F ü n f
Where ever you've gone? How? I just need to know that you won't forget about me.
...
Meine Boxhandschuhe zog ich mir aus und griff nach meinem bereits durchnässten Handtuch. Schweratmend setzte ich mich auf die Bank im Umkleidebereich und starrte den Boden an während laute Musik durch meine Kopfhörer dröhnte. Ich spürte den Schweiß auf meinem Rücken hinunterfließen – Nichts unübliches bei einem 3-Stunden-Workout.
Während meiner Workout-Session konzertierte ich mich auf das Geschehen vor mir und schaffe es endlich die negativen und schlechten Gedanken auszublenden. Aus diesem Grund versuche ich diese so lange und so oft wie möglich zu machen. Aber vor einer Woche machte ich den Fehler die Einladung von meinem Vater und Gabrielle anzunehmen. Irgendwie fühlte ich mich schlecht, dass ich damals in jener Nacht sein Büro wortwörtlich zerstörte. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl ich würde meinem Vater etwas schulden.
Weiters war ein Gespräch zwischen ihm und mir völlig überfällig. Damals rief ich ihn morgens sturzbetrunken an und versuchte ihn zur Rede zu stellen. Ich wollte den Grund wissen, wieso er mir nie Liebe zeigte. Bei unserem Mittagessen wurde ich von ihr angerufen, weil es ihr schlecht ging und sie unbedingt ins Krankenhaus gefahren werden wollte. Und in jener Nacht, die Nacht in der sie von mir ging, verunstaltete ich sein Büro und weinte mir die Seele aus dem Leib. Ich verbrachte ihre letzten Stunden bei ihm und nicht bei ihr.
Meine Kopfhörer riss ich aus meinen Ohren und warf sie, inklusive meines Handys, auf den Boden. Ich wusste, dass diese Gedanken die Minute, die ich aufhörte zu trainieren, zurückkommen werden. Und ich hasste es. Ich hasste einfach alles.
"Harry, stimmt's?", kam eine Person auf mich zu. Ich hob meinen Kopf und sah einen älteren Mann vor mir stehen. Er hatte einen schwarz-blauen Trainingsanzug an, um seinen Hals trug er seine Brille die auf so einer Schnur gebunden war. Sofort schenkte ich ihm einen genervten Blick – von wo kannte er meinen Namen?
"Wer möchte das wissen?", fragte ich desinteressiert und stand von der Sitzbank auf. Ich wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, da ich keine Lust auf einen dummen Smalltalk miteinem 50-jährigen hatte. Aus diesem Grund verzichtete ich auf die Dusche hier und entschied mich Zuhause eine zu nehmen. Meinen schwarzen Pullover zog ich mir über den Kopf und stopfte den Rest in meine Sporttasche.
"Ich habe dich während deinem Training beobachtet-"
"Hört sich ganz und gar nicht falsch an", unterbrach ich ihn und setzte meine schwarze Beanie auf. Ich drehte mich um, um mein Handy aufzuheben, doch sah, dass er das bereits für mich tat. Ein weiteres Mal schenkte ich ihm einen etwas genervten Blick zu und murmelte ein leises: "Danke."
Er lachte vor sich hin und verschränkte seine Hände vor der Brust. "Ich bin PD", streckte er mir seine Hand aus.
Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und streckte ihm zögernd meine Hand aus. „PD?", klang ich etwas verwirrt.
"Eine Abkürzung für Paul Daniel", nickte er und fuhr fort:„Wie gesagt, ich habe dir im Ring zugesehen – hast du Erfahrungen im Boxbereich? Du hast echt gute Bewegungen drauf."
„Ich habe echt keine Zeit dafür", spannte ich meinen Kiefer an und versuchte die Erinnerungen, der illegalen Kämpfe, zu ignorieren.
