13. Dezember

Blieb die Zeit jemals stehen?
Stille.

Beruhigende Stille umgab mich, als ich den mit Schnee übersäten Gehsteig entlang schlenderte.

Nur das leise Knistern des Schnees unter meinen Schuhsohlen und der rhythmische Herzschlag meines Herzen waren zu hören.

Ich atmete tief ein und betrachtete meine roten Stiefeln die sich mittlerweile vor Nässe vollgesogen haben.

Vor knapp einem Jahr schenkte mir mein Bester Freund Tobias diese Schuhe mit dem Hintergrundgedanken, dass ich sie im Winter trug und immer an ihn dachte.

Sanft drückte ich meine rötliche Nase in meinem kuscheligen Schal, der angenehm warm war, und dachte an dem Moment zurück als Tobias sich von mir verabschiedete.

Wie er mich in seine Arme nahm und ich mein Gesicht in seinen gut duftenden Pullover steckte, meine Finger in den dicken Stoff bohrte und hoffte, dass dieser Augenblick nie enden würde.


Doch dem war natürlich nicht so, denn die Zeit blieb nie stehen.

Ich wünschte mir jedoch sie hätte in diesem Augenblick eine Ausnahme gemacht.


Letztendlich löste er sich aus meinem Griff und flüsterte mir bedeutsame Worte in meinem Ohr, dann rückte er seinen vollgepackten Rucksack zurecht und drehte sich abrupt weg und verließ mit einem Mal sein Heimatland.

... Und mich ...

Ich stand mit vor Tränen geröteten Augen am Flughafen und wiederholte in meinem inneren diesen einen Satz.

Es waren diese goldene Worte, die einem nicht einfach über die Lippen kamen, die ein Mädchen und einem Jungen das Herz schneller schlagen ließen und einem alles plötzlich unmerklich erschien.

Die Tränen kullerten meine Wangen hinab, denn ich interpretierte stets etwas falsches in diesen einen vielsagenden Satz.

Denn Tobias meinte sie freundschaftlich, fast schon brüderlich und diese eine Erkenntnis ließ mich schmerz gepeinigt aufseufzen.

Meine Gefühle wurden nicht erwidert.

Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Tatsache umgehen sollte oder wie ich mit meinem Leben weitermachen sollte, jetzt wo er nicht mehr mit mir Zeit verbringen würde.

Ich war mir nur so bewusst, dass es auch mein Fehler war, denn bis heute wusste er nichts über meine Gefühle für ihn bescheid.

Es gab sogar Tage an denen ich sie selbst verleugnete und gegen sie krampfhaft an kämpfte.

Wie mein Schicksal es so wollte, machte es mir einen Strich durch die Rechnung und ließ mich mit einem gebrochenen Herzen zurück.

Es fühlte sich an, als hätte mir jemand einen Dolch ins Herz gerammt und die Sicht zur blendenden Sonne verdeckt.

Denn verdammt, ich hatte mich in meinen Besten Freund verliebt.

Verdammt nochmal.

Nachdenklich biss ich auf meine Lippen herum, ließ meine Gedanken über die Vergangenheit in Ruhe und kickte einen kleinen Kieselstein auf die Seite.

Meine Augen folgten ihm aufmerksam, beobachteten wie er über den Boden flog und wieder auf dem Schnee aufkam.

Er schoß mit so einer Geschwindigkeit davon, dass mir beim zuschauen etwas schwindelig wurde, da ich mich akribisch darauf konzentrierte.

Ich konnte mich in diese Sekunde mit diesen kleinen Steinchen identifizieren, wie als wäre er eine waschechte Person oder ein Tierchen.

Denn am Liebsten würde ich Tobias hinterher fliegen und ihm meine tiefsten Gedanken offenbaren, die sich im Laufe der Zeit in meinem Kopf gebildet haben.

Jedoch würde sich das als schwierig herausstellen, da Tobi schon seit ungefähr einem Jahr in der USA lebte und ich mit meine gerade erst 17 Jahren nicht alles stehen und liegen lassen konnte.

