Szene XIII

Einen Moment bin ich irritiert, ehe ich meinen Blick langsam nach links wandern lasse. Die vier Personen auf der Leinwand sind nicht die einzigen, die aus dem Nichts heraus pfeifen. Shawn ist einfach mit eingestiegen. Jedoch hält es nicht lange an, denn die Jugendlichen, die zum Nachsitzen verdonnert wurden, werden von ihrem Lehrer ganz schnell zum Schweigen gebracht. Ich meine, zu sehen wie mich der Braunhaarige angrinst, während er wahrscheinlich auf eine Reaktion von mir wartet. Aber da kann er noch lange warten. Kopfschüttelnd wende ich mich einfach wieder ab.

Es fühlt sich heute schon merkwürdig genug an, dass Shawn seit Beginn des Films wieder direkt neben mir sitzt. Da muss er mir nicht auch noch auf Teufel komm raus ein Lachen entlocken wollen. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich mich über seine Nähe freuen soll oder nicht. Es macht mir etwas Angst, wie schnell wir dazu übergegangen sind, so zu tun als würden wir uns kennen. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht, aber habe ihm jetzt schon so oft meine Gedanken anvertraut. Gedanken, die ich teilweise noch nie laut ausgesprochen habe.

"Da wird einem doch schlecht", murmelt der Junge neben mir, als sich Allison – die Ausgeflippte – jede Menge Zucker auf ihr Brot schüttet und mit der flachen Hand die Cerealien darauf plattdrückt. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie er seine Popcorntüte auf den Boden stellt. Seine Reaktion ist vielleicht etwas überdramatisch, aber ich kann ihn verstehen. Appetitlich ist etwas Anderes. Trotzdem schiebe ich mir etwas von dem salzigen Popcorn, das ich vor einer guten Stunde von Shawn in die Hand gedrückt bekommen habe, in meinen Mund.

Wenige Minuten später ist schließlich der Punkt erreicht, an dem der Film merkwürdig wird. Und ich meine nicht das lustige Merkwürdig. Vorhin musste ich zwar eins, zwei Mal über das, was John Bender von sich gegeben hat, lachen. Aber das war es dann auch schon. Jetzt ist die Handlung einfach nur komisch und meiner Meinung nach völlig aus der Luft gegriffen. Unterbewusst nehme ich wahr, wie ich meine Stirn zusammengezogen habe und der Leinwand grimmig entgegenstarre.

Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, saß ich nicht hier im Kino. Und neben mir saß auch kein Junge, der mir salziges Popcorn gekauft hat. Es waren Schulferien und ich war mit meinen Eltern verreist. Wir hatten Urlaub in den Bergen gemacht. Die kleine Hütte und das ausladende Sofa im Wohnzimmer waren echt gemütlich. Mein Vater hatte mich regelrecht dazu gezwungen, mich zu ihm zu setzen und mitzuschauen, weil er große Stücke auf 'The Breakfast Club' hält. Das einzige, worauf ich hingegen große Stücke halte, ist die Adaption dieses Films in der Fernseherserie 'Victorious'.

"Ich mag ihn. Und du?", meldet sich Shawn zu Wort, als der Abspann endlich läuft. Überrascht reiße ich meine Augen auf, während ich ein Gähnen unterdrücke. "Ehrlich gesagt, finde ich ihn etwas seltsam. Etwas sehr seltsam", richte ich mich auf und drehe meinen Oberkörper zu dem Braunhaarigen. Ich lasse ihm gar keine Zeit zum Antworten, da ich noch so einiges zu diesem Film loswerden möchte. "Hätte John Hughes den Leuten damals nicht einfacher vermitteln können, was er von der Gesellschaft hält?"

"Ist es überhaupt das, was er thematisieren wollte?", überlege ich, "Was genau wollte er den Zuschauern sagen? Dass sich jeder für etwas Besseres hält? Dass die Menschen zu engstirnig sind? Dass jeder mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen hat? Und keiner das ist, was er vorgibt zu sein? Dass manche Familien zerrüttet sind? Dass die Eltern manchmal zu viel von ihren Kindern verlangen? Dass man nur miteinander reden muss, um sich zu verstehen?"

