Szene XIV
"Schau gefälligst in deine eigenen Karten, du Nase", drücke ich Jimmy sanft von mir weg, als er schummeln will. "Selber du Nase", streckt er vorsichtig seine Zunge heraus, sodass nur die Spitze zu sehen ist, "meine sieht übrigens um Längen besser aus als deine." Warnend reißen unsere Eltern ihre Augen weit auf, während ich vor lauter Überraschung einfach nur lachen kann. "Wo hast du aufgeschnappt, so frech zu sein?", blicke ich meinen kleinen Bruder amüsiert an. Schulterzuckend nimmt er einen Schluck von seinem Kakao und zieht dann eine von meinen Karten. Professionell.
Es ist bereits die dritte Runde Schwarzer Peter, die wir spielen. Und so wie es aussieht, wird Jimmy erneut gewinnen. Darum ist es wahrscheinlich auch sein Lieblingsspiel. Der Rest unserer Familie hat nicht das Händchen dafür die richtigen Karten zu ziehen und im Nullkommanichts die passenden Pärchen zusammenzuhaben. Von Mensch ärgere dich nicht und Memory – darin bin ich relativ begabt – durften wir jeweils nur einen Durchgang spielen. Ansonsten hätte mein Bruder wahrscheinlich noch einen Nervenzusammenbruch erlitten.
Möglichst unauffällig verdrehe ich meine Augen, als ich den schwarzen Peter aus der Hand meines Vaters ziehe. Sein breites Grinsen verrät jedoch sowieso alles. Für Poker sind wir definitiv alle nicht gemacht – außer Jimmy vielleicht. "Gewonnen!", reißt besagter Junge die Arme in die Höhe. Scheinbar hat er auch das letzte Pärchen gefunden. "Spielen wir noch eine Runde?", fragt mein Bruder voller Hoffnung, "bitte, bitte, bitte."
"Eine letzte Runde noch", seufzt meine Mutter ergeben, "dann gehst du dir aber die Zähne putzen." Wild nickend sammelt Jimmy alle Karten ein und versucht sie in seinen kleinen Händen zu mischen, was mehr schlecht als recht funktioniert. Einen Moment sehen wir ihm alle gespannt dabei zu. Dann hält es mein Vater nicht mehr aus und übernimmt das Mischen und Verteilen der Karten. "Auf ein Neues", seufzt er schließlich, weil er genau weiß, dass er verlieren wird.
"Bringst du mich ins Bett?", sieht mich mein Bruder aus seinen braunen Kulleraugen an, während er mit seiner Zahnbürste im Mund durch den Flur läuft. Mom hat ihn schon an die hundertmal ermahnt, dass er das nicht tun soll, jedoch ist er unbelehrbar. "Wenn du dir im Bad die Zähne putzt, mache ich das", lasse ich direkt die Erwachsene heraushängen. Dabei bin ich diejenige, bei der er sich das schlechte Benehmen abgeschaut hat. Viel zu oft renne ich in meinem Zimmer umher und sammle meine Sachen zusammen, während ich meine Zähne putze.
Müde streckt mir Jimmy seine Arme entgegen, nachdem er seinen Mund am Waschbecken ausgespült hat. "Du faules Stück", hebe ich ihn kopfschüttelnd hoch und trage ihn in sein Zimmer. Manchmal wähle ich meine Worte willkürlich aus, ohne die pädagogischen Werte zu beachten. Aber er wird sicher trotzdem zu einem guten Jungen heranwachsen. "Endstation", lege ich meinen Bruder auf der kleinen Matratze ab. Sein Bett ist vielleicht gerade einmal ein Drittel so groß wie meins.
Seine Hände krallen sich in den Ärmel von meinem Pullover. Also lege ich mich vorsichtig neben Jimmy und stütze mich auf meinem Ellenbogen auf, damit ich auf ihn hinunterblicken kann. "Lu?", zieht er das 'u' in die Länge, während er sich in seine blaue Ninjago Decke kuschelt, "wie fühlt es sich an, verliebt zu sein?" Überrascht betrachte ich ihn einen Moment. Ich hätte nicht gedacht, dass sich ein Winzling wie er über so etwas Gedanken macht.
