Neunzehn
Irgendwann brach die Nacht herein und es wurde dunkel. Der Himmel war nicht klar wie in den Nächten zuvor, es hatten sich lange Schleierwolken über dem Himmel verteilt, die uns größtenteils die Sicht auf die Sterne versperrten.
Es war eine ganze Weile still. Keiner sagte etwas. Wir betrachteten lediglich die Umgebung und genossen die Ruhe. Die Stille.
Doch irgendwann ergriff Gabe das Wort: „Erzählst du mir was vorgefallen ist?"
Ich ließ meinen Blick zu ihm wandern und dachte einen Moment nach. Ich ließ mir Zeit mit der Antwort.
Wieso sollte ich es ihm nicht erzählen? Er würde mich dadurch besser kennenlernen und ich ihn durch seine Reaktion. Ich hatte nichts zu verlieren, und außerdem war es mir egal. Mir war meine Familie wirklich vollkommen egal. Es störte mich nicht mehr, was sie sagten, taten oder von mir dachten.
„Ich weiß es selbst nicht genau." Ich zuckte die Schultern. „Meine Eltern sind... Ach ich weiß selbst nicht genau was sie sind. Ich bin nicht die perfekte Tochter, die sie sich gewünscht haben. Ich bin Jade, die mit asozialen Pennern rumhängt, die schlecht in der Schule ist, die nichts tut was gut für die Familie ist und die man, ich zitiere: „Einfach nicht bändigen kann." Jedenfalls haben sie das irgendwann begriffen, oder wie man das auch nennen mag und ab da war ich ihnen egal. Ich konnte tagelang verschwinden und es hat sie nicht gestört. Sie haben mich nicht einmal angerufen und gefragt wo ich bin oder gar an mich gedacht. Ich war ihnen einfach schlicht weg egal. Und dann kam plötzlich die Phase, in der sie dachten, sie müssten etwas ändern. Mich ändern. Sie sind die totalen Kontrollfreaks geworden. Ich weiß selbst nicht wie ich das beschreiben soll. Im einen Moment bin ich ihnen egal und im anderen lassen sie alles an mir aus. Ich würde nicht in diese Familie passen.
Und als ich dann vor ein paar Tagen nach der Arbeit im Pub erst später nach Hause gekommen bin, sind sie ausgerastet. Ich weiß noch immer nicht was sie für ein Problem haben. Sie sagten, sie hätten sich Sorgen gemacht und mich angeschrien, ich sollte mich bei ihnen melden, wenn ich später käme. Das ist das komplette Gegenteil von dem, was sie immer getan haben. Sie haben mich gefragt, was nur aus mir geworden wäre und was nur mit mir geschehen sei." Ich hob die Schultern und schaute ihn fragend an. Atmete aus und schüttelte gedankenverloren den Kopf.
„Und dann bin ich ausgerastet, was ich eigentlich schon viel früher hätte tun sollen. Aber verachtet zu werden und einem egal zu sein, ist besser als kontrolliert zu werden. Ich kann mit Kontrolle nicht leben." Ich machte eine kurze Pause und schaute zu Gabe, der mir einfach aufmerksam zuhörte. Das konnte er. Ich hatte es noch nicht bei vielen Menschen erlebt, dass sie einfach Verständnis zeigten, indem sie zuhörten.
„Ich musste einfach weg. Weg von allem. Von der Normalität, von meiner Familie und von der Realität. Nein,", verbesserte ich mich, „nicht von der Realität, denn das war sie ganz bestimmt nicht. Gabe, das ist die Realität!", ich hob die Arme und zeigte auf die Umgebung. „Das ist es. Das ist was ich will!"
Ich lachte gezwungen auf und ließ mich zurück sinken. Wie bescheuert sich das anhören musste.
„Ich kann dich vollkommen verstehen.", meinte Gabe dann. „Ich glaube, ich hätte das keinen Tag ausgehalten."
Ich nickte und gab ein leises Schnauben von mir. Wer konnte das schon.
Ich zog die Decke zu mir her, die ich vorhin aus dem Auto geholt hatte und zog sie mir über den Schoß. Es wurde langsam kühler.
„Und was ist mit deiner Familie? Wie steht ihr zueinander?", fragte ich irgendwann. Ich wollte mehr über ihn erfahren. Musste mehr über ihn erfahren. Es war fast wie ein Drang, eine Pflicht.
Er legte die Arme in den Schoß. Ich spürte wie er sich verspannte. Falsche Frage?