"Liegt das Augenmerk dieses Films nicht auf dem Zitat 'Sie sehen uns, wie Sie uns sehen wollen'?", spinne ich meine Gedanken immer weiter und weiter. "Nein, 1985 gab es bereits durchaus gesellschaftskritischere Filme." Einen Moment halte ich inne und nicke einfach nur. Die Leinwand ist dunkel, der Projektor also schon ausgeschaltet. Die zwei Personen, die vor uns saßen, haben den Kinosaal bereits verlassen. Das einzige Geräusch, das ich wahrnehme, ist der gleichmäßige Atem von Shawn. Es hat etwas Beruhigendes an sich.

"Stell dir vor, eigentlich war der Film 150 Minuten lang", krame ich nun die Fakten aus, nachdem ich keine Fragen mehr habe, "das hätte doch niemand ausgehalten. Man hat sich Sorgen gemacht, dass Hughes als Unerfahrener Regie führen wollte. Wieso hat sich niemand über das Drehbuch Sorgen gemacht? Ich mein, den größten Teil des Drehbuchs hat er innerhalb zwei Tagen geschrieben. Hat er sich also überhaupt etwas dabei gedacht?"

"Eigentlich meinte ich den Song. Aber es ist interessant zu hören, was in deinem Kopf alles vor sich geht", sieht mich Shawn mit schiefgelegtem Kopf an. Seine Finger bewegt er so als würde etwas explodieren. Vielleicht sein Verstand. Oder meiner. Peinlich berührt kratze ich an meiner Nase, während ich die Innenseite meiner Wange malträtiere. Meine Gedanken kreisen immer noch und ich kann sie einfach nicht abstellen.

"Wie kommt es, dass du so viel über den Film weißt, wenn du ihn nicht magst?", lässt mich der Junge vor mir aufschrecken. Wahrscheinlich versucht er jetzt mich zu ergründen. So, wie ich es immer wieder aufs Neue bei dem Kultfilm tue. "Wie kommt es, dass ich weiß, wie man die elektrische Kraft auf einer Punktladung berechnet, wenn ich mein ganzes Schulleben lang das Fach Physik gehasst habe?", stelle ich eine Gegenfrage, die Shawn tatsächlich zum Lachen bringt.

"Obwohl der Film schlecht ist, beschäftigt er mich – und ich beschäftige mich mit ihm. Ich schätze, das ist so, weil einfach nichts Genaues greifbar ist", zucke ich schließlich mit meinen Schultern. "Wieso glaubst du überhaupt, dass etwas Tiefsinniges hinter diesem Film steckt?" Während ich nachdenke, streckt der Braunhaarige seine langen Beine aus – nur um sie kurz darauf wieder anzuwinkeln. "Ich weiß nicht", gebe ich schließlich von mir, "vielleicht hast du Recht und es steckt nichts dahinter. Und vielleicht würde mich das auch nicht kümmern, wenn ich den Film mögen würde. Aber ich verstehe einfach nicht, weshalb er so einen großen Erfolg hatte."

Es ist wie mit Lakritz – oder salzigen Popcorn - entweder man mag es oder nicht. Und diejenige, die es nicht mögen, versuchen ständig zu verstehen, warum es von den anderen gegessen wird. Sie suchen etwas, was sie davon überzeugt, es vielleicht auch zu mögen – dieses besondere Etwas. "Meinst du nicht, dass es einfach nur darum geht, dass die unterschiedlichsten Charaktere dazu gezwungen sind, Zeit miteinander zu verbringen und sich dann sogar verstehen?", wirft Shawn ein und beschert mir deswegen beinahe einen Herzinfarkt. "Die verstehen sich doch nicht", empöre ich mich. "Nein?"

"Nein. Sie rauchen einen Joint zusammen, lügen und schreien sich an, schütten dann ihr Herz aus und gehen davon aus, dass sie ab da an Freunde sind? Nein, Freundschaft ist tiefgreifender", behaupte ich. Denn, dass dieses Grüppchen, was sich Breakfast Club nennt, befreundet ist, davon bin ich nicht überzeugt. "So tiefgreifend wie bei Claire, die sich dem Gruppenzwang unterwirft? Oder wie bei Andrew, der sich für seine Meinungslosigkeit feiern lässt?"