"Glaubst du, dass du verliebt bist?", schmunzle ich. Im Stillen füge ich ein 'in Annabelle' hinzu. "Erst musst du meine Frage beantworten", zieht mein Bruder eine beleidigte Schnute. Leise lache ich, bevor ich mit meinen Schultern zucke und ein paar seiner braunen Locken aus seiner Stirn streiche. "Ich bin mir nicht sicher, ob du da die Richtige fragst", lege ich meinen Kopf schief. "Warst du noch nie verliebt?", flüstert Jimmy, während er mich mit großen Augen ansieht. "Keine Ahnung", seufze ich kaum wahrnehmbar. Verknallt war ich sicher schon ein paar Mal, aber verliebt – das ist eine ganz andere Hausnummer.
Meinen ersten und einzigen Freund hatte ich mit sechszehn. Die Beziehung hat gerade einmal vier Monate gehalten. Sie endete so plötzlich, wie sie auch begonnen hatte. Mein Exfreund wechselte nach den Sommerferien auf eine andere Schule und der Kontakt brach einfach ab. Wir haben nicht einmal richtig miteinander Schluss gemacht. Wer weiß, vielleicht bin ich eigentlich immer noch in einer Beziehung mit ihm.
Grunzend verkneife ich mir ein lautes Lachen. Ich habe nach der Trennung einfach mit meinem Leben weitergemacht. Ohne eine einzige Träne zu vergießen oder dem Gefühl, man hätte mir das Herz herausgerissen. So, als hätte es den Jungen nie gegeben. Immer wieder kam in mir der Gedanke auf, dass ich vielleicht herzlos bin. Doch es war einfach nichts Ernstes. Nichts, was man lange hinterhertrauern müsste.
"Weißt du Jimmy, Gefühle sind sehr kompliziert", versuche ich ihm zu erklären, "jeder nimmt sie anders wahr. Ich könnte dir jetzt erzählen, was ich denke, wie sich Verliebt Sein anfühlt. Aber vielleicht spürst du nicht das gleiche und bist trotzdem verliebt." Seine kleinen Finger finden den Weg in meine Haare und spielen damit herum. "Und was ist mit Matt? Bist du nicht in ihn verliebt?", gähnt mein Bruder und bringt mich damit zum Lächeln. Er ist unglaublich vernarrt in Matt – was wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruht.
Genau das gleiche hat mich Mascha vor etwa einem Jahr auch gefragt. Sie wollte mir regelrecht einreden, dass ich es bin. Doch ich bin mir sicher, dass das noch nie der Fall war. Wir verstehen uns wirklich gut, sind auf einer Wellenlänge – und man muss ehrlich sein – er ist überaus heiß und ein guter Küsser. Aber das war es dann auch schon mit meinen angeblichen Gefühlen für ihn.
"Das bin ich nicht", stupse ich Jimmy gegen seine kleine Nase. "Also, woher weiß ich, ob ich verliebt bin?", hakt er nach, bevor er sich zu einem Embryo zusammenrollt. "Dein Herz klopft schneller, wenn du sie siehst. Du kannst nicht mehr klar denken, nicht mehr richtig atmen, wenn sie mit dir spricht. In deinem Bauch kribbelt es ganz stark, wenn sie dich berührt. Du trägst ein Grinsen auf den Lippen, wenn du nur an das Mädchen denkst, in das du verliebt bist."
Automatisch schweifen meine Gedanken zu Shawn. Seine Berührungen lösen jedes Mal aufs Neue ein Kribbeln in mir aus. In manchen Momenten hindert er mein Herz urplötzlich am Weiterschlagen. Er bringt mich zum Lächeln – zum Nett Sein – obwohl ich es überhaupt nicht will. Er macht mich neugierig und bringt mich zum Nachdenken. Und er ist nachgewiesener Weise in meinen Gedanken, obwohl er überhaupt nicht anwesend ist.
Doch diesen Unsinn muss ich mir schleunigst aus dem Kopf schlagen. Es ist unmöglich, sich in jemanden zu verlieben, den man noch nie bei Tageslicht gesehen hat. Ich weiß viel zu wenig über ihn – über sein bisheriges Leben, über seine Wünsche und Vorstellungen – um ihn in mein Herz zu schließen. Es ist unvernünftig, sich kopfüber in etwas zu stürzen, von dem man nicht den Rückweg kennt. Aber Liebe ist noch nie rational gewesen, oder?
"Hör einfach auf dein Inneres", flüstere ich, bevor ich meinem Bruder einen Kuss auf seine Stirn gebe. Seine Augen sind geschlossen und sein Atem wird immer gleichmäßiger. Vorsichtig erhebe ich mich von seinem Bett und beobachte ihn noch einen Augenblick. Die Frage, ob er in Annabelle verliebt ist, wird er mir heute nicht mehr beantworten.
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Wie überaus poetisch ich doch bin!
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