Kapitel 62
~ May's Sicht ~
"Was ist? Kannst du dich endlich mal entscheiden?", fragte ich meinen Sohn, der völlig ratlos vor sämtlichen Anzügen stand. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, welchen Anzug er anziehen sollte, für seine Abschlussfeier. Oder besser gesagt, er hat sich immer noch nicht für ein Anzug entschieden. Und wir standen hier mindestens schon zwei Stunden in dem Laden. Selbst die Verkäuferin war genervt und wandte sich lieber anderen Kunden zu, während mein Sohn sich hier am Kopf zerbrechen war.
"Mom, hetzt mich nicht. Das ist der Anzug meines Teenagerlebens", murmelte er nur und kratzt sich die Stirn. "Und das ist gerade die schwierigste Frage aller Zeiten."
"Los doch einfach ein Anzug aus. Entweder den schwarzen, oder nur das weiße Hemd mit der Weste. Kacke dich nicht so ein. Du siehst in beiden gut aus. Und wenn du dich nicht gleich, entscheiden tust, dann suche ich dir einen aus. Dann sind wir hier ganz schnell wieder raus. Mir ist heiß. Ich bin schwanger und mach nicht mehr lange mit den Scheiß."
Kane seufzte genervt und kratzte sich wieder an der Stirn. "Na gut, Mom. Ich suche mir doch keinen aus. Ich mach ein Foto und schicke es in die Gruppe. Der mit den meisten stimmen, wird gekauft."
"Boah, dass wird ja noch länger dauern", bemerkte ich genervt und lehnte mich wieder an der Wand an. "Nee, beeilen dich. Ich muss heute noch nach Hause. Ich hab Mina versprochen, dass ihr ihr bei den Hausaufgaben helfe. Sie muss irgendein Referat über ihre Vorfahren in Geschichte halten. Da muss ich wohl das geheiligte Stammbuch rausfischen."
"Und? Ich hab hier immer noch die wichtigste Entscheidung in meinem Teenagerleben, Mom. Kapierst du das denn nicht?"
"Du weißt ja, welcher Bus nach Hause fährt, oder?"
"Welche S-Bahn. Das passt ja wohl besser", brummelte mein Sohn und machte tatsächlich ein Foto von den Anzügen.
"Wie auch immer", meinte ich und zog aus meinem Portemonnaie meine Kreditkarte heraus. "Mach keinen Scheid damit. Du kaufst dir den Anzug und den Pin kennst du ja. Wir sehen uns zu Hause."
"Mom? Wie? Was? Ich soll meinen teuren Gucci-Anzug in einer versüfften S-Bahn transportieren?", fragte er mich schockiert.
"Ja, entweder das. Oder du wirst dich in den nächsten fünf Minuten entscheiden, sodass du mit mir im Auto nach Hause fahren kannst?", schlug ich vor.
"Das ist Erpressung."
"Nein, nur zwei Vorschläge. Und für einen Vorschlag sollst du dich entscheiden. Und das bitte in den nächsten fünf Minuten. Dreißig Sekunden sind nämlich schon um."
"Mom."
"Entscheide dich doch einfach", sagte ich streng und ging von meinem Sohn weg. Ich schaute mich noch ein wenig in den Laden um und dachte mir, dass ich früher so einen Laden nie betreten wäre. Ich meine, ich wäre so ungeschickt und hätte die teuren Anzüge irgendwie ruiniert- vor allen Dingen mit Kane als Baby. Ich habe immer wieder einen riesigen Bogen, um diese Boutiquen gemacht. Aber seit dem mein Mann und ich ganz viel Geld bei Seite gelegt haben, waren wir so nett und gönnten uns und unseren Kindern zu besonderen Anlässen mal ein paar Sachen.
"Du dumme Kuh", rutschte es mir raus, als ich zwischen den Ballkleidern nach draußen schaute und Alysha erkannte, die mich direkt anstarrte. Ich sah ihr an, dass sie ein wenig erschrocken wirkte und das sie in wenigen Sekunden abhauen würde. Aber nicht mit mir. Ich verließ den Laden und ging direkt auf Alysha zu, die einfach nur an dem Baum stehen blieb. Ja, sie blieb stehen und haute mal nicht vor mir ab.
"Sind dir deine Beine eingeschlafen?", fragte ich sie nett. Scherz. Ich klang mit Absicht nicht nett, damit sie gleich wusste, wo sie an mir war.
"Nein, aber ich hab mir schon gedacht, dass ich so eine Begrüßung von dir bekomme", antwortete sie nur und seufzte. "Bist du mit Kane unterwegs?"
"Ja, wir kaufen ihn einen Anzug für seinen Abschluss."
"Wow, wir schnell die Zeit vergeht."
"Ja, Menschen verändern sich mit der Zeit. Ein Beispiel steht ja vor mir."
"Ich weiß, dass ich ziemlich scheiße gemacht habe."
"Ja, dass hast du", nickte ich. "Das wissen wir auch alle. Und ich wäre dir ziemlich dankbar, wenn du endlich mal zur Polizei gehst und deine Aussage in dem Ibrahimovic-Fall machen würdest."
"Das ist nicht so einfach", bemerkte Alysha. "Ich will erstmal wieder guten Kontakt mit meinen Ex-Mann und Sohn haben. Weißt du?"