„Ich denke du hast echt Potentia-"
"Nein Danke", unterbrach ich ihn sofort. "Ich mache so etwas nicht mehr"
"Nicht mehr?", fragte PD interessiert. "Du hast also doch Erfahrungen. Ich leite diesen ganzen Club hier und ich trainiere viele junge Boxer und ich denke du würdest echt gut zu unserem Team passen. Die Geschwindigkeit und deine präzisen Schläge sehe ich sehr selten bei Hobby-Boxern." Als ich ihm keine Antwort gab und meine Straßenschuhe anzog, fuhr er fort: "Wir machen öfters Wettkämpfe gegen andere Clubs – wenn du wirklich so gut bist, wie ich denke, könnten wir einen Vertrag aushandeln und du hättest einen Kampf pro Monat. Natürlich verdienst du Geld dabei. Und keine Sorge, alles auf legaler Art und Weise." Sofort schenkte ich ihm einen Blick zu worauf er mich schief anlächelte. PD wusste irgendetwas.
Einige Sekunden starrte ich ihn an und versuchte irgendwie seine Gedanken zu lesen – etwas, was völlig abscheuert war. Ich wurde das Gefühl nicht los, als wüsste er was ich damals in meiner Freizeit tat. Wie ich mein Geld verdiente. Wieso wusste er davon? Wer hat ihm etwas davon erzählt? Ich kannte hier gar keinen. Meine Wut stieg. "Ich habe keine Interesse und keine Zeit dafür", schmiss ich nun meine Trainingsschuhe in meine Tasche und hing sie mir über die Schulter.
"Ich respektiere das vollkommen, änderst du jedoch deine Meinung, weißt du wo du mich findest. Denn du hast echt ein Talent Harry", sagte er als ich an ihm vorbeiging.
Ich fing an spöttisch zu lachen. "Talent in anderen die Fresse zu polieren? Das nennst du Talent?" Ohne auf seine Antwort zu warten, verschwand ich aus der Umkleidekabine. Im Freien zog ich noch meine Kapuze über meinen Beanie und steckte meine Kopfhörer wieder in meine Ohren, danach machte ich mich auf den Weg in die Wohnung, welches ich einst noch Zuhause nannte.
...
Nach der Dusche machte ich mich noch auf den Weg ins Einkaufszentrum, wo ich mir neue Kleidung kaufte, anstatt die in der Wohnung zu waschen. Ich wollte einfach so wenig wie möglich in diesen vier Wänden tun. Bevor ich jedoch zu meinem Vater fuhr, stoppte ich bei Steve und zog mich dort um. Noch dazu holte ich mir von ihm die ganzen Unterlagen für die Stunden, die ich nicht in der Universität war. Etwas, was ich sehr an ihm in letzter Zeit schätzte war, dass er seit jenem Tag öfters anwesend in Vorlesungen war, damit er mir helfen konnte. Und zusätzlich versuchte er sich aus jeglicher Scheiße rauszuhalten. Ich glaubte das war seine Art und Weise mir zu helfen.
Ich nahm ihn mit, weil er sich mit Ana und Niall traf und der Ort direkt auf meinem Weg war. Die ganze Fahrt lang, hörte er nicht auf zu reden. Er sprach und sprach über all Möglichen Sachen – am meisten jedoch über Frauen am Campus. Steve erzählte mir noch nie über sein Liebesleben. Es interessierte mich nie wirklich. Doch jetzt, da ich darüber nachdachte – aus welchem Grund auch immer –fragte ich mich, ob er jemals in einer ernsthaften Beziehung war. Normalerweise sah ich ihn immer mit einem neuen Mädchen. Etwas, was mir bis heute noch immer ein Phänomen war. Er war meist unbeholfen und ein vollkommener Tollpatsch – vielleicht aber auch nur in unserer Gegenwart. Vielleicht gab er sich neben Frauen ganz Anders.
Plötzlich fiel mir PD ein. Vielleicht kannte Steve ihn. Immerhin trieb er sich genauso lange wie ich in dieser Szene herum. "Hey Steve", unterbrach ich ihn mitten in seiner Erzählung von der tollen, irischen Austauschstudentin.
Verwirrt sah er mich an. Selbst er hätte nicht gedacht, dass ich während dieser Fahrt reden werde. "Harry?", sagte er dementsprechend konfus meinen Namen.
