Kapitel 79
~ May's Sicht ~
Ich hielt vor dem Wohnhaus, in dem Marcel seine Zweitwohnung hatte und seufzte. Ich hatte dermaßen so ein schlechtes Gefühl, dass ich da nicht alleine reingehen wollte. Also rief ich noch mal Marcel an. Aber wieder nur die Mailbox.
"Ich bin's mal wieder, diejenige die mal von dir angeschossen wurde. Uhm, ich stehe gerade vor deiner Zweitwohnung und, boah, du kannst mich damit noch weiter ärgern, wenn das hier vorbei ist und mir das immer wieder unter die Nase reiben, aber ich traue mich nicht alleine in die Wohnung und irgendwie auch nicht 'du weißt schon wen' wegzubringen. Ich weiß auch nicht wieso du nicht abnimmst. Du nimmst ja immer ab, wenn ich anrufe, ob du am kacken bist, oder ob mit dir gerade Sackhüpfen praktiziert wird. Naja, uhm, bitte ruf mich an. Ich warte fünf Minuten und wenn du bis dahin nicht zurückgerufen hast, dann muss ich ja wohl alleine hochgehen und die wegbringen. Ich muss mich beeilen und bitte ruf schnell zurück. Du hast mich nie hängen lassen und ich denke mal, dass du es niemals tun wirst. Also ruf zurück oder tauch hier einfach nur auf. Bitte und danke."
Ich legte wieder auf und schmiss mein Handy in die Handtasche, ehe ich ausstieg und den Zweitschlüssel aus der Handtasche kramte. Das Gefühl in meinem Bauch wurde immer merkwürdiger und ich hätte im Fahrstuhl fast auf den Boden gekotzt, aber ich hielt mich zurück.
Ein bisschen verwundert war ich schon, als ich die Tür aufschloss und den Schlüssel nur ein Mal drehen musste, anstatt zwei mal. Ich schloss immer zwei Mal ab. Vielleicht war Marcel auch einfach nur hier und hatte mal wieder vergessen sein Handy aufzuladen. Ach man. Aber woher soll bitte dieses blöde Gefühl herkommen, dass etwas passiert oder etwas passiert ist?
Ich fuhr zusammen, als hinter mir eine Person an mir vorbei ging, um die Treppen weiter nach oben zu gehen. Ich blickte der Person hinterher, sah jedoch nur, dass sie männlich, groß und einen riesigen Kapuzenpullover trug, deren Kapuze über seinen Kopf gezogen war. Ich sah die Person nur von hinten und war über seine hässliche Gangart verblüfft. Entweder war er besoffen, behindert oder einfach diese Gangart durch eine Verletzung. Marcel lebte eindeutig in einem Haus mit sehr komischen Menschen. Ich schüttelte nur meinen Kopf und schaute die Tür vor mir an. Na dann, schau ich mal nach dem Rechten.
Und da ich eben, dieses ungute Gefühl hatte, hielt ich erstmal schön meine Fresse, als ich die Wohnung betrat. Hier herrschte eine widerliche Ruhe. Keine Radiomusik, oder das Gelaber von Vera Int Veen oder wie die heißt aus dem Fernseher. Wieso auch immer schaute sich Marcel immer wieder diese Sendungen an. Er meinte mal, dass er die Sendungen nicht deswegen schaute, um sich über die Leute dort lustig zu machen. Nein, er schaute das, weil gerade diese übelst normalen Menschen (mehr oder weniger normal), eben genauso Menschen waren wie wir und eben das gleiche durchmachten, auch wenn sie auf der Skala der Schönheit nicht gerade die Sprengung verursachten.
Ich hielt in meinem Wirrwarr aus Gedanken inne. Die Knarre in meinem Hosenbund drückte sich immer fester in meinem Bauch und machte sich so stark bemerkbar, dass ich sie letztlich hervorzog und entsicherte.
Ich blieb im Flur stehen und blickte im Wohnzimmer. Nur die blutverschmierten Verbände und Küchentücher von Alysha lagen auf den Boden. Die Bettwäsche auf der Couch, war durcheinandergewürfelt. Aber vom Alysha war nichts zu sehen. Die ist doch wohl nicht abgehauen? Ich lief in die Küche, dort war sie nicht. In den anderen beiden Schlafzimmern. Da fand ich sie auch nicht.