Zudem würden mir meine Eltern den Vogel zeigen.

Unmerklich schüttelte ich meinen Kopf und lächelte eine vorbei eilende junge Dame an, dessen Lippen sich auch zu einem kleinen Ginser verzogen, ehe sie ihren bunten Schal zurecht rückte und aus meinem Blickfeld verschwand.

Kurz drehte ich mich wieder zur ihr um und entdeckte auf ihren Rucksack einen bemerkenswerten Spruch, der sich in meinem Kopf festsetzte.

》Zeitlos bedeutet die Unendlichkeit einer einzigen Sekunde zu erkennen.《, flüsterte ich leise und kehrte wieder auf meinem Pfad zurück.

Insgeheim benetzte ich meine vor Kälte aufgerissenen Lippen und schmeckte kleine Schneeflocken auf meiner Zunge.

Ich atmete tief die erfrischende Luft ein und ließ meine Gedanken über diesen einzigartigen Satz gleiten.

Ob ich jeh diese eine Erfahrung machen werde, wie sich dieses Gefühl der Unendlichkeit anfühlte?

War das überhaupt möglich oder stand das nur in Bücher die geschwollen geschrieben wurden und für Menschen wie mich bestimmt waren?

Mittlerweile hüllte mich die Dunkelheit ein und die Menschen auf der gegenüberliegende Straßenseite verschwanden allmählich in ihre warmen Häuser.

Meine langsamen Schritte wurden schneller, bis der Schnee unter meinen Schuhen wegflog und ich zu meinem Familienhaus lief, welches sich hier in Deutschland befand.

In meinem Mund rann das Wasser zusammen als ich an den selbst gebackenen Zimtkuchen meine Ma und die köstlichen Vanille Kekse meiner jüngeren Schwester Valentina dachte.

Immer wieder fand ich es witzig, dass unsere beide Namen mit dem gleichen Buchstaben begannen.

Denn meine Eltern benannten mich auf den Namen Valeria, dessen Bedeutung

" Die Starke " oder "Die Kräftige" war.

Ich glaubte, dass sie mich auf diesen Namen getauft haben, da meine Großmutter an Krebs erkrankt war und nicht mehr unter uns weilte.

Nichtsdestotrotz lebte ich mit der Gewissheit, dass mich auch einmal diese Krankheit heimsuchen werden könnte.

In diesen Situationen redete ich mir immer diesen einen Satz ein :

"Lebe. Lebe im Hier und Jetzt."

Mit diesen Vorsatz überlegte ich nicht mehr über dieses heikel Thema.

Denn ich lernte im Laufe meiner Existenz, dass die Angst einem nur lähmte und einem in eine Art Trance versetzte.

Was jedoch nicht bedeuten sollte, dass sie einem schlussendlich in Stich lassen sollte, denn Angst schützte einem vor Gefahren.

Von weitem sah ich schon den weihnachtlichen Schmuck meines Vaters, den meine ganze Familie auf die Fensterrahmen gehängt hatten und einem kleinen Schneemann, der bestimmt von meiner künstlich begabten sister gebaut worden war.

Grinsend kniff ich meine Augen kurz zusammen und verlangsamte meine Schritte, bis ich nur mehr zu den kleinen Gartentor ging und meinen Schlüsselbund, voller Anhänger meiner Freunde, aus meiner ramponierten Schultasche kramte.

Ich mochte es zu laufen und dieses berauschende Gefühl welches währenddessen entstand.

Wie der Wind meine goldbraune Haarmähne zerzauste, mein Herz lautstark gegen meinen Brustkorb hämmerte und sich in meine großen grauen Augen Tränen sammelten.

Im Winter kam dieses Gefühl in meinem inneren stärker auf.

Dieses lebendige Gefühl.

Ich fühlte mich in dieser Zeitspanne einfach lebendiger denn je.

