Neunundzwanzig

Meine Augenlider flackerten. Im Hintergrund hörte ich aufgeregte Stimmen. Blaues Licht brach sich in den Regentropfen, die noch immer in Strömen auf den Asphalt prasselten. Ein rot- weiß gestreifter Wagen befand sich in meinem schwachen Blickfeld. Ein Krankenwagen. Ich war wie betäubt von den Schmerzen, die durch meinen Körper zuckten.

Ein Sanitäter lief auf mich zu. Ich konnte kaum erkennen wer es war. Die Person sagte irgendetwas, doch ich konnte nichts verstehen. Das Plastik des Helmvisiers war zerbrochen und schnitt mir in die Haut, doch die Person vor mir, zog mir den Helm vorsichtig vom Kopf.

Wieder sagte jemand etwas. Ich verstand nicht. Mein Kopf war schwer wie Blei und ich konnte nur mit Mühe die Augen offenhalten.

„W-wo ist ...Gabe?", murmelte ich benommen und drehte den Kopf zur Seite, um nach ihm zu suchen. Doch ein stechender Schmerz fuhr mir die Wirbelsäule bis zum Kopf hinauf und mir wurde erneut schwarz vor Augen.

Als ich das nächste Mal erwachte, blickte ich an eine makellose, weiß gestrichene Decke. Ein leises Piepsen im Hintergrund war zu hören. Ich versuchte den Kopf zur Seite zu drehen, doch das erlaubten meine Schmerzen nicht. Ich verzog das Gesicht und versuchte mich ein wenig aufzurichten.

Ich war im Krankenhaus.

Ich war nicht tot!

Ich lebte.

Es hätte auch ganz anders ausgehen können und doch war ich hier. Lebendig.

Neben dem Bett indem ich lag, standen mehrere kleine Schränke aus Buchenholz und links von mir piepste ein kleiner Monitor, mit dem ich verbunden war. Vor mir an der Wand hing ein kleiner Fernseher, auch wenn er nicht sonderlich funktionsfähig auf mich wirkte. An der Wand stand ein ausklappbarer Tisch mit mehreren Stühlen. Auf einem saß ein blonder Typ.

Gabe, dachte ich. Doch als er den Kopf hob und bemerkte ich, dass es nicht Gabe war. Es war mein Bruder Colin.

Als er bemerkte, dass ich wach war, stand er auf und lief zu mir ans Bett.

„Jade!", sagte er sanft und lief zu mir ans Bett. Er schaute mich besorgt an, was komisch war, denn noch nie hatte ich so einen Blick von ihm gesehen. „Wie geht es dir?"

„Ich schätze,-...", versuchte ich es langsam. Sogar das Sprechen fiel mir schwer. „mir geht's genauso wie ich aussehe."

Colin schüttelte lächelnd den Kopf, doch dann schaute er wieder ernst zu mir. Er schien einen Moment zu überlegen und lehnte sich dann, an den Schrank hinter ihm.

Eine Weile war es still. Doch irgendwann fand mein Bruder wieder einige Worte.

„Lewis und Phillip sind im Wartezimmer." Kurze Pause. „Aber sie dürfen nicht rein. Sind ja keine Familienangehörigen."

Dann war es wieder still.

„Wo ist Gabe?", fragte ich. „Wie geht es ihm?"

„Gabe?" Er blickte mich fragend an.

„Gabriel Steel. Der, mit dem ich unterwegs war." Mehr traute ich mich nicht zu sagen.

„Achso, der." Er nickte. „Er ist nur ein paar Zimmer weiter. Ich glaube er hat sich den Arm gebrochen und ne Gehirnerschütterung. Und vielleicht noch ein paar Schürfungen, aber es geht. Jedenfalls hat es dich etwas schlimmer erwischt, denke ich. Mit deinen gebrochenen Rippen, der Gehirnerschütterung und den Plastiksplittern."

,,Kann ich zu ihm?", fragte ich hoffnungsvoll. Ich musste ihn sehen. Musste mich selbst davon überzeugen, dass es ihm gut ging.

,,Ich denke nicht, aber wenn du willst, frag ich nachher mal die Schwester."

Ich nickte leicht.

„Und wieso bist du hier?" Die Frage ging mir durch den Kopf und genauso schnell wie ich sie gedacht hatte, hatte ich sie auch ausgesprochen.

Er schluckte und schaute vom Boden zu mir.
„Hör mal, Jade. Ich weiß, dass es scheiße ist. Es ist echt scheiße." Das war das erste Mal seit Jahren, dass ich ihn „scheiße" hatte sagen hören. „Und ich muss zugeben, dass ich Mom und Dad auch nicht verstehe. Ich meine so schlimm bist du nun auch wieder nicht." Diesen Satz hätte er sich auch sparen können. „Aber ich möchte da auf keinen Fall mitziehen, verstehst du? Ich weiß wir haben uns nie sonderlich gut verstanden, haben nicht mal viel gemeinsam, aber trotzdem ist es falsch, was Mom und Dad da machen. Und du bist immer noch meine Schwester."

Ich wusste nicht was ich sagen sollte, deshalb erwiderte ich seinen Blick einfach. „Danke.", brachte ich schließlich flüsternd heraus und atmete weit aus. Das schmerzende Pochen in meinem Kopf war beinahe unerträglich und meine Rippen fühlten sich an, als hätte jemand ein Messer hindurchgestoßen.

