12. Dezember
Platsch.
Mit voller Wucht trifft der triefend nasse Lappen die Wand und spritzt Wasser aus, bevor er auf den hellen Fliesenboden klatscht und dort eine kleine Wasserpfütze hinterlässt. Jos zierliche Finger zittern vor Frust und angestauter Wut, ihr dünner, kleiner Körper bebt unter den angehaltenen Schluchzern. Ihr Atem geht nur stoßweise, es ist als würde ihr etwas die Kehle zuschnüren, während ihr Herz wie die Flügel eines Kolibris flattern. Jo kneift ganz fest die Augen zu und versucht sich zu beruhigen. Es ist zu viel. Alles ist zu viel.
"Jolina?", ruft jemand ihren Namen. Schwere Schritte kommen aus der Küche des Cafes und der weihnachtliche Duft von Vanillekipferl und Muskatnuss erfüllt den Raum. Jo dreht sich ruckartig von der alten Frau weg, deren Augen sie voller Sorge und Mitleid betrachten. Doch Jo will ihren Mitleid nicht, hat sie ihn doch schon viel zu oft von ihr zu spüren bekommen.
"Mir geht's gut", kommt es von ihr, doch ihre brüchige Stimme straft ihrer Aussage Lügen.
"Mein Kind, schau mich an", sagt die alte Dame sanft. Noch immer rast Jos Herz und ihre Lungen stechen bei jedem flachen Atemzug. Sie weiß, wenn sie sich nicht gleich beruhigt, wird die Panikattacke sie jeden Augenblick einholen. Mit zitterndem Körper dreht Jo sich zu der alten Frau um. Ihre runzeligen kleinen Finger umschließen Jos mageres Gesicht mit den hervorstehenden Wangenknochen und zwingen sie der Frau in die eisblauen Augen zu schauen, die im starken Kontrast zu ihrer dunklen Haut stehen.
"Hol tief Luft", befielt ihre Chefin und macht es ihr vor. Wie ein ertrinkendes Tier schnappt Jo nach Luft, hektisch, als würde sie jeden Moment ersticken. Sie wird ersticken. Panik steigt in Jo auf und ihre angenagten Fingernägel krallen sich fest in ihre Oberschenkel.
Noch mehr beruhigende Worte fallen auf sie ein und sie versucht sich auf ihren Gegenüber zu konzentrieren. Najuma Ibori ist eine liebevolle, rundliche, alte Dame mit afrikanischen Wurzeln, die um einiges kleiner als Jo selbst ist. Die Zipfeln ihrer blassgelben Bluse stecken in dem Riemen eines langen, bunten Rockes, der um ihre Füße baumelt, ihre kurzen schwarzen Haare sind in ein gelbes Tuch gewickelt und mit rosa Nelken verziert. Mit diesem ausgefallenen Look zieht die Frau alle Blicke auf sich, doch ihr ist es egal. Jo weiß, dass sie sich glücklich schätzen kann in ihrem Cafe zu kellnern und zu putzen, denn es gibt wohl kaum eine nettere Person.
Langsam beruhigt Jo sich und ihr Herz pocht wieder gleichmäßiger in ihrer Brust.
"Geht es wieder?", fragt Najuma das blasse Mädchen besorgt. Jo nickt und ihr Blick fällt auf die nasse Wand, wo eben noch der Lappen gegengeklatscht war. Verlegen blickt Jo nach unten.
"Tut mir leid, ich mach es wieder trocken", entschuldigt sie sich, doch Najuma schüttelt den Kopf.
"Es ist Heiligabend, ich möchte, dass du nach Hause gehst!" Das Lächeln, das Najumas Lippen umspielt, mildert ihren strengen Ton ab. Jo will protestieren, doch ihre Chefin hebt die Hand und sie verstummt.
"Ich weiß, dass dein Bruder auf dich wartet, wie auch deine Mutter. Geh jetzt, oder ich schleife dich persönlich vor die Tür!"