"Dieser Box-Club, in dem ich immer trainiere, ja? Ich habe dir doch einmal davon erzählt", fing ich irgendwie die Konversation an. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich nie wirklich eine ernste Konversation mit ihm führte und trotzdem waren wir Freunde.
Hätte mir jemand vor einigen Monaten gesagt, dass ich den nervigen Jungen vom Campus jemals Freund nennen werde, hätte ich mich lachend umgedreht.
Er zuckte mit den Schultern und war noch immer überrascht, dass ich tatsächlich eine Konversation anfing. Ich wusste nicht wieso, doch es verschaffte mir ein kleines, kaum bemerkbares Lächeln auf den Lippen. "Du hast mir nie wirklich davon erzählt, aber ich weiß, dass du tagtäglich irgendwo trainieren gehst", sprach er und sah mich dann geschockt für einige Sekunden an. "Wenn du jemanden als Partner zum Boxen brauchst – ich bin die falsche Person, du weißt ich kann nicht einmal fünf Minuten laufen ohne über etwas zu stople-"
"Nein, nein", fing ich an nun tatsächlich leicht zu lachen. Überhaupt der Gedanke, dass Steve dachte ich würde ihn in den Ring zwingen um mit mir zu trainieren, brachte mich zum Schmunzeln. Steve würde keine Minute im Ring aushalten, egal gegen wen er kämpfte.
Steve sah mich etwas verwirrt an. "Glaubst du vielleicht nicht auch, dass ich fahren soll?", musterte er mein Gesicht.
Ich blieb an einer roten Ampel stehen und schenkte nun ihm einen fragenden Blick zu. "Wieso zur Hölle soll ich dich mein Autofahren lassen?" Das Lächeln verschwand von meinen Lippen, worauf ich ihm ebenfalls den verwirrten Blick schenkte.
"Junge, ich bin der Letzte, der dich verurteilt, wenn du ein wenig kiffst, aber ich denke du solltest nicht fa-"
"Warte, warte", schüttelte ich meinen Kopf und sah ihn etwas sauer an. "Wieso denkst du ich hätte geraucht?" Die rote Ampel wurde grün, worauf ich losfuhr. Da versuch ich einmal mich mit ihm zu unterhalten und jetzt würde ich ihn am liebsten aus dem Autowerfen. Ich glaube genau aus solchen Gründen wollte ich mich nie ernsthaft mit ihm unterhalten, weil er nie etwas ernst nahm.
"Du hast seit Wochen nicht mehr in meiner Gegenwart gelacht. Ich war nur etwas verwirrt und dachte vielleicht ..." Steve schenkte mir einen Blick und schüttelte den Kopf. "Okay vergiss es. Box-Club – was wolltest du mir erzählen?", versuchte er auf das alte Thema zu lenken.
Meine Wut wurde etwas weniger. Ich versuchte die Situation aus seiner Perspektive zu sehen und nach wenigen Sekunden wusste ich nicht mehr wieso ich überhaupt wütend war. "Kennst du einen Paul Daniel? Ihm gehört der Box C-"
"PD?", unterbrach er mich sofort und setzte sich auf. "PD hat dich angesprochen? Harry erzähl mir Alles! Wie ist er so?", fragte Steve aufgeregt. Ich schenkte ihm einen kurzen fragenden Blick worauf er erst verstand, dass ich keine Ahnung hatte, wer PD sei. "Harry, PD gehören so viele Box-Clubs in England! Man kennt ihn in diesen Kreisen! Viele von seinen Boxern haben schlussendlich einen professionellen Vertrag bekommen."
Ich nickte. "Er hat mir beim Trainieren zugesehen und meinte ich hätte Talent", schüttelte ich den Kopf und sah erneut kurz zu Steve. "Er hat mir mehr oder weniger angeboten für ihn zu boxen." Ich blieb bei einem Parkplatz stehen und schaltete den Motor aus
Steve riss seine Augen auf. Doch seine Miene veränderte sich nach wenigen Sekunden. "Du möchtest nicht, oder? Das ist eine komplett andere Welt als die mit Drake, Harry. Bei seinen Kämpfen geht alles professionell zu."