"Alysha", brummte ich und knallte die Zimmertür von Marcels Schlafzimmer zu. "Die gottverdammte Hure." Ich zog mein Handy aus der Handtasche und rief wieder Marcel an. "Na komm. Geh ran", sagte ich und tippte ungeduldig mit den Fuß auf dem Laminatboden herum. Nein, Marcel ging mal wieder nicht dran, aber ich war diejenige, die auch das Handy vom Ohr nahm und am Horchen war, woher das gottverdammte Summen kam. Ich drückte das Gespräch weg und wenige Sekunden später hörte das Summen auf. Dann rief ich wieder Marcel an und wieder das Summen. Ich folgte dem Flur und stand am Ende vor der Badezimmertür, wo das Summen mehr als deutlich war. Ich legte auf und steckte mein Handy in die Hosentasche, hob dafür meine Knarre fest in der Hand und schob ganz langsam die Badezimmertür auf.
~ Unbekannte Sicht ~
"Behalte sie bitte im Auge. Ich habe ein ungutes Gefühl", sagte Janu am anderen Ende besorgt. Sie machte sich Sorgen um ihre Schwester. Das ist auch verständlich. Ich machte das nicht nur, damit Janu bescheid weiß, dass es ihrer Schwester gut ging, sondern auch wegen mir, damit ich weiß, dass May in Sicherheit ist.
"Ich pass schon auf May auf", sagte ich und legte auf und seitdem ließ ich sie wirklich keinen Augenblick mehr aus dem Auge. So wie jetzt. Ich schlich mich gerade die Treppen des Treppenhauses hinauf, als ich May vor einer Wohnungstür stehen sah. Sie hielt inne und war für einen Augenblick ziemlich am nachdenken. Bevor sie sich nach mir umdrehte und mich ansprach, was ich denn so blöd glotzte, ging ich lieber an ihr vorbei. Ich zog vorher noch die Kapuze über meinen Kopf und ließ meinen Kopf hängen und ging ohne ein Wort an ihr vorbei. Ich konnte für einen Augenblick ihren skeptischen Blick auf meinem Rücken spüren, doch als ich im nächsten Stockwerk war, war dieses Brennen wie weggeblasen. Ich blieb stehen und schaute dem Treppengeländer ab nach unten. Keine Sekunden später hörte ich eine Tür zufallen. May war anscheinend in die Wohnung gegangen. Ich schlich mich wieder die Treppen herunter und lehnte mich gegenüber von der Tür an die Wand neben der Fahrstuhltür und wartete einfach einen Augenblick. Ich war ziemlich am zögern, weil ich Angst hatte Erwischt zu werden. Dann würde alles auffliegen. Aber auch alles. Und ob sie mich bis dahin noch vermissen werden, war fraglich. Als ich das Rumpeln hinter mir wahrnahm, zuckte ich zusammen und blickte zum Fahrstuhl. Die Anzeige über der Fahrstuhltür, zeigte mir die Nummer, wo der Fahrstuhl halten würde. Vierter Stock. Und da hielt ich mich gerade auf. Ich schaffte es gerade noch von der Fahrstuhltür weg und sprang über das Geländer auf die Treppen. Dann tat ich so, als würde ich schnell runter gehen, blieb aber stehen und schielte durch das Geländer zur Tür. Eine Frau in Highheels, schloss die Tür auf. Das war Alysha, das erkannte ich und diese war ganz schön schnell in der Wohnung verschwunden. Die Tür knallte zu und keine Minute später, hörte ich es laut Rappeln und Krachen.