Wie als würde man auf einem Pferd ohne Sattel reiten, das saftige Gras unter den Hufeisen wegfliegte, sich das triumphierende Wiehern mit den Klang des Windes vereinte und dein Herz eins mit deinem Seelentier schlug.

Summend sperrte ich das etwas verrostete Tor auf und erkundete sofort die Weite.

Sofort entdeckte ich wieder diesen wunderschönen Mann aus kristall weißen Schnee.

Er besaß eine auffallende orange Karotte, die höchstwahrscheinlich als eine Nase diente und einem großzügigen Schal, den ich als meinem Lieblingsschal identifizierte.

Verwirrt zog ich meine Stirn in Falten und erkannte auch noch einer meiner kreativsten Hauben, die ich in meiner Schule selbst gestrickt hatte.Darauf waren kleine Elche abgebildet und singende Engeln zu sehen.

Obwohl dieses Werk etwas schief gegangen war und ich mich in der Stunde verstrickt hatte, mochte ich sie dennoch sehr.

Denn diese Mütze wurde mit Liebe hergestellt.

Ich sah mir dieses Meisterwerk meiner Schwester genauer an und fand zwei kleine Äste die in die Seiten des Mannes steckten.

Auf den Kopf ruhte ein großes pechschwarzes Reindl, welches bestimmt von meiner Mutter gefladert wurde und in der Mitte des jeweiligen Balles hefteten kleine Steine.

Beeindruckt ging ich pfeifend auf die Eingangstüre zu und war gerade im Begriff diese zu öffnen, als diese jedoch schwungvoll nach innen gezogen wurde.

Sofort drang ein süßlicher Duft eines Kuchens in meine Nase und ein kleiner Zwerg rannte stürmisch auf mich zu.

Lachend beugte ich mich etwas und zog meine zehnjährige Schwester in den Arm und strich über ihren Schopf, dessen Strähnen in einem Fischgrätenzopf Stil geflochten waren.

》Alles Gute zum Nikolaus Tag!《, flüsterte Valentina mit ihrem süßen Spanischen Akzent in mein Ohr und drückte ihre Nase in meinem flauschigen Schal. Da meine Mutter eine Latina war, wuchsen wir zweisprachig auf und redeten des Öfteren zu Hause auch Spanisch oder Englisch.

Glücklich drückte ich sie sanft an mich und erwiderte leise:

》Hat er auch zufällig meinen Schal mit deinem  verwechselt?《

Gewiss spielte ich auf den Schneemann in der Nähe von uns an und sofort nahmen Tinas Backen eine süße Röte an.

Lachend drückte sich sich etwas von mir weg und spielte mit einer losen Haarsträhne die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.

》Ich mag seine helle Farbe《, erläuterte sie unschuldig und begann gleich darauf zu kichern.

》Du verleugnest es nicht einmal!《

Empört zog ich spielerisch eine Augenbraue hoch und beobachtete wie sie schmollend zu mir aufsah und ihre Augen zu glänzen begannen.

》Hiermit sind Sie angeklagt!《, sagte ich mit einer tiefen Stimme und imitierte einen strengen Anwalt nach.

Grinsend begann ich meine Schwester durch zu kitzeln, bis sie lachend nach Luft schnappte und sich die kleinen Freuden Tränen wegwischte.

》Ich hasse dich《, nuschelte sie beleidigt und rückte ihren pastellfarbenen Rock zurecht.

Doch ihre dunkelbraunen Augen funkelten angriffslustig und verrateten schlussendlich ihre schauspielerischen Künste.

》Und ich liebe dich, mein kleines Fellknäuel.《

Schmunzelnd betrachtete ich ihr ebenmäßiges Gesicht, welches stets einem Gemälde einer wunderschönen Dame glich.

》Hey, so...《, abrupt endete sie ihren Satz, starrte über meine Schulter, die allmählich durch meine schwere Schultasche schmerzte, und riss ihre Augen überrascht auf.