"An das denke ich auch gar nicht", schüttelte ich den Kopf und dachte nach: "Er kannte von irgendwo meinen Namen – irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, als wüsste er über meine Drake-Zeiten bescheid. Doch woher? Ich dachte die ganzen Kämpfe wurden Großteils geheim gehalten. Ich könnte in ernsthafte Schwierigkeiten geraten Steve, wenn irgendjemand herumerzählt was ich so getan habe." Ich schüttelte meinen Kopf und fügte noch "Ich dachte ich habe mit der ganzen Sache abgeschlossen", hinzu.
"Ich denke, dass du einfach die Situation überdenkst. Wenn dir bis jetzt gar nichts passiert ist, wird dir auch in Zukunft Nichts passieren." Er schnallte sich ab und sprach weiter: "Ich würde das mit PB noch einmal überdenken, du musst ja keinen Vertrag unterschreiben Harry. Du wirst sehr viel von ihm lernen, ich habe nur Gutes über ihn gehört und wir wissen Beide, dass dich das Boxen und Trainieren von allem ablenkt und dir gut tut." Steve öffnete die Tür und verabschiedete sich: "Viele nDank für die Mitfahrgelegenheit und, wenn du noch etwas von dem Zeug hast, welches du davor genommen hast, heb es dir auf ich komme am Abend vorbei und wir können zusammen rauchen", spaßte er noch zum Schluss um die Stimmung zu heben und grinste über beide Ohren, während er die Autotür zumachte.
"Vollidiot", schüttelte ich den Kopf und sah wie er sich auf den Weg in ein Café machte.
...
"Ich wusste nicht was du lieber hast. Deswegen habe ich alles mögliche gekocht und zubereitet. Von Steaks bis zu zwei verschiedenen Suppen und zwei verschiedene Torten und einen Kuchen gebacken!", meinte Gabrielle nervös und führte mich durch die Küche. Wo bereits meine Schwester und mein Vater auf mich warteten. Beim Geruch des Essens wurde mir übel – erneut nahm ich Nichts den ganzen Tag zu mir zu. "Oh Gott, magst du keine Steaks? Soll ich etwas bestellen – auf was hast du Lus-"
"Steak ist perfekt", schenkte ich ihr ein falsches Lächeln, welches sie beruhigte. Meine Schwester kam auf mich zu und zog mich in ihre Arme. Einige Sekunden zögerte ich, doch legte sanft meine Arme um ihren Körper. Schon lange habe ich keinen mehr umarmt. "Hey", flüsterte ich leise. Meiner Familieging ich generell seit Wochen aus dem Weg. Zuhause in Cheshire, versuchte ich ebenfalls so wenig Zeit wie Möglich im Haus zu verbringen, da mich einfach viel zu viel an alte Zeiten erinnerte.
"Ich bin so stolz auf dich", flüsterte sie leise in mein Ohr und drückte mich fester. Ich wusste auf was sie hinauswollte. Vor wenigen Monaten wäre so ein Zusammentreffen nie zustande gekommen. Sie löste sich aus der Umarmung und sah mich lächelnd an, danach strich sie mir sanft über die Schulter.
Mein Dad kam ebenfalls lächelnd auf mich zu und hielt mir seine Hand entgegen. "Ich bin sehr froh, dass du der Einladung nachgekommen bist Harry", schüttelte er mir die Hand, während die andere auf meiner Schulter ruhte. "Du siehst gut aus – bist du am trainieren?", fragte er. Ich wusste, dass er log. Man sah meine Augenringe und ich verlor einiges an Gewicht, da ich kaum Essen zu mir nahm. Meine Haare brauchten einen neuen Haarschnitt und meine untere Gesichtshälfte schmückten unzählige Stoppeln. Ich sah ganz und gar nicht gut aus. Mein Aussehen widerspiegelte mein Inneres .
Trotz der Erkenntnis seiner Lüge, ließ ich mich auf sein Smalltalk ein. "Ich trainiere jeden Tag", antwortete ich schließlich und stellte mich unbeholfen neben meiner Schwester hin.