Voller Panik lief ich die Treppen hoch und blieb vor der Wohnungstür stehen. Ich hörte es immer wieder Rumpeln, Geschirr schien auf dem Boden zu Bruch zugehen. Immer wieder hörte ich Beleidigungen. Und mit einem Schlag war alles ruhig. Zu ruhig. Okay, das war der Moment, in dem ich mich nicht mehr zurückhalten konnte. Ich trat die Tür ein und stürmte direkt zur Küche, wo das letzte laute Poltern herkam. Alysha, lag in einer riesigen Blutlache- das Blut lief wie ein Wasserfall aus ihrem Schädel heraus und in dem Schädel steckte tatsächlich eine Bratengabel. Die ganze Küchenzeile war voller Blut und überall lag Geschirr. Und von May war nichts zu sehen. Erst als ich ein Wimmern hörte, hielt ich inne und folgte dem Flur entlang. Ich blieb wie versteinert vor der Badezimmertür stehen und blickte zu May, die weinen und wimmernd auf dem Boden kauerte und den starr an die Decke blickenden Marcel in ihren Armen hielt. An seinem weißen T-Shirt konnte ich eine blutende Wunde erkennen. Ich stand einfach nur da und starrte auf die beiden vor mir auf dem Boden. Nein. Nicht Marcel. Bitte nicht Marcel. Mir schossen Tränen in die Augen und ich hätte in dem Moment alles kurz und klein geschlagen, was mir in den Weg kam. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und unterdrückte einen Schrei. Nicht die kleine Nervensäge. Nicht er. Ich drehte mich mit dem Rücken zur Badezimmertür und schlug mit aller Kraft gegen die Wand vor mir. Dabei krachte ein Foto von der Wand. Ein Foto von Marcel und mir, in den guten alten Zeiten auf Ibiza. Auf unserem gemeinsamen Urlaub. Da wo May und Marco zusammengefunden hatten, dank Marcel und mir. Ich hörte ein Klicken hinter mir und hielt inne. Wenige Sekunden hatte ich einen kalten Lauf in meinem Nacken. "Rufen Sie doch die Polizei!", hörte ich May hinter mir sagen. Ihre Stimme bebte, sie versuchte nicht wieder in Tränen auszubrechen, aber sie hielt sich tapfer. Im Gegensatz zu mir. Ich brach gerade völlig in Tränen aus. Ja, ein Heulsusen-Image war noch nie wirklich besiegelt.
"Mach die Waffe runter, Scotty", sagte ich nur und drehte mich um. Der Lauf hing mir jetzt vor der Nase. May ließ vor Schreck die Waffe fallen und sprang zurück, als sie wusste, wen sie vor sich hatte.
"Nein, nein, nein, nein, nein, nein", murmelte sie immer wieder. Es klang fast wie ein Tantra. Sie schüttelte ihren Kopf und drehte sich von mich weg. "Das ist alles nur ein Traum. Das ist alles nur ein Traum", murmelte sie. Sie ging auf die Knie und krabbelte wieder ins Badezimmer. "Das ist alles nur ein Traum. Hey, Marcel. Alles nur ein Traum. Wach auf. Na los, wach auf. Ist nur ein Traum. Du kannst aufwachen, Kleiner. Bitte, wach auf. Ich darf dir noch in den Oberschenkel schießen. Na komm." May zog leicht an Marcels Hose. Doch als sie bemerkte, dass er nicht darauf reagierte, zog sie immer doller ran. "Hey, Marcel, was bitte wieder auf. Wach bitte wieder auf. Das ist alles nur ein Traum."
"May", sagte ich und fasste ihr an die Schulter. Sie riss sich von mir weg.
"Fass mich nicht an!", schrie sie mich an. "Du bist tot. Du bist tot, Robin." Sie quietschte er herum und schlug nach mir und ich hatte mich in dem Augenblick noch nie so hilflos gefühlt, wie jetzt. Ich kniete mich neben May und versuchte ihre Hände zu packen, aber sie schlug immer noch um sich herum. "Du bist gestorben! Du bist doch tot! Das ist alles nur ein Traum!"
"Ich wünschte, dass wäre ein Traum", sagte ich und schnappte endlich nach ihren Händen. Ich hielt sie in meinen und blickte sie an. "Beruhige dich."
Sie kniff die Augen zusammen, um mich nicht anschauen zu müssen. Sie ließ ihren Kopf hängen und schüttelte ihn wie gerade eben. "Nein, nein, nein, nein, nein, nein", murmelte sie wieder vor sich hin. "Es ist nur ein Traum. Bitte, nur ein Traum." May ließ ihren Kopf eher unvorsichtig auf meine Schulter knallen und ich schlang sofort meine Arme um ihren Rücken. Nein, dass war kein Traum und ich wünschte, dass wäre einer. Während ich hier saß, versuchte May zu beruhigen, die gerade einen völligen Nervenzusammenbruch hatte, blickte ich zu Marcel. Schnell kniff ich die Augen zusammen, um ihn nicht so in Erinnerung halten zu müssen. Aber ich fürchte, dass es schon zu spät war.
***
Das kommt selbst für mich alles ein Wenig unerwartet und ich wünschte auch nur, dass es ein Traum wäre. In dem Sinne, frohe Ostern und tut mir leid.
Diane
***
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top