Kapitel 94
Kapitel 94
~ Mays Sicht ~
„Hat es schon angefangen!", rief Mina, die mit einer Tüte Chips ins Wohnzimmer gestürmt kam. Marco und ich saßen schon vor dem Fernseher und warteten nur darauf, bis die Übertragung der Vorstellung meines Sohnes von Real Madrid lief.
Mina schmiss sich neben mich auf die Couch und blickte genau wie ich, auf eine Sitzreihe mit leeren Stühlen. „Es hat noch nicht angefangen. Ich werde meinen Bruder im Fernsehen sehen. Hat die Fernbedienung die Option Standbild?", fragte sie aufgeregt und blickte zu ihrem Vater.
„Keine Ahnung. Zu viele Knöpfe und zu kompliziert für mich", antwortete Marco und schob sich mehrere Salzstangen in den Mund.
„Mom?", fragte Mina mich und hielt mir die Fernbedienung hin.
„Denk nicht mal dran, deinen Bruder dann abzufotografieren und ein Hitler-Bärtchen anzumalen."
„Ach, darf ich nicht mal Spaß machen?", fragte sie mich.
„Doch, aber nicht so. Mal ihn meinetwegen Häschenzähnchen, oder so", sagte ich und gab ihr die Fernbedienung wieder.
„Dazu müsste ich wissen, welcher Knopf für Standbild ist", sagte sie. „Ich drück einfach alle Knöpfe."
„Nein!", sagten Marco und ich gleichzeitig.
„Was denn?", fragte Mina. Marco zog ihr die Fernbedienung aus der Hand und behielt diese bei sich.
„Das eine Mal, als du alle Knöpfe auf der Fernbedienung gedrückt hast, stand der Toaster im Flammen. Also, nein."
„Wie ist das zum Henker passiert?", fragte Mina sich.
„Das fragen Mama und ich uns immer noch", sagte Marco und blickte neben sich, wo Aleyna auf der Couch lag. Sie zappelte fröhlich mit den Beinen und den Armen herum und brabbelte drauf los.
„Wer will den ausgerechnet jetzt von der vollen Windel erzählen?", fragte Marco und rümpfte die Nase. Aleyna quietschte auf und Marco blickte zu dir. „Dein Dienst wird verlangt."
„Doch nicht jetzt", meinte ich. „Die Vorstellung geht doch gerade los." Ich zeigte auf den Fernseher, wo die Vorstandbosse, Cristiano Ronaldo und mein Sohn vor die Presse traten. Ich hätte damit gerechnet, das Kane vor die Füße von Ronaldo kotzen würde, aber er verzog keine Miene. Während mein Mann und meine Tochter weiter vor dem Fernseher hingen, hatte ich mir Aleyna geschnappt, um ihre Windel zu wechseln.
„Du kleine Brabbeltante, jetzt verpasse ich wegen dir die Hälfte."
„Brrrrrhaaaaagaaaaa", sie haute ihre Hände aneinander und sabberte herum, während sie irgendwelche Laute von sich gab.
„Du wirst sicherlich einmal Anwältin, oder?"
„Blaaaaaa."
„Hab ich was verpasst?" Ich setzte mich mit Aleyna auf dem Arm wieder auf die Couch und blickte zum Fernseher. Der Vorstand war gerade am Reden und Kane saß nur da und spielte mit dem Mikrofonständer herum.
„Er ist gelangweilt."
„Würde ich auch sein, wenn ich die Sprache da nicht verstehen würde. Wer is'n der Typ neben unserem Sohn?"
„Ronaldo?!"
„Nee, der andere Lulatsch da."
„Das ist ein Übersetzer, der übersetzt für Kane."
„Aaaah. Ok. Hätten die wenigstens nicht Untertitel auf Englisch setzen können?"
„Glaubst du doch wohl selber nicht."
„Laura Wontorra, Sport Bild, ich hab da eine Frage an Kane", hörte ich eine Frauenstimme aus dem Fernseher.
„Ha, eine Deutsche."
„Hau raus", sagte Kane.
Die Tochter von Jörg Wontorra (hat damals den Doppelpass auf Sport1 moderiert und schmort bereits unter der Erde – möge er in Frieden ruhen) lachte leise. Als der Übersetzer übersetzt hat, lachten auch die anderen Reporter. „Ihr Vater ist ja Marco Reus."
„Ja, so habe ich es Erinnerung", nickte Kane.
Wieder laberte der Übersetzer und selbst der Vorstand, samt Cristiano musste lachen.
„Wie hat er darauf reagiert, dass Sie nach Real Madrid gehen, anstatt ihre Karriere weiter beim BVB aufzubauen?"
„Ich wäre gerne zum BVB gegangen, aber da gibt es ja diese eine Regelung, die es in Spanien nicht gibt- sieht man ja bei Cristiano und seinen Ältesten. Auf jeden Fall, war er nicht gerade begeistert, welcher Vater ist das schon, wenn der Sohn am Arsch der Welt ist. Aber er hat sich damit abgefunden, war vor ein paar Tagen hier und hat mir beim Einleben geholfen. Es gibt ja noch Skype und den Müll, mit dem ich mit meiner Familie in Kontakt bleiben kann."
„Danke schön", sagte Laura.
„Irgendwelche Fragen?", wurde in die Runde gefragt.