Gabrielle ging um die große Kochinsel herum und lächelte über beide Ohren. Das hier, war genau, was sie schon immer wollte. Sie wollte schon immer zur Familie dazugehören. Die Sache war jedoch, dass diese Familie vor Kurzem noch nicht einmal existierte. Ich tolerierte meine Schwester bloß nur und mit meinem Vater sprach ich kein Wort. Diese Situation war nicht nur für sie neu, sondern auch für Dad, Gemma und mich. Ich konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem ich mit diesen zwei Personen an einem Tisch saß. Bestimmt gab es einer dieser Tage, als ich jünger war, doch diese Erinnerungen waren längst vergessen.
"Ich glaube wir sollten anstoßen!", lächelte sie über beide Ohren. Sie holte Weingläser aus einem antiken Schrank und stellte sie alle auf der kleinen Theke vor uns. "Gemma und Des – ihr seid die Weinliebhaber! Harry was möchtest du? Wir haben Bier im Kühlschrank und dein Dad hat echt guten Scotch!"
Ich starrte Gabrielle an und spürte Gemmas und Dads auf mir ruhen. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich an als würden beide den Atem anhalten, denn sie wussten, was zu viel Alkohol mit mir anstellte. "Ich nehme bloß nur ein Bier, immerhin muss ich noch fahren", sagte ich und versuchte den Blick meiner Schwester und meines Vaters zu ignorieren.
Wir stießen all an – was die Feier des Tages jedoch war, wusste ich selber nicht. Dieses Zusammentreffen etwa? Ich versuchte keine blöden Kommentare abzulassen und spielte einfach mit.
Dabei tat ich auf heile Welt. Als wäre sie nicht vor wenigen Wochen zerstört worden.
Gemma und Gabrielle richteten das Essen an, während mein Vater mir seine Scotch-Sammlung zeigte. Ein wenig unmoralisch, da wir beide wussten, dass ich ein Alkoholproblem hatte. Doch ich entschied mich erneut Nichts zu sagen und ihm zuzuhören. Er erzählte mir von den tollen Reisen, die er mit Gabrielle hatte und wo er jeden einzelnen Scotch erwarb.
Ich versuchte mich an einen unserer Urlaube zu erinnern. Doch je mehr ich daran dachte, desto klarer wurde, dass wir nie verreisten. Wir fuhren ab und zu zu unseren Großeltern – die mich so oder so nie mochten. Doch mehr unternahmen wir nicht. Erneut unterdrückte ich jeglichen blöden Kommentar und tat so als wäre ich interessiert an seinen Erzählungen. Immerhin wollten wir uns alle bessern und ich musste mit mir selber anfangen. Irgendwie.
Ich spürte die Spannung, die zwischen uns herrschte. Das Gespräch war mehr als nur fällig und beide warteten darauf bis der Andere damit anfing. Aus irgendeinem Grund fehlte mir der Mut. Ich konnte nicht darüber reden, denn sobald ich ihm erzähle wie ich mich damals fühlte, war ich verletzbar. Und das wollte ich nie für meinen Vater sein. Ich wollte nicht, dass er jemals meine Schwächen und Ängste kennt. Denn für ihn war ich eigentlich immer das emotionslose Kind.
Ironie. Dafür, dass ich als emotionslos und kalt galt, fühlte ich sehr viel.
Bevor wir nur ein Wort darüber verloren, rief meine Schwester uns ins Esszimmer, da alles nun fertig war. Am Tisch führten die drei die typischen Gespräche. Freunde, Studium, Zukunftspläne und Gemmas Freund. In dem Moment realisierte ich, dass meine Schwester auch nicht viele Interessen mit unserem Vater teilte. Zwar hatte sie über die Jahre immer Kontakt mit ihm und besuchte ihn regelmäßig, doch so richtig hatten sie sich Nichts zu sagen. Das Problem waren nie wir, sondern er. Dad kannte uns kaum.