Jo schaut auf die alte Kuckucksuhr an der Wand. Es ist erst kurz vor um fünf, ihre Schicht endet erst halb sechs. "Bitte Juma, du weißt doch, ich brauche das Geld", jammert Jo und Übelkeit überkommt sie bei den Gedanken an die Krankenhausrechnung und die Stromrechnung, die noch anstehen. Lieber nicht darüber nachdenken, mahnt sie sich.
Najuma betrachtet das erst sechzehn jährige Mädchen vor sich und seufzt. Jolina war früher so hübsch, durchfährt es der alten Frau. Früher haben die marineblauen Augen des Mädchens, die sie ohne Zweifel von ihrem Vater hat, immer stets fröhlich gefunkelt, jetzt aber wirken sie leer, als würde sie keine Emotionen mehr beherrschen. Ihre roten hüftlangen Locken fallen ihr zerzaust und mit viel Spliss über die Schultern und Jolina scheint nicht nur abgenommen zu haben, sondern auch viel blasser zu sein. Dunkle Ringer haben sich unter ihre Augen gebrandmarkt und ihre Stirn ist stets in Falten gelegt, als würde sie ununterbrochen vor sich hin grübeln. Najuma weiß von ihren Geldsorgen und den Problemen daheim. Sie weiß von ihrer Mutter, die im Krankenhaus liegt, von ihrem Vater, der vor einem Jahr an Krebs verstorben ist und von ihrem kleinen Bruder, um den Jolina sich zusätzlich kümmern muss. Das junge Mädchen tut ihr leid, denn Najuma sieht ihr an, dass sie sich zwar stark gibt, jedoch kurz vor dem Zusammenbruch steht. Sie ist zu jung, durchfährt es Najuma. Viel zu jung um sich allein um Mutter und Bruder zu kümmern. Doch Jolina will und will einfach keine Hilfe annehmen. Najuma kann nichts anderes tun, als für das Mädchen da zu sein und ihr wenigstens bei den Geldsorgen zu helfen.
"Du bekommst deine Stunden natürlich trotzdem ausgezahlt. Es ist Weihnachten, Jolina, und Weihnachten ist Familienzeit. Keiner wird heute mehr kommen. Na los, geh nach Hause. Frohe Weihnachten, Kleines", sagt Najuma entschieden und Jo seufzt ergeben. Sie bindet sich die rosa Schürze ab und hängt sie an einen Haken neben ihrer fliederfarbenen, kaputten Winterjacke. Die Jacke ist ihr zu klein, doch sie kann sich keine neue leisten. Jo ist froh, wenn sie wenigstens Essen zu Hause haben. Für Luxus bleibt da kein Geld. Zum Abschied umarmt Jo Najuma, dann öffnet sie die Cafetür.
Der eiskalte Wind heult Jo um die Ohren und fegt ihr die Haare ins Gesicht. Die Kälte übermannt sie und eine Gänsehaut breitet sich auf ihrer Haut aus. Bibbernd verschränkt sie die Arme vor ihrer Brust und begutachtet den Ausblick, der sich ihr bietet. Es wird gleich dunkel, wenn Jo zu Hause ankommen wird, werden schon die Sterne am Himmel funkeln. Jo weiß, dass sie sich beeilen muss, denn die Gegend in der sie wohnt, ist nicht eine der besten Gegenden. Doch trotzdem bleibt sie stehen und tut keinen Schritt nach vorn. Der zur Seite geräumte Schnee reflektiert das Licht der Laternen und lässt den Weg heller wirken. Matsch spritzt auf, als ein Auto schnell an ihr vorbei fährt. Menschen in langen Anoraks und hohen Stiefeln gehen lachend an Jo vorbei, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Seufzend zieht Jo ihre Kapuze tiefer ins Gesicht und tretet den Heimweg an. Sie versucht ihren Blick auf den Bürgersteig gerichtet zu halten, doch trotzdem bleiben ihr die Blicke durch die geschmückten Fenster nicht erspart. Überall sieht man Weihnachtsdecko und durch manche Fenster kann Jo die Weihnachtsbäume sehen. Jos Herz wird ganz schwer bei dem Anblick. Wie gern würde sie auch Weihnachten feiern, Geschenke auspacken und glücklich sein, wenigstens für einen Tag. Ihr Mutter würde den Gänsebraten auf den Tisch stellen und ihre Kinder rügen, wenn sie sich mal wieder ohne die Hände zu waschen an den Tisch setzen. Ihr Vater würde seine Frau mit Witzen und Küssen besänftigen und sie alle würden glücklich sein. Doch Jo weiß, dass es nie mehr so sein wird, jetzt wo ihr Vater tot ist. Sie können es sich nicht leisten und ihre Mutter hat keine Kraft ohne ihren Mann zu feiern. Jo vermisst ihren Vater sehr, ohne ihn ist nichts wie es einmal gewesen ist. Sie vermisst seine lustige und ruhige Art und wie er sie immer in den Arm genommen hat, wenn sie traurig war, oder Streit mit ihrer Mutter hatte.
