Szene I
Wie bei den zahlreichen anderen Stühlen, ist die Kuhle in dem roten Ledersitz deutlich sichtbar. Dies ist auch nicht gerade verwunderlich. Nach den vielen Jahren, in denen die Hinterteile von den verschiedensten Menschen Tag ein Tag aus darauf gewuchtet wurden, nutzen sich die Sitze langsam ab. Mittlerweile wird die lederne Oberfläche jedoch nicht mehr allzu stark strapaziert. Lieber kaufen sich die Leute eine Blu-Ray und sehen sich den Film Zuhause an.
Seufzend lasse ich mich auf meinen Standardplatz fallen. Reihe Fünf. Platz Sieben. Solange, wie ich denken kann, komme ich in dieses Kino, welches sich am Stadtrand von Toronto befindet. Früher haben mich meine Eltern begleitet. Jetzt gehe ich alleine. Manchmal findet sich jemand aus meinem überschaubaren Freundeskreis, der mitgeht. Aber es wird immer seltener. Denn, wie Mascha sagen würde, ist dieses Kino nicht mehr in. Wahrscheinlich mag ich es genau deswegen so gerne.
Ich habe die Angewohnheit, dass ich bei vielen Dingen aus Prinzip gegen den Strom schwimme. Zum Beispiel auch bei den Snacks, die ich während der Filme in mich hineinstopfe. Die meisten Menschen würden sich süßes Popcorn bestellen. Aber ich vergöttere das Salzige. Die meisten Menschen würden sich außerdem nicht jeden Monat ein Ticket kaufen, um immer wieder denselben Film anzusehen.
Während ich die aufgeplatzten Maiskörner auf meiner Zunge zergehen lasse, lausche ich dem Surren der Filmrolle, die bereits eingelegt wurde. Tatsächlich werden in diesem Kino nicht alle Filme digital abgespielt. Als man vor knapp zehn Jahren die letzten Bildstreifen auf Festplatten überspielte, zog der Eigentümer dieses Kinos nicht mit. Er wirbt damit, die alten Traditionen zu wahren. Doch leider zieht diese besondere Atmosphäre nicht mehr Zuschauer an, wie er damals erwartet hat.
Auf der Leinwand erscheint das makellose Gesicht von Julia Roberts. Automatisch lehne ich mich ein Stück nach vorne, um sie besser betrachten zu können. Man merkt durchaus, dass der Film 1999 gedreht wurde. Doch das schmälert in keiner Weise ihr Erscheinungsbild.
Zweiunddreißig. So alt war die braunhaarige Schönheit, als sie die Hauptrolle in 'Notting Hill' gespielt hat. Neun Jahre, nachdem sie ihren ersten Golden Globe gewonnen hatte. Sie durfte schon in den Armen von Hugh Grant liegen, da war ich gerade einmal zwei Jahre alt. Fünfzehn Millionen Dollar wurden ihr für diese Rolle gezahlt.
Mascha behauptet, es sei ungesund, dass ich so viel über Julia Roberts weiß. „Niemand, der jünger als vierzig ist, würde diese Frau auf der Straße erkennen", ist ihre Standardaussage, wenn ich wieder mit dem Schwärmen anfange. An dieser Stelle schlucke ich weitere Bemerkungen einfach hinunter. Ansonsten würden wir den ganzen Tag lang diskutieren und gar nicht dazu kommen, unserer Arbeit nachzugehen.
"Ja, die Möhren wurden ermordet", legt das Date von William Thacker vollkommen ernst da. Ich kann nicht anders, als laut loszulachen. Dabei entspricht mein Lachen eher einem Kichern. Ein Kichern, um das mich wirklich kein Mädchen beneiden würde. Nachdem ich mich wieder einbekommen habe, lehne ich mich in dem schmalen Sessel zurück.
Gespannt verfolge ich das weitere Geschehen. Dabei könnte ich sogar mit geschlossenen Augen sagen, in welcher Ecke der Leinwand das Gesicht von Hugh Grant eingeblendet wird und wie die weitere Kameraführung aussieht. Ich könnte sogar die Rolle der Anna Scott sprechen. So oft habe ich mir den Streifen angeguckt.
Das laute Klacken der Filmrolle verrät mir, dass sie fertig abgerollt wurde und 'Notting Hill' nun zu Ende ist. Gähnend strecke ich meinen Rücken durch, warte auf das altbekannte Knacken und stehe auf. Darauf, dass die kleinen Lampen am Rand der Sitzreihen angehen, brauche ich überhaupt nicht zu hoffen. Sie sind schon vor über einem Jahr kaputt gegangen und immer noch nicht ausgetauscht worden.
Einen leisen Schrei ausstoßend küsse ich um ein Haar den Teppichboden, als ich Reihe Fünf verlassen will. Im Straucheln nehme ich wahr, dass ich vor wenigen Sekunden über unheimlich lange Beine gestolpert bin. Der Umriss einer männlichen Statur verrät mir, dass es sich um die Körperteile eines Jungen handelt.
Erschrocken und verwirrt zugleich stottere ich eine Entschuldigung. Normalerweise sitzt hier niemand. Niemand, über den ich fallen könnte. "Ein Film, bei dem man so lachen kann, als hätte man noch nie etwas Lustigeres gehört, und bei dem man gleichzeitig weinen muss, ist ein großartiger Film", dringt kurz darauf eine angenehme Stimme an mein Ohr.
Ertappt fahre ich mit meinen Zeigefingern unter meinen Augen entlang. Es stimmt. Jedes Mal, wenn Anna und William die Bank, die zwei liebenden Menschen gewidmet wurde, in einem der privaten Gärten finden, rollen einige Tränen aus meinen Augen. Jedoch kann das der Junge in der Dunkelheit, die hier herrscht, unmöglich gesehen haben.
"Ist das so?", strecke ich meinen Rücken durch, um selbstbewusster zu wirken. "Durchaus", meine ich, ihn nicken zu sehen, "die Schauspieler vermitteln diesen gewissen Reiz, der auch männliche Wesen dazu veranlasst, den Film zu mögen. Und was immer du gerade denken magst, lass mich dir sagen, dass das überhaupt nichts Schlechtes ist. Denn den meisten Männern fehlt die romantische Ader."
"Scheint, als wärst du ein unverbesserlicher Romantiker", schmunzle ich in die Dunkelheit hinein. "Möglicherweise", lacht der Junge leise. Kopfschüttelnd klopfe ich ihm sachte auf seine Schulter. Eine etwas merkwürdige Geste dafür, dass ich überhaupt nicht erkenne, wer eigentlich vor mir steht. "Man sieht sich", sage ich mehr oder weniger einfach so dahin, bevor ich mich in Bewegung setze.
Als ich den Kinosaal verlasse, scheint das breite Grinsen auf meinem Gesicht überhaupt nicht verschwinden zu wollen. Es ist schön, dass ich nicht der einzige Jugendliche bin, der sich für Kultfilme interessiert. Und wenn er wirklich etwas von Romantik hält, könnte er in Sekundenschnelle hunderte von Mädchenherzen erobern.
Ich dachte, Jungen, die auch einmal ihre sanfte Seite offenbaren können, existieren nicht mehr. Doch scheinbar saß ich heute mit einem in der selben Reihe. 124 Minuten lang.
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Ohhh, das erste Kapitel ist da und ich bin mega gespannt, was ihr zu sagen habt😱
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