"Wie sieht es bei dir aus?", fragte Dad nun und drehte seinen Kopf zu mir um. Ich wusste nicht mehr über was sie sprachen, da ich in meinen Gedanken versunken war und meinen Teller anstarrte. Ich versuchte etwas zu essen. Doch den Bissen, den ich nahm, konnte ich nur schwer schlucken. Zwar spürte ich den Hunger in mir, doch ich konnte nicht an Essen denken. "Das Studium", lächelte mein Vater mich an.
Ich zuckte mit den Schultern und sah zwischen den Personen vor mir hin und her. "Keine Ahnung", antwortete ich.
Gabrielle und Dad schenkten sich gegenseitig einen etwas verwirrten Blick. "Welche Kurse machst du dieses Semester? Hast du nicht gesagt du wechselst auf Jura?", fragte nun Gabrielle und versuchte die Konversation aufrecht zuhalten.
"Ich habe keine Ahnung." Und ich log nicht einmal. Am Anfang dieses Semesters trugen Ana und Steve mich über meinen Namen in Kurse ein. Sie achtete darauf, dass ich entweder mit Ana in einem war oder mit Steve, damit sie mir mit dem Stoff helfen konnten. Eines wusste ich, das Jura-Studium habe ich abgelehnt. "Ich bin nicht besonders oft in meinen Kursen."
"Das ist okay", sagte Gemma eher zu meinem Vater als zu mir. "Harrys Freunde helfen ihm derzeit bei seinem Studium. Er fängt mit dem Jura-Studium an, wenn er sich bereit dazu fühlt", sprach meine Schwester für mich.
Das Jura-Studium war etwas, was ich wirklich wollte. Doch nicht in dieser Phase meines Lebens. Ich wollte es irgendwann in einigen Monaten oder Jahren nachgehen, wenn ich mich bereit dafür fühle und meine vollkommene Aufmerksamkeit darauf richten kann. "Ich kann es jetzt noch nicht. Deswegen habe ich den Studienplatz aufgegeben."
"Du hast einen weiteren Studienplatz aufgegeben?", fragte mein Vater nun erschrocken.
Ich spannte mein Kiefer an und versuchte mich etwas zu beruhigen. Natürlich wusste ich, dass er das nicht so meinte, wie ich es aufnahm und doch machte es mich wütend. Immerhin habe ich das Stipendium derzeit auf eigener Faust ergattert und das Jura Stipendium ebenfalls. Nicht durch seine Kontakte, nicht durch seinem Geld – ich habe es alleine geschafft und deswegen werde ich auch alleine entscheiden, wann ich dem Studium nachgehen werde. "Dad ", betonte ich das Wort und sah ihm nun in die Augen. "Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber ich fühle mich derzeit nicht gut und aus diesem Grund werde ich nicht mit etwas Neuem in meinem Leben anfangen sondern warten bis es besser wird", atmete ich tief aus und sah zu Gemma. Meine Schwester schenkte mir einen überraschenden Blick. Mit so einer Antwort hätte sie wohl nie gerechnet. Sie dachte bestimmt ich würde ihm die Hölle heiß machen.
Ich dachte darüber nach wie es bei seiner Hochzeit war. Ein kleines Wort von ihm reichte schon um mich zum Glühen zu bringen. Damals war sie mit mir. Das war kurz bevor sie nach London mit Dan verschwand und mich zurückließ. Damals erzählte ich ihr das erste Mal, dass ich sie heiraten wollte, obwohl sie sich verlassen wollte. Damals haben wir wieder zusammengefunden. Wenige Monate später habe ich ihr tatsächlich einen Heiratsantrag gemacht und dann hat sie mich wieder verlassen. Für immer. Zurück auf dieser Gott verdammten Welt. Mit dem Gedanken, dass ich schon alles unter Kontrolle haben werde.
Irgendwie hatte ich es noch unter Kontrolle oder nicht? Noch ertrank ich nicht in meinem Selbstmitleid, Depressionen, Frustrationen – im schwarzen Etwas. Noch.
"Harry, ich will nur das Beste für dich", sah Dad mich nun etwas traurig an.