Jo muss mit den Tränen kämpfen und wird schneller. Bloß weg, denkt sie sich. Ihre Gedanken wandern wieder zu ihre Mutter im Krankenhaus und den Rechnungen, die sie immer mehr in Verzweiflung treiben. Jo weiß nicht wie sie das alles schaffen soll. Noch dazu allein. Ihre Mutter ist so voller Trauer und Schmerz, dass sie nicht arbeiten kann. Und Jo ist es lieb so, denn so kann ihre Mutter keine Möglichkeit mehr finden, sich umzubringen. Am liebsten würde Jo ihre Mutter irgendwo einsperren, wo sie sicher vor sich selbst ist. Doch Jo weiß, dass das Schwachsinn ist. Das Mädchen seufzt kraftlos. Sie ist so erschöpft und müde vom Leben, doch wenn sie aufgibt, wird ihr Bruder zu Grunde gehen. Deswegen macht Jo weiter, Tag für Tag, quält sie sich durch das Leben mit der Hoffnung, dass bald alles vorbei sein wird. Linus ist der einzige, der Jo noch am Leben hält.
Jo biegt in das ärmste Viertel der Stadt ein. Hier ist es dunkel und dreckig. Menschen in Lumpen schlürfen an ihr vorbei ohne sie zu grüßen. Alles hier ist so verbittert... Sie geht auf ein ruinenähnliches Gebäude zu und schließt die Tür mit einem Klacken auf. Der Hausflur stinkt vor Dreck und Rattenkot, hier sollte unbedingt einmal sauber gemacht werden, doch niemand macht es. Jo steigt mit schmerzenden Oberschenkeln die Treppe hinauf in den zweiten Stock und schließt die Haustür auf. Als sie sich umdreht bleibt ihr der Atem weg. Kerzen stehen auf dem Boden und staubige Weihnachtskugeln schmücken den alten Schrank in der Ecke. Als sie langsam in das kleine Wohnzimmer geht, kommt ihr zehn jähriger Bruder ihr entgegen und betrachtet sie mit seinem typischen ernsten Blick.
"Ich wollte wenigstens ein bisschen schmücken. Paps würde sicher nicht wollen, dass wir Weihnachten ausfallen lassen", sagt er leise und streicht sich nervös eine schokobrauen Locke hinter das Ohr. Mit seinen marineblauen Augen, die im Gegensatz zu seiner Schwester noch immer kraftvoll leuchten, schaut er zu Jo auf, die ihn sprachlos ansieht und dann den Blick durch die kleine Wohnung schleifen lässt. Linus sieht ihr an, dass sie geweint hat. Würde sie nun auch weinen?
"Ach, Lin", schluchzt Jo und nimmt ihr Ein und Alles fest in die Arme. "Das ist so schön", flüstert sie ihm ins Ohr. Ihr Herz schmerzt so sehr, als Linus zu weinen anfängt.
"Ich vermisse Paps und Mama", schluchzt er leise an ihrer Schulter.
"Ich auch, Lin, ich auch", flüstert sie und streicht ihrem Bruder tröstend über den Rücken. Sie hält ihn eine armeslänge von sich weg und schaut ihn aufmunternd in die geröteten Augen.