Mit einem weit geöffneten Mund starrte sie mich an, ehe ihr Zopf mein Gesicht streifte und die Haustüre mit einem lauten Geräusch zugeschlagen wurde.

Perplext blähte ich meine Nasenflügeln auf und rief ihr hinterher:

》Falls da ein Einbrecher mit ner Axt steht und mich damit erschlägt, bist du schuld!《

Schon fast begann ich durch meinen schwarzen Humor zu grinsen, als in mir ein schlechtes Gefühl aufkam und meine Fröhlichkeit im Keim erstickte.

Denn ich fühlte mich beobachtet.

Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf meiner hellen Haut aus und meine Hände begannen zu zittern.

Leise Schritte näherten sich mir.

Und mit einem Mal wusste ich es.

Ich ahnte es.

Ich fühlte es.

Es ließ mein Herz für eine Sekunde stehen bleiben.

Ich wusste es.

》Val...《

Diese Stimme...

Meine bebende Hand schoss erschrocken zu meinem Mund und erstickte meinen verzweifelten Schrei, der meiner plötzlich trockenen Kehle entwich.

Schwer aufatmend biss ich in meine Lippe, bis ich Blut schmeckte, fokussierte special einen Fleck auf meiner violetten Jacke und drehte mich fast schon qualvoll in die Richtung aus der die Stimme meiner ersten großen Liebe gekommen war.

Nur am Rande bekam ich mit wie meine Tasche zu Boden glitt und meine Schwester uns durchs Fenster neugierig beäugte.

Ein verdammtes Jahr war es her als ich ihm zum letzten Mal zu Gesicht bekam.

Keine Nachrichten.

Keine E - mails.

Keinen einzigen Brief wurde an mich adressiert.

Ein verdammtes Jahr lang.

Ein verdammtes Jahr lang.

Ein verd...

Eine große Hand umschloss mein Kinn und zwang mich somit in die Augen meines Gegenübers zu blicken.

War ich dazu bereit?

Nein...

Frustriert seufzte ich auf und blinzelte durch den Tränenschleier, der sich in meine

Augen gebildet hatte.

》Val ...《, flüsterte er erneut mit seiner melodischen Stimme, die mir stets eine Gänsehaut bescherte und die ich so an ihn liebte. Ich stellte mich schlussendlich meinem Schicksal und sah nun mutig in die warmen Augen von Tobias.

Dessen stechenden grünen Augen mir jedes Mal aufs neue den Atem raubten und den Schwarm voller Schmetterlinge in meiner Magengegend aufgeregt flattern ließen.

Sie blickten mir forschend entgegen und inspizierten mein Gesicht so genau, als wäre ich das Letzte Stück Gold auf dieser Welt.

Meine durcheinander geratenen Gefühle übermahnnten mich und mit zitternder Stimme hauchte ich kaum hörbar:

》Keine einzige Nachricht... 《

Doch meine Worte blieben mir im Hals stecken und eine einzige Träne rann mir über meine überhitzte Wange.

Überrascht folgte ich seinem Finger wie er sanft meine Träne auffing und mir bedauernd ins Gesicht sah.

》Ich war ein Idiot. Ein riesen Idiot.《, druckste er herum und sah auf die Seite, so als würde er sich die nächsten Sätze gründlich zurechtlegen.

》Eigentlich hatte ich mir diesen Augenblick einfacher vorgestellt. Doch jetzt vor dir nach so langer Zeit zu stehen und in deine großen Augen zu sehen...

Ich verabscheue mich selbst, dass ich dich dort hab alleine stehen lassen und...《

Sachte legte ich meinem Zeigefinger auf seine vollen Lippen und erwachte aus meiner Starre, die mich bis vor kurzem in ihre Fängen hatte.

》Es ist Weihnachtszeit. Morgen ist auch noch ein Tag.《, flüsterte ich, zog ihn somit in eine feste Umarmung und atmete seinen betörenden Duft ein.

Es war Weihnachtszeit...

~ Ende ~



~ marlinastern

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top