Siebzehn

Ich wachte langsam davon auf, dass mich jemand an den Schultern rüttelte. Ich ignorierte es und versuchte wieder einzuschlafen, doch als eine Stimme, die mich wohl unwiderruflich aufwecken wollte, andauernd meinen Namen rief und immer lauter wurde, gab ich es schließlich auf. Ich drehte mich zur Seite und stülpte mir ein Kissen über den Kopf.

Wie ich den frühen Morgen hasste.

„Jade!", rief eine Stimme nun lauter und zog mir mit einem Ruck das Kissen vom Kopf.

Das war der Moment, indem ich endgültig wach wurde, und realisierte wo ich war und wer mich weckte.

„Frühstück, Feuerzeug!", säuselte Gabe und lachte.

Ich drehte mich wieder zurück und richtete mich auf. Langsam.

„Wie viel Uhr ist es?", fragte ich verschlafen, ohne auf seine Aussage zu reagieren.

Gabe saß neben mir auf den Knien. Er trug eine schlichte Jeans und ein zerfranstes T- Shirt. Er warf einen Blick auf die Uhr vorne am Auto.

„Kurz vor neun. Wie-...?" „Was?", unterbrach ich ihn mit weit aufgerissenen Augen und ließ mich wieder zurück in die Kissen sinken. „Das ist ja noch mitten in der Nacht!"

Gabe lachte schallend und lehnte sich zurück gegen das Fenster. „Willst du den ganzen Tag verschlafen oder was?"

Ich schüttelte den Kopf und versuchte wach zu werden.

Ach du scheiße.

„Nein, will ich nicht.", sagte ich und richtete mich auf. „Aber erinnerst du dich noch daran, als wir uns im Cross- Café das erste Mal getroffen haben?"

Gabe nickte entspannt.

„Du sagtest du wolltest mich kennenlernen." Ich lehnte meine Kopf gegen das Fenster. „Hier hast du's."

Ein weiteres Lachen von Gabe.

„Es freut mich wirklich ausgesprochen, dass meine Gegenwart dich so sehr amüsiert.", meinte ich und neigte den Kopf.

Ich lehnte mich zur Seite, zur Heckklappe, die weit geöffnet war. Strahlender Sonnenschein begrüßte uns und erleuchtete die ganze Wiese. Gabe hatte bereits die Brötchen, das Plastikbesteck und weiteres Frühstückszeug ausgepackt. Wie lange war er bitte schon wach?

Ich zog meinen Rucksack zu mir heran und wühlte darin nach irgendetwas was ich anziehen konnte. Gabe rutschte zurück und stieg aus dem Bus.

„Dann zieh du dich mal an. Ich esse dir währenddessen die ganzen Brötchen weg."

„Wehe!", drohte ich und zog mich um.

Wenig später saßen wir hinter Gabes Bus und frühstückten. Die Brötchen waren nicht mehr die allerbesten, da sie schon einen Tag zwischen unserem Gepäck eingequetscht gelegen hatten, doch sie schmeckten. Wir hatten im Supermarkt kleine Marmeladen- und Honigproben gekauft, mit denen wir unsere Brötchen bestrichen. Großes abgepacktes Zeug wäre wahrscheinlich nur schlecht geworden.

Ich biss von meinem Körnerbrötchen ab, bis mir Gabes Blick auffiel, der auf mir haftete. Ich erwiderte den Blick und sprach ihn darauf an.

„Was?"

„Nichts!"

„Wieso schaust du mich so an?"

„Tu ich nicht.", entgegnete er. „Erzähl mir von deiner Liste.", schob er noch hinterher. Ich wusste nicht ob es ihn tatsächlich interessierte, oder ob er einfach nur ablenken wollte.

„Was soll ich da erzählen?", sagte ich und setzte mich in einen Schneidersitz.

Er zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Was sind das für Dinge auf deiner Liste? Also was sind die Dinge, die du getan haben möchtest?"

Ich schmunzelte. Es interessierte ihn also tatsächlich. Auch wenn ich es in diesem Moment wahrscheinlich nicht zugegeben hätte, gefiel mir sein Interesse.

„Da stehen eine Menge Dinge drauf." Ich zuckte die Schultern. „Auch einige, wo ich mich frage, wieso ich die aufgeschrieben habe. Ich meine, ich führe die Liste seit ich klein bin, du kannst dir vorstellen, was man da für Ideen hatte." Ich lachte.

„Zum Beispiel?", hakte er weiter nach.

„Keine Ahnung.", ich seufzte. „Du stellst Fragen." Lachte kurz, überlegte aber. „Ich glaube ein Punkt war zum Beispiel, dass ich in einer belebten Stadt zu einem Fremden hingehe und frage, welches Jahr wir haben und wenn er oder sie mir dann sagt in welchem wir sind, renne ich weg und rufe: „Juhu, es hat geklappt!""

Als Gabe begann zu lachen, setzte ich mit ein. Wenn ich so nochmal drüber nach dachte, war es wirklich unglaublich blöd. Blöd aber lustig.