„Boah, wer ist denn das jetzt?", fragte ich und stand auf, nachdem es an der Tür geklingelt hatte.
„Geh einfach. Wir sagen dir, was hier passiert."
„Pass mal auf deine Schwester auf", sagte ich zu Mina und drückte ihr ihre Schwester in die Arme, ehe ich aufstand und zur Haustür flitzte. „Bist du bekloppt hier aufzutauchen?", flüsterte ich Robin an und trat vor die Türe. Er hielt mir ein Paket hin und blickte mich entschuldigend an. „Ich wollte ihn dir nur selber überbringen."
„Ist er das?", fragte ich und nahm zögerlich das gelbe Paket entgegen.
Robin nickte. „Ich hab da noch eine Bitte. Bitte sag ja, ich verpiesel mich heute mit den Leuten wieder nach London, damit hast du auch deine Ruhe."
„Okay und die Bitte?", fragte ich ihn.
„Ihr wollt ihr in Schottland ‚wegwehen' lassen?"
„Ja, mehr oder weniger. Seine Großeltern haben eine Farm in der Nähe von Glasgow, besser gesagt Inchinnan, direkt neben der Farm meiner Großeltern. Da ist ein See, wo wir als Kinder immer geschwommen sind."
„Wo?"
„Inchinnan, ich denke deine Freunde wissen da Bescheid, wo das sein könnte und wenn nicht, dann gibt es noch Internet."
„Da ist ein Zettel im Paket. Da steht meine Nummer drauf. Kannst mir ja bescheid geben, wenn es soweit ist."
„Okay, danke", nickte ich.
„Ich würde das alles auch Rückgängig machen wollen."
„Aber das geht ja nicht", sagte ich. „Übrigens danke, dass du mir damals mein Leben gerettet hast. Aber gleichzeitig könnte ich dich auch umbringen, für das was du geleistet hast. Du hast hier schließlich immer noch uns."
„Wir haben darüber schon geredet. Ich wollte euch nicht damit reinziehen, May."
„Ist doch schon in Ordnung. Es wäre besser, wenn du jetzt gehen würdest. Wir gucken gerade die Vorstellung von Kane bei Real Madrid."
„Okay, ich kann ja zwischendurch mal in Madrid sein und dann ein bisschen auf Kane achten?"
„Nein, du bleib mal im Londoner Untergrund und lässt den mal machen."
„Wenn was ist, wenn ihr irgendwie Probleme habt, dann lass es mich wissen, okay?"
„Ausnahmsweise", nickte ich. Robin drehte sich um, um zu gehen. „Warte", sagte ich.
„Hm?"
„Denkst du, du kannst einfach so gehen, ohne von mir eine Umarmung zu bekommen?", fragte ich.
„Das ist aber kein Hinterhalt, oder?", stellte er unsicher die Gegenfrage.
„Robin", sagte ich nur. Er kam zu mir und umarmte mich fest. „Ich weiß, es kann nicht wie früher werden. Aber fangen wir von vorne an- irgendwie und irgendwann."
„Irgendwann sicherlich", sagte ich.
Er drückte mich noch einmal und drehte sich wieder um. Mit dem gelben Paket in meiner Hand, betrat ich das Haus. Ich machte die Tür zu und brachte das Paket schnell nach oben. Getraut das Paket zu öffnen, hatte ich mich jetzt nicht. Das wollte ich gemeinsam mit Marco machen. Seufzend ging ich wieder nach unten und setzte mich auf die Couch.
„Und wer war das?", fragte mein Mann mich.
„Nur der DHL-Bote", log ich und blickte zum Fernseher. „Was hab ich verpasst?"
„Nicht viel. Ronaldo redet davon, dass die Saison einige Titel geholt werden sollen und er sich freut auf eine neue Mannschaft, voller Frischlinge."
„Ah, okay, wie langweilig", murmelte ich und lehnte mich zurück. Ich konnte mich gar nicht richtig auf die Pressekonferenz konzentrieren, sondern dachte nur daran, dass ich irgendwann meinen verbrannten besten Freund irgendwo in Schottland in die Pampa kippen darf. Wie sich das anhört. So unreal und behindert und ich wünschte, es wär nicht so. Ich wünschte, es wäre alles anders gelaufen. Das Marcel noch hier wäre, jetzt bei uns sitzen würde. Was mit Alysha wäre, wäre mir egal. Hauptsache ich hätte meinen besten Freund wieder. Alles schön und gut mit Robin. Aber er kann Marcel nicht ersetzen- konnte er noch nie. Und das wird er auch nie. Den für die anderen ist er tot. Und für die anderen ist Marcel auf Weltreise. Auf der einen Seite bin ich froh, dieses Jahr noch nach Schottland zu fahren. Ich würde meine Großeltern wiedersehen, die Mutter von Marcel. Aber wie zur Hölle soll ich das aushalten. Ich kann Marcels Mutter doch nicht anlügen. Das geht nicht. Immer diese Lügen. Aber ich muss es tun. Ich muss weiter lügen. Da bleibt mir nichts anderes übrig, auch wenn es mich zerreißt. Auch wenn ich danach die Mörderin von Curtys Mutter bin- genau das will ich nicht. Nein. Ich muss weiter lügen. Wir müssen weiter lügen.
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