Meine Hände fingen an zuschwitzen, während ich sie unter dem Tisch ineinander drückte. "Warum wolltest du damals nicht das Beste für mich?", sah ich ihn nun an.
"Harry ...", hörte ich Gemmas Stimme sagen.
"Gemma, ich möchte es wissen. Dieses Gespräch ist doch nur fällig." Ich schenkte nun meinem Vater die volle Aufmerksamkeit: "Wieso war ich dir nie gut genug Dad?"
Mein Vater atmete tief aus und sah mich an: "Weil ich ein Arschloch war Harry. Ich wünschte ich könnte alles zurückdrehen. Ich wünschte ich wäre für euch Beide da gewesen."
"Wieso warst du es nie?", hackte ich nach und schluckte stark. "Weißt du wie ich mich damals gefühlt habe? Ich wusste immer, dass du mich nie wolltest. Was an mir ließ dich denken, dass ich weniger wert war als Gemma?" Mein Dad war sprachlos. "Ich möchte nicht die ganzen Dinge hervorheben, denn mit denen musst du für den Rest deines Lebens leben Dad. Ich möchte bloß nur wissen, wieso. Ich möchte den Grund wissen, damit ich endlich abschließen kann."
Er schluckte stark und sah zu Gabrielle. Dann zurück zu mir. "Ich kann es dir nicht sagen Harry." Gabrielle fing neben mir an zu weinen. Mir wurde übel.
Das brachte ich wohl mit mir. In meiner Gegenwart fingen Menschen meistens an zu weinen. Vielleicht war doch ich das Problem.
Enttäuscht sah ich wieder auf meinen Teller und nickte. Meine Serviette legte ich auf den Teller und sah dann zu meinem Vater. "Ich werde dir Nichts mehr vorwerfen, weil ich mich bessern möchte. Noch nie habe ich dich um etwas gebeten. Noch nie Dad. Heute stehe ich vor dir und bitte dich das erste Mal um eine Erklärung, um einen Grund für all diesen Kummer, den du mir bereitet hast. Und den möchtest du mir nicht geben. Ich möchte wirklich damit abschließen Dad, aber ich werde es wohl nie können."
"Ich war schwanger Harry", hörte ich nun Gabrielle neben mir weinen. Sofort drehte ich mich um. "Bevor deine Mutter erfuhr, dass sie dich in sich trug, wussten Des und ich, dass ich ebenfalls einen Jungen in mir trage. An dem Tag, als deine Mutter es deinem Vater sagte, erfuhr ich, dass ich seinen und meinen Sohn verlor. Ich bat deinen Vater darum bei deiner Mutter zu bleiben, weil das, was wir taten unmoralisch war. Dein Vater war verletzt und wütend. Diese Wut verschwand nie."
"Ich weiß, dass das keine Entschuldigung für all das ist oder ein Grund Harry", sprach nun mein Vater. "Ich weiß, dass du Nichts damit zu tun hattest. Es tut mir leid Harry, es tut mir leid, dass ich deine Kindheit zerstört habe. Es tut mir so leid Harry. In den letzten Monaten habe ich erst realisiert, was ich dir antat. Diesen Hass, den du in dir trugst, war meine Schuld und das tut mir leid. Es tut mir so leid, dass ich dir jegliche Freude damals nahm. Es tut mir leid, dass du deinen Geburtstag wegen mir gehasst hast. Und ich weiß keiner meiner Entschuldigungen wird jemals etwas gut machen. Du weißt nicht wie glücklich ich bin, dass du nach all dem hier mit mir an einem Tisch sitzt. Ich war in deiner Kindheit nicht anwesend doch ich möchte es in deiner Zukunft sein. Ich möchte dir durch diese schwere Zeit helfen Harry. Du hattest es nie leicht und jetzt noch der Verlust von Bella-"
Ihr Name.
Der Schmerz in meinem Herzen
Das schwarze Etwas.
Mir wurde übel.
Nun spürte ich das schwarze Etwas in mir hochkommen.
Sofort rannte ich zur nächsten Toilette und übergab das kleine Biss, welches ich vor einigen Minuten zu mir nahm.
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