„Aber so schlecht ist das gar nicht.", sagte Gabe irgendwann, als wir uns wieder beruhigt hatten.

Ich zuckte grinsend die Schultern. „Wenn es von mir ist, kann es ja gar nicht so schlecht sein."

Er schüttelte den Kopf, erwiderte aber mein Grinsen und bestrich sich dann ein weiteres Brötchen.

Wir aßen eine Weile schweigend weiter. Ich betrachtete die Klippen und das Meer, welches, wie ich gestern prophezeit hatte, am Tag wirklich unglaublich schön aussah. Man konnte die Wellen bis hier hoch rauschen hören. Es klang wie Musik in meinen Ohren. Ich liebte das Meer. Ein seichter Wind zog über die Küste, welcher allerdings gegen die Hitze nicht viel ausrichten konnte. Hier in der Sonne hatte es bestimmt schon dreißig Grad Celsius, trotz des Morgens.

Ich saß noch barfuß hier draußen im Gras. Es fühlte sich lustig an, die kleinen Spitzen der Grashalme auf meinen Füßen zu spüren. Es fühlte sich real an.

Einen Moment fragte ich mich, was wohl meine Familie gerade tat. Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder. Hatten sie noch ein Gedanken an mich verschwendet? Fragten sie sich wo ich war? Machten sie sich vielleicht sogar Sorgen?

Nein.

Nein, das konnte nicht sein. Es waren nämlich immer noch meine Eltern. Mein Bruder, ahnte wahrscheinlich schon was vorgefallen war, aber wahrscheinlich interessierte es ihn auch nicht weiter. Ich gab Colin keine Schuld, er hatte so ziemlich nichts mit dem Verhältnis von mir und meinen Eltern zu tun, auch wenn er mein gottverdammter Bruder war. Doch er mischte sich auch nicht ein. Ihn kümmerte es nämlich überhaupt nicht was ich trieb. Allerdings konnte ich ihm auch das nicht vorwerfen, denn mich kümmerten seine Angelegenheiten auch nicht. Das Drama mit den Tussen, die er allesamt schon mit nach Hause gebracht hatte. Seltsamerweise fand meine Mutter alle seine Mädchen toll, die er mit zu uns schleifte.

Oder seine dramatische Verletzung nach einem großen Footballspiel, war so ein weiteres Ding. Er hatte sich den Arm verstaucht und war felsenfest davon ausgegangen, dass er gebrochen war. So ein Weichei. Aber es war mir egal. Mich kümmerte meine Familie nicht. Jedenfalls nicht mehr. Ich war nun hier und tat was ich wollte und keiner konnte mich davon abhalten.

„Versprichst du mir etwas?", fragte Gabe irgendwann und riss mich ganz aus meinen Gedanken.

„Was denn?"

Er grinste. Was wollte er denn jetzt schon wieder.

Ich schmunzelte ebenfalls.

„Versprichst du mir, dass du den Punkt auf deiner Liste mit mir erfüllen wirst?"

Ich betrachtete seine Züge um herauszufinden ob er das ernst meinte oder nicht. Das tat er. Er wollte wirklich mit mir in die Stadt gehen und Zeitreisender spielen. Das brachte mich zu einem breiten Grinsen.

„Abgemacht."

Gegen Mittag liefen wir runter zum Strand. Wir wollten uns etwas die Gegend ansehen. Wir hatten unser ganzes Zeug im Bus gelassen und abgeschlossen. Wahrscheinlich durften wir nicht mal auf der Wiese stehen und würden in ein paar Stunden abgeschleppt werden, wenn wir nicht mitten im Nirwana wären.

Wir liefen den ganzen Strand entlang, bis wir schließlich auf einen schmalen Weg stießen, der die Klippen wieder hinaufführte.

„Von da oben haben wir bestimmt einen richtig schönen Ausblick."

„Dann lass uns rauf gehen."

Wir nahem den Weg. Er war nicht besonders sicher. Bei jedem Schritt hatte man das Gefühl, gleiche würden Steine aus dem Fels herausbrechen oder man würde abstürzen, aber wir schafften es. Rechts und links vom Weg befanden sich überall Gräser, die wild wuchsen. Moos hatte sich auf dem Fels gebildet und Blumen blühten rund herum. Es war traumhaft schön. Je höher wir kamen, desto besser konnte man über den ganzen Strand sehen und desto weiter reichte unser Blick.

Schließlich kamen wir oben an. Es war wie eine kleine Aussichtsplattform, nur dass sie natürlich war. Wir standen auf Gras und sogar einige kleine Bäume standen rundherum. Ganz vorne am Rand der Klippen stand eine alte Holzbank. Es war wohl wirklich als Aussichtspunkt gedacht.

„Komm schon!", drängte ich Gabe, der hinter mir lief und ging auf die Bank zu, die nur ein paar Meter vorm Abgrund stand.

Gabe kam hinter mir her und setzte sich neben mich auf die Bank. Vorsichtig schaute ich hinunter. Ich hatte keine Höhenangst. Das auf keinen Fall. Es war sogar so, dass ich die Höhe liebte, denn von dort konnte man viel besser sehen. Doch ich hatte trotz dessen keine Lust hinunter auf die Steine zu stürzen und an den Felsen zu zerspringen.