"Wir gehen jetzt zu Mama, okay? Wir können über den Weihnachtsmarkt gehen, den du so magst." Linus nickt eifrig und die Tränen sind vergessen. Jo schubst ihren Bruder liebevoll in sein winziges Zimmer, damit er sich anzieht und geht zurück in den Flur. Erschöpft lehnt sie sich gegen die Wand und schließt die Augen. Sie darf nicht weinen. Nicht vor ihrem Bruder. Sie muss ihm eine Stütze sein, sonst klappt er zusammen. Sie beißt sich fest auf die ohnehin schon kaputte Unterlippe und nimmt all ihre Kraft zusammen um ein Lächeln hervor zu bringen. Es ist kein echtes, doch es ist das mindeste, das sie für Linus an Weihnachten tun kann. Als Jo gerade ihre Augen öffnet steht ihr Bruder mit zerschlissender Jeans und ausgefranster Winterjacke vor ihr und zieht sich die alten Stiefel an.
Hand in Hand machen sie sich auf den Weg ins Krankenhaus.
Wie versprochen nimmt Jo ihm mit zum Weihnachtsmarkt, der sogar an Heiligabend geöffnet hat. Weihnachtsmusik und Glöckchen dröhnen aus den Lautsprechern und Linus schaut sich freudig um. Jo hat ihn schon lange nicht mehr so strahlen sehen, sein Lächeln erwärmt ihr gebrochenes Herz. Es duftet lieblich nach karamellisierten Früchten, gebratenen Mandeln und leckeren Glühwein und Kinderpunsch. An einem Stand riecht es nach Quarkbällchen und Wasser läuft in den Mündern der beiden Kinder zusammen. Ihre Bäuche knurren vor Hunger, denn sie haben nicht viel gegessen heute. Doch Linus fragt seine Schwester nicht, ob sie ihm welche kaufen könnte, er weiß, dass ihnen das Geld zu knapp ist. An einem offenem Tiergehege mit Schäfchen und Ziegen bleibt Linus stehen und betrachtet die Tiere fasziniert. Er merkt nicht wie seine Schwester sich von ihm entfernt.
Jo betrachtet ihren Bruder mit einem kleinen Schmunzeln. Er hat Tiere schon immer sehr gemocht. Sie versichert sich, dass ihr Bruder beschäftigt blieb und kramte das bisschen Geld aus den Taschen ihrer Jacke heraus. Najuma hat es ihr als Weihnachtsgeschenk gegeben, damit sie sich was schönes kaufen kann. Doch Jo erinnerte sich an Linus sehnsüchtigen Blick als sie an dem Quarkbällchenstand vorbei gegangen sind. Die Frau gibt ihr ein knisterndes Papptütchen mit den kleinen Bällchen und Jo gibt ihr wortlos das Geld. Als sie wieder beim Gehege ankommt, steht Linus noch immer am Zaun und streichelt nun eine gescheckte Ziege. Als er sich zu ihr umdreht und er die Tüte in ihrer Hand sieht, werden seine Augen kugelrund.
"Was ist das?", wispert der kleine Junge mit klopfendem Herzen. Jo lächelt leicht.
"Frohe Weihnachten", sagt sie und drückt ihm die Tüte in die kleinen Händchen. Vor Freude bricht Linus in Tränen aus uns umarmt seine Schwester. Jo macht es glücklich, ihn mit einer solchen Kleinigkeit zu beglücken. Er bedankt sich leise und lässt sich im Gehen das noch heiße Gebäck auf der Zunge zergehen, während ihm das Puderzucker an den Mundwinkeln kleben bleibt.
