Szene VII

"Hi", begrüße ich ein kleines Mädchen, das ich flüchtig kenne, während ich die Glastür des Turnzentrums öffne. In der Eingangshalle springen mir die drei lila Buchstaben 'TGI', die an einer weißen Wand hängen und für 'Toronto Gymnastics International' stehen, regelrecht entgegen. Jedes Mal aufs Neue stelle ich fest, dass die Leute ihren Verein wirklich zu lieben scheinen. Obwohl ich mich relativ oft hier aufhalte, bin ich – entgegen der Freude der Leiterin des Zentrums – kein Mitglied.

Da ich das Untergeschoss des Zentrums, wie meine eigene Westentasche kenne, mache ich mich zügig auf den Weg zu den Umkleiden. Während ich meine Haare versuche zu einem ordentlichen Zopf zu flechten, fällt mein Blick auf mein Sportshirt. Genauso wie auf meinen Schuhen und meiner kurzen Hose schimmert das Emblem von 'Under Armour'. Meine Mutter beschwert sich ständig, dass dies nicht normal ist. Doch wenn ich mir Sportkleidung kaufe, kann ich nur welche von 'Under Armour' in den Warenkorb legen. Jeder pflegt seine Macken eben an anderen Stellen.

Die Jugendlichen, die hier trainieren, sind wirklich sehr leise. Und trotzdem herrscht keine absolute Stille in der Halle. Es ist ein angenehmer Geräuschpegel, der an meine Ohren dringt. Leise Musik spielt in der hintersten Ecke, damit die Mädchen in den lila Turnanzügen ihre Bodenkür üben können. Das Reißen der Klettverschlüsse der Handgelenkstützen, das aneinander Klopfen der Turnriemchen, das Festziehen der gepolsterten Reckschlaufen vermischen sich zu einem Laut, der eigenartigerweise einen Rhythmus besitzt.

Auf Socken tapse ich über den roten Teppich, der zwischen den vielen Geräten ausgelegt ist. Ich muss nicht lange suchen, um Matt zu entdecken. Es gibt nicht viele Blondhaarige in der Halle und seine Statur würde ich wahrscheinlich auch unter Hunderten wiedererkennen. Vor der kleinen Erhöhung bleibe ich stehe und lasse mich auf dem Boden nieder. Da mein Kumpel zurzeit am Trainieren und hochkonzentriert ist, will ich ihn nicht mit einer lapidaren Begrüßung stören.

Nachdem Matt tief eingeatmet und die Luft deutlich hörbar wieder ausgestoßen hat, springt er vom Boden ab, um sich an das Reck zu hängen. Seine Muskeln anspannend und seine Beine nach vorne schwingend startet er mit einem Felgaufschwung. Das ist auch schon die einzige Übung, die ich beim Namen nennen kann. Die ganzen Drehungen, Wendungen und das zwischenzeitliche Abheben vom Spannreck sind schon kompliziert genug mit den Augen zu verfolgen. Da kann ich mir nicht auch noch die Fachbegriffe merken.

Leise applaudiere ich, als der Blondhaarige mit einer sauberen Landung auf der blauen Matte aufkommt. Schließlich muss ich mein Glück nicht überstrapazieren. Denn eigentlich werde ich hier nur toleriert, weil sich die Leiterin des Zentrums etwas von Matt verspricht. Seine Trainingskameraden schätzen ihn und wenden deswegen nichts gegen meine Anwesenheit ein. Aber allein die Tatsache, dass ich nur geduldet und nicht willkommen geheißen werde, verstärkt meinen Eindruck, dass alle Turner hochnäsig sind.

Alle, bis auf Matt. Bei ihm ist es anders. Meiner Meinung nach sticht er in diesem Zentrum sowieso wie ein schwarzes Schaf aus der Gruppe heraus. Er war auf einem guten Weg ins Junior National Team gewesen. Doch genau zum entscheidenden Zeitpunkt fehlte ihm die Disziplin. Zwanzig Stunden in der Woche zu trainieren ist jedoch auch wirklich hart, wenn man nebenbei versucht seinen Schulabschluss zu erlangen. Auf den Gängen hört man, dass er immer noch gut genug wäre, um an der nationalen Meisterschaft teilzunehmen. Allerdings setzt Matt seine Prioritäten im Leben mittlerweile anders.

"Du bist spät", lässt sich der Blondhaarige schnaufend neben mich fallen. Dann drückt er seine warmen Lippen gegen meine Wange. Diese Begrüßung ist vor langer Zeit zur Routine geworden. Aber ich kann nicht abstreiten, dass ich jeden Kuss genieße. "Fünf Minuten", rolle ich mit meinen Augen. "Fünf Minuten zu spät", klimpert Matt mit seinen Wimpern. Lachend drücke ich seinen Kopf von mir weg, da seine Fratze direkt vor meinem Gesicht schwebt. Wenn es um Pünktlichkeit geht, kann er echt penibel sein. Leider hat er in dieser Hinsicht kein großes Los mit mir gezogen.

