1. Dezember
Seit meinem vierten Lebensjahr war ich verdammt dazu gewesen, jeden Tag nur Kekse, Kuchen und Schokolade zu essen. Mein Vater hatte es tatsächlich nie geschafft, zu begreifen, dass ein Vorschulkind neben einem guten Kindergarten und viel Aufmerksamkeit auch gesundes Grünzeug zum Essen brauchte. "Jule, du sollst doch nicht immer die süßen Sachen aus der Küche stibitzen! Deine Mutter sollte sich wirklich mal besser um dich kümmern", war der allmorgendliche Kommentar meiner Betreuerin im Kindergarten gewesen, als sie sich meine Essens-Box ansah. Dabei schüttelte sie missbilligend den Kopf und deutete meine Tränen, die mir immer dann kamen wenn sie meine Mutter erwähnte, als Zeichen dafür, dass ich Angst davor hatte, sie würde meine Schokolade beschlagnahmen. Was sie natürlich jeden Tag aufs neue tat.
Dass sich Herr Schreiner nicht die Mühe gemacht hatte, der Betreuerin Frau Keller zu erklären, dass meine Mutter sich als Verräterin herausgestellt und die Familie verlassen hatte, fand ich einfach absurd. Aber es hatte ihn ja auch nicht gekümmert als seine einzige Tochter von Tag zu Tag nur noch dicker wurde.
In der Schule eine Aussenseiterin zu sein war überhaupt nicht einfach. Ich musste viele Beschimpfungen über mich her ergehen lassen und nicht selten fand ich einen bösen Brief in meiner alten Schultasche, der meistens von Lina geschrieben wurde.
Ich wusste nicht, was ich heute und in den kommenden Tagen tun sollte. Weihnachten stand vor der Tür und somit auch ein Tisch voller Schokolade und Spitzbuben. Eine weitere Möglichkeit noch dicker zu werden.
Seufzend erhob ich mich von meinem Bett, lief bis ans Fenster und zündete eine kleine Kerze an, die ich schon seit drei Jahren hatte. Ich zündete nie Kerzen im Advent an, dafür war ich eindeutig zu alt. Mein Blick fiel nach draußen, auf den glitzernden Schnee, in eine Welt, der ich so nah und Zeitgleich auch so fern war. Sehnsüchtig sah ich einem kleinen Jungen zu, wie er Hand in Hand mit Mama und Papa die weißen Straßen entlang hüpfte, in der Hand ein blaues Auto. Er lachte, seine Wangen waren schon knallrot verfärbt von der Kälte, die Berlin wie eine Schicht Nebel umhüllt hatte.
Ich malte einen Smiley in das beschlagene Fenster und kritzelte dicke Strichmännchen hin, die mit einem Geschenk in der Hand auf einem Weg liefen, der ins Nirgendwo zu führen schien. "Julailai! Ich bin da!", rief eine fröhliche Stimme hinter mir und riss mich nicht nur aus meinen Gedanken, sondern auch vom Fenstersims. "Oh, Entschuldigung Julailai", murmelte das Mädchen vor mir und warf mir einen schüchternen Blick zu. Ich kratzte mich am Kopf. Wer zum Teufel hatte Lili aus dem Kindergarten abgeholt und zu mir ins Zimmer gebracht?
"Sag mal, Lili", begann ich und sah sie besorgt an. "Solltest du nicht eigentlich im Kindergarten sein?"
Lili gluckste vergnügt, dann hüpfte sie aus meinem Zimmer. Einfach so. "Hey, Lili!", rief ich ihr nach. "Jule, kannst du nicht mit mir in den Kindergarten kommen?", fragte Lili und steckte ihren lockigen Kopf in mein Zimmer. "Was? Lili, ich kann nicht! Ich muss noch mein Zimmer aufräumen und... Geschenke kaufen gehen.", fügte ich rasch hinzu und warf dem Vorschulkind einen gespielt traurigen Blick zu. "Nein, du kommst mit", meinte Lili bestimmt und schritt ohne zu zögern auf meinen riesigen Kleiderschrank zu. "So. Eine Jacke", sagte sie eifrig und verschwand fast gänzlich im Schrank. Erschrocken machte ich zwei lange Schritte in ihre Richtung und zerrte sie zurück auf den platt getretenen Teppich. "Ich mach das selber", brummelte ich leise. Lili klatschte in die Hände. "Super", sagte sie und stand auf, ihr Gesicht zierte ein strahlendes Lächeln. "Ich warte unten auf dich", rief sie mir von der Tür aus zu und sprang die Treppen nach unten in den Flur. Ich schüttelte grinsend den Kopf währenddessen ich mich im Spiegel ansah. Ein zerstörtes Gesicht, geziert von Augenringen und blauen Flecken lachte mir entgegen. Auf dem Kopf hatte ich etwas, das einem Vogelnest verdammt ähnlich war.
Und trotzdem mochten mich die Menschen.
Mit dem Schal über meinem Mund lief ich schließlich aus dem Haus, neben mir Lili und vor uns eine ganze, riesige Welt. "Bereit?", fragte ich und Lili antwortete mir mit einem breiten Lächeln. "Und zwar so was von bereit!" Ich fühlte mich wie eine Wissenschaftlerin, die etwas sehr wichtiges herausgefunden hatte. Vielleicht war es, weil die Landschaft um mich herum mir ein glitzerndes Lächeln zuwarf, vielleicht auch wegen Lili, die wie eine kleine Heldin in jedem ihrer Schritte Mut zu verbergen schien.
"Wir sind da", sagte Lili grinsend und deutete auf ein Haus, in dessen Garten einige Kinder einen Schneemann bauten. "Frau Naomi hat gesagt, dass wir jemanden mitbringen dürfen, da es ja der erste Advent ist. Und weil ich dich so sehr mag, wollte ich dich mitbringen."
Sie sprach es so aus, als wäre es das einfachste auf dieser ganzen Welt. "Eigentlich sollten wir gleich die erste Kerze anzünden", sprach sie unbeirrt weiter und sah besorgt den anderen Kindern zu, die den Schneemann vergessen hatten und sich nun im Schnee wälzten. "Bestimmt wartet Frau Naomi auf dich", meinte ich zwinkernd. Lili sah erschrocken aus. "Dann müssen wir uns jetzt beeilen, ich will nicht dass die anderen wegen mir warten müssen."
Auch wenn ich keinen Gefallen daran hatte, musste ich die wenigen Meter bis zur Haustür rennen, um mit Lili mithalten zu können. Keuchend setzte ich mich auf die Treppen. "Bist du Jule?", fragte mich eine ältere Frau und streckte mir ihre Hand entgegen ohne auf eine Antwort zu fragen. Ich ergriff ihre Hand und ließ mir von ihr aufhelfen.
Und ohne zu wissen, dass der erste Advent ein wunderschöner Tag werden würde, betrat ich das warme Haus.
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