Doch dann antwortete er: „Meine Familie besteht aus Mutter und zwei Söhnen." Er machte eine kurze Pause und sprach dann leise weiter. „Mein Vater ist vor vier Jahren bei einem Autounfall gestorben. Einfach so. Er ging an einem Tag zur Arbeit, wie jeden Morgen, und kam abends nicht mehr zurück. Wir wurden telefonisch über seinen Tod informiert. Ein LKW hatte ihm die Vorfahrt genommen. Mein Dad war sofort tot." Er schluckte.
Ich sah seine betroffene Miene und musste augenblicklich die Tränen unterdrücken, die in mir drohten aufzusteigen. Er tat mir so unglaublich Leid. Ich erzählte ihm von meinem null- acht- fünfzehn- Problem und sein Vater war tot. Tot. Er würde nie wieder kommen.
Gabes Blick heftete auf der rot karierten Decke. „Es war schrecklich. Wir konnten uns nicht einmal von ihm verabschieden. Er war von einer auf die andere Minute einfach weg. Aus unserem Leben gestrichen. Wir hatten uns immer gut verstanden. Ich hing an meinem Bruder, meiner Mum und meinem Dad, doch dann ist er gestorben und alles wurde anders. Meine Mutter hatte mehrere Zusammenbrüche. Sie war mit allem überfordert. Mein Bruder ist ausgezogen, da er es nicht mehr ausgehalten hat. Man kann es ihm nicht verübeln. Da war er neunzehn. Aber ich bin bei ihr geblieben, bis sie es wieder geschafft hat. Dann brauchte auch ich Abstand und bin ausgezogen, hab mir einen Job gesucht und mir ein Leben aufgebaut, weg von all dem. Ich glaube wir alle haben seinen Tod noch immer nicht ganz verkraftet." Er hob den Blick und sah mich an. „Wenn wir uns wenigstens hätten verabschieden können."
Ich erwiderte seinen Blick. Seine coole, lässige Fassade war auf einmal wie weggeblasen. Er zeigte mir seine verletzliche Seite, was auch ein Teil von ihm war. Das war ein Geschenk.
Ich suchte einen Moment nach den richtigen Worten, konnte sie aber nicht finden. Es war zu viel und doch zu wenig, was mir durch den Kopf ging.
„Das tut mir so unglaublich Leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie so etwas sein mag. Es tut mir so Leid."
Er nickte.
Dann richtete er sich wieder auf und schaute mich an, als wäre nichts gewesen.
„Und wie steht es bei dir? Erzähl mir etwas Positives." Er überlegte kurz. „Erzähl mir etwas von deinen Freunden!"
Ich lächelte. Natürlich hätte ich gerne mehr über ihn und seine Familie erfahren, doch es war okay, dass er nicht wollte. Es musste schwer genug gewesen sein, mir den Tod seines Dads anzuvertrauen.
„Hmm meine Freunde..." Ich überlegte. „Ich bin seit Ewigkeiten mit Lewis Terrell befreundet. Es war einfach Liebe auf den ersten Blick, kann man sagen." Ich lachte. „Freundschaftlich.", schob ich noch hinterher. „Er teilt einfach genau die gleichen Ansichten wie ich und macht so ziemlich jeden Scheiß mit, der mir gerade einfällt. Irgendwann kam Josh dazu. Wir nennen ihn gerne den Cameraboy. Er schleift überall seine Kamera mit hin und macht von uns und allem Fotos. Und sie sind unglaublich gut. Die meisten jedenfalls, wenn sie nicht gerade hässliche Nahaufnahmen von meinem Gesicht sind." Wir lachten.
„Ja und auf der High School haben wir dann Bryan und Phlipp kennengelernt. Also Phlipp heißt naheliegender Weise eigentlich Phillip, aber Bryan hat sich mal der Art versprochen, dass aus ihm Phlipp wurde. Oder Flipper. Aber das ist schon länger her." Ich lachte und über Gabes Gesicht huschte ein Grinsen.
„Und ja. Seit dem hängen wir eigentlich nur noch gemeinsam rum. Wir treffen uns um nachts die Stadt unsicher zu machen, über nervige Mitmenschen zu lästern, auf Partys zu gehen oder meine 100 Dinge Liste zu erfüllen."
„Das macht ihr alle zusammen?", hakte Gabe nach.
