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Lieber Chióni,
ich weiß, dieser Brief kommt jetzt vielleicht etwas überraschend. Wir haben uns jetzt schon seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, auch wenn mir das wie viel länger vorkommt. Aber . . . Na ja, ich vermisse dich. Nicht gerade das, was ein Dämonenjäger über einen Dämon sagen sollte, aber trotzdem . . .
Ich hätte Weihnachten wirklich gerne mit dir gefeiert. Die Jahre, wo wir zusammen waren, ist das ja irgendwie untergegangen, aber jetzt habe ich viel zu viel freie Zeit und frage mich die ganze Zeit, ob es dir wohl gut geht. Und da dachte ich mir, ich könnte dir ja mal einen Brief schreiben.
Ich hoffe sehr, dass der dich überhaupt jemals erreicht. Na ja, wahrscheinlich liest du das gerade, und fragst dich, wieso der Brief denn nicht ankommen sollte, aber bei uns wurde vor kurzem eine neue Regel aufgestellt. Kein Dämonenjäger darf jetzt noch einen Brief schicken, der davor nicht von den zwei Jagdleitern überprüft wurde.
Mavín, unsere Anführerin, behauptet, diese Regel ist notwendig, um uns vor Verrat zu schützen, aber das bezweifle ich. Ein Brief an einen Freund ist schließlich kein Verrat, oder? Wahrscheinlich hat sie diese Regel nur aufgestellt, um alle besser unter Kontrolle zu haben. Generell habe ich das Gefühl, dass sie allen anderen leitenden Persönlichkeiten in unserem Lager immer mehr die Möglichkeit entzieht, mitzubestimmen. Am Ende krönt sie sich noch zur Königin . . .
Es tut schon irgendwie gut, dass alles mal aufzuschreiben, auch wenn du das vielleicht nie lesen wirst. Wenn doch, dann tut es mir leid, dass ich dich so mit wahrscheinlich unnötigen Sorgen vollheule. Aber, im Lager gibt es niemanden, dem ich das anvertrauen kann, die meisten sind Mavín viel zu treu ergeben, und alle anderen sind entweder selbst nicht sehr vertrauenswürdig oder meiden mich bewusst.
Warum? Na ja, seit ich mit dir und den anderen die Welt gerettet habe, vertrauen mir die meisten Dämonenjäger nicht mehr. Manche haben es sich anscheinend zum großen Lebensziel gemacht, mich aus dem Lager zu verbannen oder gleich umzubringen. Wahrscheinlich, weil sie ja wissen, dass ich mit einigen Dämonen zusammengearbeitet habe. Da hat unsere Lüge, dass ich dich und die anderen umgebracht habe, wohl kaum was gebracht.
Wenn ich so weiter darüber nachdenke, wird Mavín mich wahrscheinlich wegen Verrat hinrichten, wenn sie diesen Brief abfängt. Vielleicht hätte ich so schreiben sollen, dass man nicht merkt, dass du ein Dämon bist . . . Aber eigentlich ist das egal. Mein Tod wäre wahrscheinlich kein großer Verlust für die Welt, denke ich.
Viel wichtiger ist, dass ich bewusst nicht erwähnt habe, wo du wohnst. Lawine kennt den Weg ja. Ach ja, sie ist in letzter Zeit etwas wählerisch, was ihr Fressen angeht. Nur als Vorwarnung, falls der Brief tatsächlich ankommt, und du diesen Diva-Hasen an der Backe hast. Am besten gibst du ihr einfach eine Frostkarotte, die wird sie hoffentlich noch ohne großes Drama essen. Eine Eingefrorene hat sie nämlich konstant verweigert.
Aber das ist eigentlich auch nicht so wichtig, bevor mir der Platz ausgeht, muss ich dir nur unbedingt noch sagen, dass du auf keinen Fall deinen Wohnort erwähnen darfst. Sonst würde Mavín nämlich wissen, wo du wohnst, wenn sie diesen Brief abfängt, und das will ich nicht. Sonst wäre es ja meine Schuld, wenn dir und deiner Familie etwas passiert.
Das wars dann auch schon. Ich hoffe wirklich, dass wir uns irgendwann wiedersehen, zu friedlicheren Umständen als letztes Mal.
Mit freundlichen Grüßen,
Lixue
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