Es dauert nicht lange bis Jo und Linus das Krankenhaus betreten, das groß und unheilvoll im strahlenden Weiß vor ihnen steht. Jo mag das Krankenhaus nicht. Es erinnert sie an ihren Vater. Er musste hier sterben und sie hat Angst, dass ihre Mutter es auch tut. Am liebsten würde Jo ganz schnell Reißaus nehmen, doch für ihren Bruder, der sich schon den ganzen Tag auf seine Mutter gefreut hat, blieb sie dort, wo sie war. Die Dame am Empfangstresen entdeckt die beiden noch bevor sie sie sehen. Die alte Frau hat sich schon gedacht, dass die beiden kommen würden. Ein trauriges Lächeln umspielt ihre Lippen beim Anblick der jungen Frau, die ihren Bruder fest an der Hand hält und wie ein gehetztes Tier den Blick durch den Raum schweifen lässt. Wie schrecklich muss es für sie sein, erst ihren Vater zu verlieren und dann zusehen zu müssen, wie die Mutter nur knapp dem Selbstmord entkommt. Und dann auch noch kurz vor Weihnachten... Sie lächelt den beiden zu, doch sie nehmen keine Notiz von ihr und gehen zielstrebig zum Fahrstuhl.
Jo holt tief Luft ehe sie den Knopf des Aufzuges drückt. Sie fürchtet sich davor ihre Mutter zu sehen. Würde sie so drauf sein, wie die letzten Male? Plötzlich bereut Jo es ihren Bruder mitgenommen zu haben. Er soll seine Mutter nicht sehen, nicht so. Doch nun ist es zu spät und die Türen des Aufzuges öffnen sich und laden sie aus in den dritten Stock. Jo zieht ihren plötzlich so schweigsamen Bruder zur Glastür der Krankenstation. Und dann stehen sie vor der Tür. Ihrer Tür. Jo schaut auf ihren Bruder herunter, der mit großen Augen auf die Tür starrt. Er ist den Tränen nahe, das sieht sie ihm an. Plötzlich hat sie ein schlechtes Gewissen, dass sie Linus so lang nicht zu der Mutter gelassen hat, auch wenn es nur zu seinem Schutz gewesen ist. Jo drückt leicht seine Hand, dann öffnet sie ohne zu klopfen die Krankenzimmertür. Der Geruch von Desinfektionsmittel empfängt sie, gemischt mit einem vertrauten Geruch. Ihre Mutter riecht immer nach Ingwer und Zitrone und Jo liebt den Geruch. Wenn sie ihn riechen kann, fühlt sie sich zu Hause.
Jo betrachtet ihre Mutter einen Augenblick lang und ist überrascht von dem Lächeln, dass auf dem Lippen ihrer Mutter liegt. Sie spürt, wie sich die warme kleine Hand aus ihrer löst und sieht ihrem Bruder ausdruckslos dabei zu, wie er zu seiner Mutter stürmt und sie weinend und lachend in die Arme schließt. Linus Herz klopft wild gegen seine Rippen, als er seine Mutter umarmt. Tränen kommen ihn aus den Augen und strömen ihm seine Wangen hinunter. Seine Wiedersehensfreude ist so groß, dass er gar nicht mitbekommt, wie er zu schluchzen anfängt.
"Nein, nein, nicht weinen", haucht ihm seine Mutter lachend und ebenfalls mit Tränen in den Augen ins Ohr. Wie sehr hat sie ihren Sohn doch vermisst. Sie hasst sich dafür, dass sie ihn verlassen wollte. Ihre Tochter steht noch immer an der Tür und beobachtet das Geschehen nur.
"Schatz, trockne dir deine Tränen im Bad, dann komm zu mir ins Bett, ja?", flüstert die Mutter ihrem Sohn zu. Dieser nickt schniefend und tapst in das anliegende Badezimmer.
Seufzend wendet sie sich nun an ihre Tochter. Sie erschrickt, als sie die Erschöpfung und die Angst in Jos Gesicht sieht. Was habe ich nur getan?, schießt es ihr durch den Kopf.
"Es tut mir so leid, Linchen", sagt sie reuevoll. Jo zuckt bei dem Kosenamen zusammen. Nur ihr Vater hat sie früher so genannt und es tut weh, ihn nun aus dem Mund ihrer Mutter zu hören.
"Was tut dir leid?", faucht Jo grob und ist selbst überrascht von ihrem Ton. Jo hat einfach keine Kraft mehr.
"Es ist meine Schuld, dass unser Leben jetzt so läuft, wie es läuft", weinte ihre Mutter. "Ich habe dich im Stich gelassen, obwohl ich doch eure Mutter bin. Es tut mir so unendlich leid."