"Aha. Ich meine, du weißt schon, dass die beiden nichts mehr von dir wissen wollen. Gerade wegen der Sache mit deiner Untreue und der Sache mit den Schweden und der Französin und meiner Wenigkeit."
"Ja, aber ich bin immer noch Curtys Mutter, May. Der kann mir den Kontakt nicht verbieten."
"Genau, kann er auch nicht. Aruba verbietet Curtys auch nicht den Kontakt zu dir. Du weißt, dass dein Sohn alt genug ist. Er ist 18 und wird dieses Jahr 19. Er kann für sich alleine entscheiden und er hat sich dafür entschieden, dass er momentan keinen Kontakt zu dir möchte, da es ihn so auch super geht."
"Woher willst du das wissen?"
"Du weißt selber, dass Curt mich wie seine Tante ansieht. Ich war für ihn schon immer Tante May. Und Kane ist für deinen Sohn, wie ein Bruder. Wenn Curt nicht weiter weiß, und Jane auch nicht, kommt er eben zu mir. Und wir haben oft darüber geredet. Er meinte, dass er gut mit Auba alleine klar kommt und erstmal keine Mutter braucht."
"Nein", sagte Alysha und schüttelte ihren Kopf. "Nein, dass hat er niemals gesagt."
"Doch. Mehrmals. Mehr als ansprechen, was jetzt mit ihm und dir ist, kann ich auch nicht. Ich kann ihn auch nicht dazu zwingen, dass er Kontakt zu dir aufbauen soll. Ich bin da nur in Anführungszeichen, seine Tante. Der Junge ist alt genug, Alysha. Er kann schon für sich selber entscheiden, was gut für ihn ist und was nicht. Und wenn er momentan nichts mit dir zu tun haben will, da musst du damit erstmal klar kommen und das hinnehmen." Ich machte eine Pause. "Und vielleicht würde er das ja gut finden, wenn du endlich mal zur Polizei gehen würdest, wegen der Gottverdammten Aussage."
"Und was ändert es daran? Ich habe eh schon Probleme. Bin auf Bewährung wegen Diebstahl draußen. Was, wenn wir jetzt noch weiter illegale Geschäfte nachgehängt werden? Dann kann ich gleich in den Bau."
"Ja, da bist du doch selber dran Schuld, Alsyha. Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben."
"Wie auch immer. Sag Marco, alles Nachträgliche von mir."
"Gehst du jetzt zur Polizei?", fragte ich sie, und hielt sie am Handgelenk fest.
"Ich überlege es mir", antwortete Alysha, riss sich von meinem Griff los und ließ mich dann einfach stehen.
"Was will die denn hier?", fragte mein Sohn nicht gerade begeistert, als er neben mir stehen blieb. Er blickte direkt auf Alysha, die aus der Thier-Galarie verschwand.
"Ist doch jetzt egal. Wie hast du dich entschieden?", fragte ich ihn und drehte mich zu ihm. Er hielt den Anzug hoch, der in einer blickdichten und schwarzen Folie verpackt wurde und grinste nur.
"Das wirst du am wichtigsten Tag sehen, liebe Mom. Hier ist deine Karte", er drückte mir meine schwarze American Express in die Hand und diese ließ ich schnell in meiner Handtasche verschwinden.
"Schleimbolzen", antwortete ich und schlug Kane leicht auf den Nacken. "Willst du noch ein Frozen Yoghurt auf dem Weg nach Hause?"
"Nee, ich nehme so ein Eis auf die Hand."
"Da saust du aber alles voll", bemerkte ich ironisch.
"Ich meine, in eine Waffel, oder so", lachte er nur und wir machten uns auf den Weg nach Hause, nachdem ich meinen Sohn ein Eis spendiert hatte.
Während Kane in seinem Zimmer verbrachte, half ich Minas bei den Hausaufgaben in Geschichte. Ich war froh, dass Marco vorher mein Stammbuch herausgesucht hatte.
Marco saß an seinem Laptop auf der Couch und schien wieder irgendwas mit der Mannschaft regeln zu wollen.
"Deine Familie kommt aus Schottland. Das wissen wir ja. Hä, cool, Oma's Vorfahren kommen aus Bulgarien. Wie cool. Und Papas Vorfahren kommen aus, um Gottes Willen, ihr kommt ursprünglich aus Frankreich und Polen. Haben wir überhaupt einen von der Familie Reus, der klaut? Ich kenne nur Nico, der hat einen riesigen Fabel für Baguettes..."
Marco horchte auf. "Frankreich und Polen? Das wüsste ich aber."
"Was? Deine Blässe zeugt darauf hin, dass du aus Polen kommt. Und deine Nase, dass irgendwas Französisches in dich steckt", lachte Mina.
"Hmpf, du weil ihr nicht meine Nase habt."
"Kann ja nicht jeder den riesigen Riecher wie du haben", fügte ich hinzu.
"Pff."
"Ja, ein Wunder, dass du uns noch nicht den ganzen Sauerstoff wegziehst."
"Okay, Mina ist gut. Machen wir mal hier weiter und lassen deinen Vater in Ruhe. Muss doch nicht jeder in seiner Nase rumbohren, obwohl man dort reinklettern könnte."
"Boah. Frau!"
"Boah. Mann!", gab ich grinsend zurück.
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