Überrascht sehe ich den Junge an und weiß im ersten Moment gar nicht, was ich sagen soll. "Nur, weil die Jugendlichen im Film zu blöd sind, sich richtige Freunde zu suchen, heißt es nicht, dass ich Unrecht habe. Freundschaft entsteht definitiv nicht daraus, dass man acht Stunden lang in der gleichen Bibliothek saß. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die sich alle am nächsten Schultag gegenseitig in die Augen geschaut haben. Nie im Leben!"

"Sind wir Freunde?", wechselt Shawn daraufhin einfach das Thema. „Nein", bringe ich es direkt auf den Punkt. Zwar saßen wir jetzt schon in etwa fünf Stunden länger als die fünf Trottel auf engstem Raum zusammen. Aber zu Freunden macht uns das trotzdem nicht. "Autsch, das trifft mich", greift sich der Junge an seine Brust. Sicher hat er eine schmerzverzehrte Mimik aufgesetzt. "Aber wir könnten welche werden und uns außerhalb des Kinos in die Augen schauen, nicht?", hakt er nach. "Vielleicht, wer weiß das schon."

Ein raues Lachen entflieht seiner Kehle. Wahrscheinlich denkt er, dass ich total kaltherzig bin. Aber ich bin einfach nur realistisch. "Wieso hast du dir eigentlich ein Ticket gekauft, wenn du so eine Abneigung gegen den Film hast?" Und erneut wechselt er von der einen auf die andere Minute das Thema. Dafür hätte er definitiv eine Ohrfeige verdient. Meinen tödlichen Blick sieht er in der Dunkelheit schließlich nicht.

"Na, weil Freitag ist", antworte ich jedoch in einer normalen Tonlage. "Es ist wie ein Zwang, dass ich ins Kino gehe – auch, wenn nicht einer meiner Lieblingsfilme läuft. Außerdem konnte ich dich doch heute nicht alleine lassen", lache ich leise. "Danke", stößt er euphorisch aus. Seine Finger legen sich um meine Hand und drücken einmal zu. Ich bin mir sicher, dass diese Berührung scherzhaft gemeint ist. Doch das ändert nichts daran, dass mein Herzschlag für einen Moment aussetzt und ich urplötzlich vergesse, wie man atmet. Erst nachdem Shawns Hand wieder auf seinem Oberschenkel liegt, füllt frischer Sauerstoff meine Lungen.

"Wieso galt dein erster Kommentar über den Film eigentlich dem Titelsong? Ist das dein Ding? Auf den Soundtrack eines Films zu achten?", lenke ich ab. "Möglich. Wenn man sowas als 'sein Ding' bezeichnen kann", lacht Shawn leicht, "stimmt die Musik nicht, kann auch der beste Autor keine Erfolgsgeschichte schreiben." Stummfilme haben auch ohne guten Soundtrack funktioniert, will ich erst einwerfen. Doch funktionieren und Erfolg haben ist ein riesiger Unterschied.

"Du bist also der Musikkritiker und ich die Filmkritikerin. Passt irgendwie, oder?", gebe ich etwas unüberlegt von mir. Nickend erhebt sich der Junge, ehe ich meine Aussage revidieren kann. Von dem kleinen Raum hinter uns, in dem die Technik untergebracht ist, fällt ein schmaler Lichtstrahl auf Shawns Gesicht. Doch alles, was ich von hier unten erkennen kann, sind seine geraden Zähne, die er entblößt, als er mich anlächelt. Mit seinem Daumen streicht Shawn ganz kurz über meine Wange. Dann verschwindet er aus dem Kinosaal, während seine Worte in meinen Ohren wie ein Echo nachhallen. "Das passt sogar sehr gut."

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Habt ihr 'The Breakfast Club' geguckt? Was haltet ihr davon?

Ich wünsche euch allen schon einmal Frohe Ostern! 🐣 Feiert schön! Lecker essen und Zeit mit der Familie verbringen kann man auch im kleinen Rahmen 😊

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