Ich nickte. „Ja. Die Jungs machen sich aus wirklich allem einen Spaß und sorgen dafür, dass wir die Dinge auf der Liste erfüllen. Ich glaube, die Hälfte der Dinge auf meiner Liste, habe ich zusammen mit ihnen gemacht. Mit dir habe ich sogar auch schon einige Punkte erfüllt, ohne dass du es wahrscheinlich erfahren hast."
Erstaunt und gespannt schaute er mich an. „Was denn?"
„Rate doch mal."
„Hmm..." Er dachte einen Moment nach und malte mit dem Finger kleine Kreise in den Staub. Dann hob er plötzlich die Hand und schaute wieder zu mir. „Bestimmt das Karaoke Singen. Darauf bist du nicht einfach so spontan gekommen. Bestimmt nicht."
Ich grinste. „Ja, das auch. Aber da waren noch viel mehr. Zum Beispiel ganz unspektakulär Mit einem Fremden ausgehen, Nachts in ein Freibad einsteigen, was allerdings aber wirklich spontan war. Es hat nur zufälligerweise zu deinem Plan gepasst. Und außerdem hast du mir, so weit das bei mir geklappt hat, surfen beigebracht."
Gabe lachte und schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich."
Ich nickte. „Doch."
„Ich habe das Gefühl, dein ganzes Leben besteht aus dieser Liste."
„Das tut es auch. Mehr oder weniger." Ich zuckte die Schultern. „Das ist eben meine Ideologie. Ich glaube erst, wenn ich all die Dinge erfüllt habe, bin ich wirklich frei."
„Dann freut es mich, dass ich Teil deiner Liste sein kann. Teil deines Lebens."
Ich lächelte und hoffte, dass er die Röte, die mir ins Gesicht stieg, nicht bemerkte.
Ich betrachtete ihn einen Moment. Sein schönes Gesicht. Die dunklen Augen, die mich ebenfalls betrachteten. Seine geschwungenen Lippen.
Dann ertappte ich mich bei dem Wunsch, ihn zu küssen. Ich wollte ihn küssen. Er war mir so unglaublich nah. Nicht körperlich, er saß mir lediglich gegenüber, sondern in dem wie er dachte, handelte und sprach.
„Und was ist mit deinen Freunden?", fragte ich dann, um die Stille zu durchbrechen.
„Meine besten Kumpels sind eigentlich Sam, Sawyer und Zac. Mit Sawyer bin ich auch schon fast mein ganzes Leben befreundet, so wie du mit Lewis. Sam MCNois habe ich bei der Arbeit kennengelernt und Zac auf einer Motorradmesse, auf der wir alle mal waren. Wir machen oft Motorradtouren zusammen oder gehen zusammen in verschiedene Pubs." Er grinste mir zu.
„Ach waren das die, mit denen du damals bei mir im Pub warst?"
„Ja genau. Der mit dem Armee- Haarschnitt ist Sam, der große mit den Schwarzen Haaren ist Zac und der andere Sawyer. Ach ja und der muskulöse, gutaussehende, blonde, ja, das war ich." Er grinste breite.
Ich lachte. „Na klar, das musste jetzt wieder sein, oder?"
„Ist doch wahr." Er lachte gespielt selbstverliebt.
Er hatte zwar Recht, aber ihm zuzustimmen und ihm diese Genugtuung zu geben, gönnte ich ihm dann doch nicht.
Wir saßen noch eine Weile draußen und redeten über unsere Freunde, die Arbeit bzw. Schule und Musik, bis der Himmel schließlich ganz zu zog und wir uns wieder ins Auto begaben.
Ein Blick auf die Uhr, die auf Gabes Radio rot leuchtete, verriet mir dass es bereits ziemlich spät war.
„Ich glaube, morgen werden wir nicht das beste Wetter haben.", sagte Gabe und zeigte auf den wolkenverhangenen Himmel draußen.
„Dann können wir den Tag ja für organisatorische Taten nutzen.", meinte ich. „Wir können einkaufen gehen und uns irgendwo eine Dusche suchen, die nicht gerade nach Meerwasser riecht."
„Was hast du denn gegen Meerwasser? Das ist die Natur, Liebes.", neckte er mich gespielt.
„Nichts, aber das Meewasser wäscht deinen Schweiß wohl nicht ganz weg. Du stinkst bis zu mir rüber.", lachte ich.
„Gar nicht wahr.", lachte er ebenfalls.
„Ja, stimmt wirklich nicht.", gab ich nach. „Aber mir wär's trotzdem mal nach einer Dusche."
„Klar, mir auch. Dann haben wir ja schon mal Pläne für morgen."
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