Ich war unglaublich froh, dass wir hinauf gelaufen waren. Der Ausblick war gigantisch. Wir konnten den ganzen Strand hinunter sehen, bis er sich schließlich bog und irgendwann vor meinen Augen verschwamm. Unter uns rollten die Wellen in großen Zügen gegen die Felsen, die im Wasser standen. Bei jeder Welle spritzte das Wasser hinauf, so als würde es versuchen bei jeder Welle etwas höher zu kommen. Es war traumhaft.

„Schau dir das nur an.", sagte ich irgendwann leise. Meine Stimme klang verträumt.

„Es ist fantastisch."

Wir saßen eine ganze Weile oben auf der Bank und genossen einfach nur den Ausblick. Irgendwann liefen wir wieder den steinigen Weg hinunter und ich musste sagen, der Abstieg war deutlich schwerer als der Weg hinauf. Man musste bei jedem Schritt aufpassen, nicht zu fallen.

Als wir wieder unten am Strand angekommen waren, setzte ich mich wie gestern vorne ans Wasser und streckte meine Füße ins Wasser. Meine Schuhe lagen achtlos neben mir im Sand. Das Wasser kühlte. Eine Welle war so überschwänglich, dass sie mir bis hinauf zum Knie schwappte. Ich rutschte ein Stück zurück und lächelte. Wie schön es hier nur war. Wenn es nur immer so sein könnte.

„Lust zu schwimmen?", fragte mich Gabe irgendwann. Er stand neben mir und schaute auf mich herab.

Ich zeigte zurück in die Richtung, in der Gabes Bus stand. „Ich hab meinen Bikini im Bus gelassen, also-..."

Gabe unterbrach mich, indem er mir mit einem Arm unter die Kniekehle, mit dem anderen unter die Arme griff und mich hoch hob.

Ich lachte überschwänglich. Erst etwas unsicher. Es war komisch ihm so nah zu sein und getragen zu werden. Ich kannte ihn ja schließlich kaum, auch wenn ich ihn, jede Minute, die ich länger mit ihm verbrachte, besser kennenlernte.

„Gabe!", rief ich. „Was tust du?"

„Wir gehen schwimmen!", rief er zur Antwort und lachte.

Ich kreischte leise, als er ins Wasser watete und die Wellen gegen uns peitschten. Ich hatte das Gefühl, desto weiter man die Westküste herunterfuhr, desto höher würden die Wellen.

Auch wenn ich das Wasser zuvor als erfrischend beschrieben hatte, empfand ich es jetzt als kalt, als Gabe noch weiter ins Wasser lief und wir immer tiefer im Wasser versanken.

„Lass mich runter!", rief ich lachend.

Er tat es, doch genau in dem Moment, als eine Welle auf uns zu rollte. Sie haute mich wortwörtlich von den Socken.

Ich lachte schallend als ich wieder auftauchte und diesmal auf beiden Beinen stand.

„Gabe!", rief ich empört und jagte, so schnell es im Wasser ging hinter ihm her.

Ich bespritzte ihn mit Wasser, da er noch immer, fast trocken war.

„Du wolltest schwimmen!", sagte ich laut, sodass er mich gegen das Tosen der Wellen verstehen konnte. „Dann komm!"

Ich watete weiter hinaus, bis ich nicht mehr stehen konnte und schwimmen musste.

Es war erschreckend kalt. Auch wenn ich nicht besonders viel trug bei der Hitze, hatte ich das Gefühl, meine Kleidung würde mich runter ziehen und schwerer machen. Es war ein seltsames Gefühl. Ich schwamm weiter hinaus, bis mich Gabe schließlich eingeholt hatte und ich ihn erstmal unter Wasser tauchte.

„Wofür war das denn?", fragte er dann als er wieder auftauchte. Er schüttelte den Kopf, sodass seine nassen Haare kleine Wassertropfen in der ganzen Luft verteilten.

„Dafür, dass du mich ohne zu fragen einfach hier rein geschleift hast!", lachte ich.

Er grinste und schaute sich auf dem Wasser um. „Ich würde jetzt unglaublich gerne surfen.", sagte er dann.

„Würde ich auch, wenn ich das könnte.", erwiderte ich grinsend und versuchte kein Wasser zu schlucken, als die nächste Welle auf uns zu kam.

„Kannst du doch jetzt.", sagte er und seine Mundwinkel hoben sich anzüglich. „Schließlich hab ich es dir beigebracht. Bekanntlich bin ich ja der beste Surflehrer in ganz Servington."

„Na klar.", antwortete ich und lachte. „Aber weißt du was?", sagte ich danach. „Wenn wir das nächste Mal an einer Stadt vorbeikommen, die nah am Meer liegt, leihen wir uns Bretter."

„Hört sich gut an. Daran werde ich dich auf jeden Fall erinnern!", erwiderte er und lächelte.

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