"Womit willst du starten?", schubst mich der Junge leicht an meiner Schulter an. "Mit einem dreifachen Salto", reiße ich meine Augen auf und sehe Matt so an, als wäre dies der aller beste Einfall. Einen Moment scheint er geschockt zu sein. Aber dann fängt er an zu lachen und ich stimme mit ein. Ich bekomme nicht einmal einen sauberen Salto aus dem Stand hin. "Was hältst du von ein paar Aufwärmübungen im Boden?", grinst mich der Blondhaarige schließlich an. "In Ordnung", nicke ich, bevor ich mich erhebe.

"Hilf mir", streckt Matt seine Arme nach oben, während er einen Schmollmund zieht. Seufzend greife ich nach seinen Händen und versuche ihn in die Höhe zu ziehen. Da er sich jedoch extra schwer macht, hebt sein Hintern nur wenige Zentimeter vom Boden ab. "Komm schon", beiße ich meine Zähne zusammen. Allerdings beginnt der Blondhaarige lediglich zu lachen. Dann fällt er zur Seite um. "Du bist so ein Fettsack", beschwere ich mich verärgert – dennoch leise, um die anderen nicht zu stören.

Nachdem Matt scheinbar genug von dem Spielchen hat, steht er selbstständig vom Boden auf und läuft in Richtung Sprunggrube. Die Fläche davor ist gefedert und ausreichend groß, um sich an der Seite zu dehnen, ohne jemanden zu stören. Während ich damit kämpfe meine Beine Stück für Stück weiter auseinander zu spreizen, setzt sich der Leistungsturner direkt in den Spagat. "Gott, ist das demotivierend", stöhne ich innerhalb eines sehr langen Atemzuges.

"Heb dir das lieber für deine Bettgeschichten auf", lehnt sich Matt nach vorne, sodass seine Unterarme auf dem Boden liegen. "Lustig", verdrehe ich meine Augen, "weil ich auch so viele habe." Er weiß genau, dass ich bis jetzt nur einen festen Freund hatte und weder mit ihm, noch mit den anderen Jungen, mit denen ich ein oder zwei Dates hatte, im Bett gelandet bin. "Was nicht ist, kann noch werden", hebt der Blondhaarige anzüglich eine Augenbraue in die Höhe.

"Ich werde mir nicht den Typen aus dem Kino krallen", stütze ich mich ebenfalls auf meinen Unterarmen ab, als ich endlich in einem gestreckten Spagat sitze. Nachdem ich die seltsame Fragerunde mit Shawn hinter mir hatte, habe ich Matt von ihm erzählt. Nun versucht er mich seit Tagen zu überzeugen, mit Shawn etwas anzufangen. Ich weiß nicht, wie viele Sprachnachrichten er mir bezüglich dieses Themas schon geschickt hat. Und langsam geht es mir wirklich auf die Nerven. Denn derjenige, der glaubt, dass Jungen keine langen Sprachnachrichten verschicken, liegt vollkommem falsch.

"Du wirst es bereuen, glaub mir", zwinkert mir Matt zu, bevor er sich aus dem Spagat in den Handstand hochdrückt. Auf der Innenseite meiner Wange kauend beobachte ich ihn. Auch wenn diese Übung von außen so unheimlich mühelos erscheint, weiß ich, dass sich der Blondhaarige bemühen muss, die Balance zu halten. Beim genauen Hinsehen erkennt man, dass sein rechter Zeigefinger zittert. Die Tatsache, dass mir solche Kleinigkeiten nicht zum ersten Mal auffallen, könnte ein wenig erschreckend wirken. Aber meiner Meinung nach verbringen wir einfach nur zu viel Zeit miteinander.

"Versuch es noch einmal", ermutigt mich der Turner, "du musst deine Arme mit mehr Schwung nach oben ziehen." Nach einem kurzen Blick über seine Schulter, ob die Bahn frei ist, springt Matt in die Höhe und führt mir drei saubere Rückwärtssalti vor. "Ich weiß", grummle ich - von meiner eigenen Unfähigkeit angenervt. Noch einmal tief durchatmend hebe ich meine Arme über den Kopf und strecke meine gebeugten Knie durch. Dann überschlage ich mich rückwärts in die Grube, die mit lauter roten Schaumstoffwürfeln gefüllt ist.

"Matt!", rufe ich vollkommen euphorisch seinen Namen. "Ich habs geschafft. Ich bin mit den Fußspitzen zuerst in die Würfel eingetaucht", bahne ich mir einen Weg an den Rand der Grube. Lachend streckt mir der Junge seine Hand entgegen, um mich herauszuziehen. "Ich würde sagen, wir trauen und an den Air Track heran. Da brichst du dir wenigstens nicht direkt die Knochen, wenn du auf der Absprunghöhe auch wieder landen musst", führt mich Matt zu einer aufblasbaren Tumblingbahn. "Das hört sich viel versprechend an", lächle ich ihn falsch an. Zwar bekomme ich ein wenig Muffensausen, dennoch will ich es ausprobieren. Schließlich habe ich es auch überlebt, als ich den Vorwärtssalto gelernt habe. "Okay, lass es uns durchziehen."

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Wie findet ihr Shawns Cover von Under Pressure?🤗

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