Jos Blick ist gebrochen. "Ich kann das nicht mehr, Mama", flüstert sie und lässt den Tränen endlich freien Lauf. Es ist, als würde alles, was sie all die Monate verdrängt hat, wieder hochkommen und sie nun überwältigen. Alles in ihr zieht sich zusammen und schnürt ihr die Luft ab. Es tut weh, so unendlich weh.
"Ich kann nicht mehr."
Das Herz der Mutter rutscht ihr bei den Worten ihrer Tochter in die Hose. Erst jetzt sieht sie, was sie ihrer Tochter angetan hat. Angst erfüllt sie, Angst ihre Tochter zu verlieren.
Weinend breitet sie ihre Arme aus und Jo kommt endlich näher. Als Jo das erste Mal seit langem wieder in den Armen ihrer Mutter liegt, bricht sie endgültig zusammen.
"Das wird wieder, Mäuschen, ich verspreche es. Ich lasse euch nie weider allein. Ich hab mit der Ärztin gesprochen, nächste Woche habe ich meinen ersten Termin beim Psychologen", plappert sie aufgeregt. "Ich möchte wieder arbeiten gehen, du bist noch ein Kind und solltest dich auf die Schule konzentrieren. Ich mach das alles wieder gut!" Die Mutter ist ganz außer Atem, als sie ihren Vortrag beendet.
"Versprichst du es?", fragt Jo leise und ihre Mutter nickt. Jo weiß nicht, ob sie ihrer Mutter verzeihen kann, gerade ist sie einfach nur froh endlich wieder etwas Leben in den Augen ihrer Mutter zu sehen.
Linus kommt aus dem Badezimmer und sieht die beiden Frauen im Krankenbett liegen. Seine große Schwester lächelt ihn an und ihm bleibt beinahe das Herz stehen. Es ist ein richtiges Lächeln. Eins, dass ihre Augen erreicht und sie strahlen lässt. Sie sieht glücklich aus. Seine Mutter lacht ihm zu und rückt ein Stück, damit auch er in ihr Bett kriechen kann.
"Wird jetzt alles wieder gut?", fragt er und vergräbt seinen Kopf an der Schulter seiner Mutter. Der vertraute Geruch von Ingwer und Zitrone steigt ihm in die Nase und er kuschelt sich noch enger an sie. Er hat sie so vermisst.
"Jetzt wird alles wieder gut", bestätigt seine Mutter lächelnd. Sie zieht ihre beiden Kinder an sich und küsst sie auf die Köpfe. Jos Herz wird erfüllt von Wärme und Glück. Zum ersten mal in dieser schweren Zeit sieht sie ein Licht in der hoffnungslosen Dunkelheit. Ein kleines zwar, aber ein Licht. Vielleicht würde nun wirklich endlich alles gut werden.
Sie schaut aus dem Fenster in den Sternenhimmel und lächelt traurig. Ist ihr Vater irgendwo dort oben? Sieht er sie vielleicht gerade an und schenkt ihr einen seiner stolzen Blicke, weil sie es geschafft hat, diese schwere Zeit zu überstehen? Der Gedanke erfüllt sie mit Hoffnung, aber auch mit Trauer. Sie will ihren Vater zurück, sie vermisst ihn so sehr, dass es schmerzt.
"Frohe Weihnachten, meine Süßen, ich hab euch so unendlich doll lieb", murmelt ihre Mutter. "Wir schaffen es zusammen. Papa wird stolz auf uns sein!"
Jo lächelt selig. Diese Aussicht gefällt ihr gut. Vielleicht ist Weihnachten doch nicht so schlimm ohne ihren Vater, wie sie gedacht hat, auch wenn er ihr fehlt. Ihnen alle fehlt.
"Frohe Weihnachten, Mama", wispert Jo leise und kuschelt sich an ihre Mutter. Ihre Lider werden schwer, sie ist so unendlich müde.
"Frohe Weihnachten, Paps", sagt sie noch ganz leise, dann schläft sie ein.
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