlte, ließ mich überrascht meine Augen zusammenkneifen. Dieser Raum war das komplette Gegenteil des anderen. Die reinste Pracht strahlte mir entgegen und das Glitzern, das jede Ecke des Raumes erfüllte, übertraf jede meiner Vorstellungen und Träume, die ich als kleines Mädchen noch besessen hatte. Lichterketten schmückten den Raum und in der Ecke stand eine riesige Pflanze, von welchem Ausmaß ich noch niemals eine gesehen hatte. Sie war über und über verziert mit vielen kugelrunden und wunderschön glänzenden Kugeln und auf ihrer Spitze saß ein kleiner funkelnder Stern, der mit seiner Pracht wohl viele Kinderaugen zum Leuchten hätte bringen können.

Ein Geruch nach feinstem Gebäck und einem Gewürz, das ich noch nie gerochen hatte, kroch mir in die Nase und erinnerte mich an das erste und einzige Mal, dass ich so etwas Feines und Besonderes wie Kuchen essen durfte. Doch bevor ich in dieser Erinnerung versinken konnte, riss ich erstaunt die Augen auf. Leise Melodien drangen an mein Ohr und ich hörte aus einer undefinierbaren Richtung jemanden sanft mitsingen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich war nicht allein. Natürlich war nicht allein. Wie hatte ich vergessen können, dass ich mich hier in einem Haus im Nero-Viertel befand. Der Schmuck und der Glanz hatten mich geblendet und meine Gedanken verbarrikadiert, wie die einer Katze, die nur noch einen Lichtstrahl fangen wollte. Hektisch blickte ich mich um. Wohin? Mein Gedanken wirbelten in meinem Kopf, wie einer der Sandstürme, die sooft am Horizont vorbei fegten. Da, die Tür. Mit einem Hechtsprung erwachte ich aus meiner Schockstärre und stürzte auf die Türe zu. Doch bevor ich auch nur den eisernen Griff an meiner Handfläche spüren konnte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie eine junge Nero lachend den Raum betrat, während ein kleiner Junge ungeduldig an ihrer Hand zog und sie somit dazu bewegen wollte, schneller zu laufen.

Die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben und seine Augen strahlten noch mehr beim Anblick des leuchtenden Baumes. Wie angewachsen stand ich mitten im Raum. Ich konnte mich nicht mehr rühren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte mich die Frau an, "Du... du bist eine Antema."

Zögerlich machte ich einen Schritt zurück. Zur Tür. Vielleicht, wenn ich schnell genug war, - "Nein, warte!", unterbrach die Nero mich, "Wir...", kurz zögert sie, dann spricht sie mit schneller Stimme weiter, "... wir warten schon lange auf jemanden wie dich. Die Regierung, sie verstößt gegen jegliche Menschenrechte. Sie behandelt euch wie Dreck, doch ihr seid auch nur Menschen. Menschen denen geholfen werden muss. Wir wollen helfen. Wir wollen dir helfen!"

Unschlüssig blickte ich sie an. Ihre gewittergrauen Augen schauten mich verständnisvoll und herzlich an, während es so schien, als würde sie nach einer Art Band zu mir suchen. Meine Gedanken wirbelten durch meinen Kopf und überschlugen sich innerhalb von Augenblicken. Konnte ich ihr trauen? Oder würde sich mich gleich hinter meinem Rücken verraten? Stumm starrte ich sie weiter an, während die Sekunden verstrichen und der Blick der Frau immer bittender wurde, "Hab keine Angst vor mir. Ich will dir nichts Böses."

Langsam nickte ich. Ich hatte beschlossen ihr vertrauen zu können, etwas anderes blieb mir schließlich nicht übrig.

Ein Lächeln bildete sich auf dem Gesicht der Frau und ich konnte ihr ansehen, wie glücklich sie über mein Vertrauen war. "Warte kurz hier. Ich bin gleich wieder da. Ich muss nur kurz etwas für dich holen", mit diesen Worten drehte sie sich um, verschwand mit eiligen Schritten aus dem Zimmer und ließ mich so mit dem Jungen und dem "Glanzbaum", wie ich ihn getauft hatte, alleine.

___

Eisiger Wind bließ mir ins Gesicht, während ich die letzten paar Meter zur Tür unserer kleinen Hütte durch den trockenen Schlamm stapfte, und ich zog meinen Mantel enger um mich. Kleine Staubwolken wirbelten auf und in der schwachen Beleuchtung der rostigen, alten Laterne, die mein Vater vor langer Zeit hier befestigt hatte, erschien die Gasse um mich herum friedlich. Still lag sie da und strahlte eine unfassbare Ruhe aus.

Die kalte Luft drang in meine Lunge, als ich ein letztes Mal tief einatmete, den Rucksack zurechtrückte und schließlich vor der morschen Tür stehen blieb, die von Macken und Kratzern übersät war und eindeutig schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte.

Vor mir sah ich noch immer die strahlenden, bunten Lichter des Baumes, roch noch immer den feinen Geruch des Kuchens und schmeckte die süße Würze des heißen Getränkes, das mir die Frau in die Hand gedrückt hatte.

Mein Rucksack war gefüllt mit Lebensmitteln, die vermutlich bis zum Frühling reichen würden und uns somit halfen den kalten und harten Winter zu überbrücken. Auf meinem Kopf saß eine nagelneu, kirschrote Mütze, die sich so weich an meine Stirn schmiegte, dass ich sie am liebsten nie wieder absetzen wollte, und meine sonst immer halb abgefrorenen Füße steckte in kuscheligen Socken und braunen Lederschuhen, die wohl jeder Witterung widerstehen könnten.

Zufrieden seufzte ich, machte den letzten Schritt und öffnete die Tür in unsere kleine, warme Stube. Und noch bevor ich mich ganz umdrehen konnte, um die Tür wieder zu schließen, flog mir schon meine kleine Schwester in die Arme. "Liv, wo warst du denn so lange? Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht!", drang ihre süße Stimme an mein Ohr.

Fest drückte ich sie an mich und genoss die Wärme, die sich langsam durch die dicken Schichten meiner Kleidung kämpfte.

"Ich habe es geschafft. Alles wird gut", flüsterte ich ihr leise ins Ohr, während ich an all die guten Gaben der Nero dachte, die sich in meinem Rucksack befanden. Der Schal meiner kleinen Schwester kitzelte mich an meiner Wangen und ich atmete ihren lieblichen Duft ein, den nur die eigene Familie, das eigene Zuhause verströmte. Ich war daheim.

Und während ich die nächsten Wort in die Stille und Ruhe dieses kalten Dezemberabends sprach, wusste ich das sie die Wahrheit waren: "Alles wird gut, denn es ist Weihnachten."


- sunshine_2704

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