Irgendwann kam eine Krankenschwester hinein, prüfte etwas auf dem Monitor und reichte mir ein Glas Wasser, welches ich unbedingt austrinken sollte. Sie teilte uns mit, dass der Arzt später ebenfalls nach mir sehen würde.

Später kamen dann Phlipp und Lewis herein und Colin ging mit einem „Ich komme morgen wieder." hinaus.

„Scheiße, Jade!", rief Lewis und schüttelte den Kopf. „Wie ist das denn passiert? Die Ärzte wollten uns nichts sagen." Er kam zu mir ans Bett.

„Motorradunfall.", meinte ich kurz angebunden. „Ein Auto kam plötzlich um die Kurve, viel zu weit auf unserer Spur und bei dem Regen war es so rutschig, dass wir voll in die Leitplanke gefahren sind."

„Scheiße, man.", sagte Phlipp, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken.

„Josh und Bryan kommen später auch noch. Bryan is' bei seiner Grandma und muss ne Stunde fahren, bis er hier ist und Josh hat erst spät erfahren, dass du nen Unfall hattest. Wir sind sofort hergefahren, als wir davon gehört haben."

„Aber sag schon, wie geht's dir?"

Ich versuchte ein Lächeln und ließ den Kopf zurück ins Kissen sinken. „Wenn du's genau wissen willst: Mir geht's scheiße."

Lewis grinste besorgt. „Kaum zu übersehen."

Phlipp nickte. „Da muss ich ihm leider zustimmen. Du sahst wirklich schon mal besser aus."

,,Haben die schon gesagt, wann du hier wieder raus kommst?"

"Nein, aber ich hoffe, dass ich nicht all zu lange hier bleiben muss."

Sie nickten und einen Moment herrschte Stille, nur das leise Piepsen des Monitors war zu hören.

„Hört auf mich so anzustarren! Das ist ja beinahe gruselig.", meinte ich nachdem sie mich nahezu mit Blicken durchlöchert hatten. „Erzählt mir lieber irgendwas!"

Und das taten sie. Lewis erzählte, dass er von Simon, der im selben Jahrgang wie wir auf der High School war, gehört habe, dass nach den Ferien, Mr. Roalstad zur Berton High wechselte. Begeistert erzählte er, dass wenn es stimmte, er in seinem Abschlussjahr einen neuen Mathelehrer bekommen würde, der ihm nicht schon aus Prinzip eine Note schlechter geben würde. Und darauf warf Phlipp ein, dass Lewis in Mathe ohnehin verloren wäre, worauf er erwiderte, dass wir das schon sehen würden.

Und es half. Ich schaffte es für einige Zeit, die Schmerzen größtenteils auszublenden.

Später kamen noch Josh und Bryan dazu, die allerdings nicht sonderlich viel Zeit bei mir verbrachten, da alle wenig später vom Arzt aus dem Zimmer gescheucht wurden, mit den Worten, ich würde jetzt Ruhe brauchen. Doch das einzige was ich brauchte war Ablenkung von den Schmerzen, die immer noch nicht besser wurden, und Gabe. Ich wollte Gabe sehen. Doch das erlaubte der Arzt nicht und erklärte mir stattdessen genau, in welchem Stadium meine Gehirnerschütterung war, dass ich mir zwei Rippen gebrochen hatte, sowie einige Schürfungen auf der rechten Seite besaß. Es war auch keineswegs so, dass ich das nicht selbst spürte.

Irgendwann wachte ich davon auf, dass leise die Tür aufschwang und eine große Frau und ein breitschultriger Mann ins Zimmer kamen.

Es waren meine Eltern.

Ich riss die Augen auf, um festzustellen, dass sie es wirklich waren.

„Mum?", fragte ich vorsichtig. „Dad?"

Sie schauten zu mir. Mums strenger Blick war verschwunden. Sie kam einige Schritte auf mich zu und stellte sich mit etwas Abstand neben den Stuhl vor meinem Bett, setzte sich aber nicht hin. Dad stellte sich neben sie.

„Wie geht es dir?", fragte auch sie förmlich.

„Ganz gut.", log ich, noch immer etwas benommen. Ich wollte nur den Grund hören. Wollte nur wissen, wieso sie hier waren.

Sie schwiegen eine Weile. Mum versteckte die Hände in ihrem Schoß und schaute hinab auf den Boden, Dad schaute zur Wand gegenüber. Offenbar wussten sie nicht was sie sagen sollten.

Meine Mutter wusste nicht was sie sagen sollte!

Dann sagte sie etwas, was ich nie erwartet hätte.

„Es tut mir Leid.", sagte sie irgendwann. Ich konnte beinahe sehen, wie sie sich zusammenriss. Sie hob langsam den Blick. Auch Dad schaute nun zu mir. „Es tut uns wirklich Leid."

Ich hätte nie geglaubt, dass ein Unfall, mit dem sie gar nichts zu tun hatten, eine Grund für sie wäre, sich bei mir zu entschuldigen. Hätte niemals geglaubt, dass sie es je tun würden. Was würde jetzt passieren? Würde sich jetzt alles ändern?

„Mir tut's auch Leid.", sagte ich dann. ,,Aber wieso? Wieso jetzt?"

Mom kam näher zu mir ans Bett und setzte sich schließlich vorsichtig auf den Rand des Bettes.

,,Es tut uns wirklich Leid.", wiederholte sie abermals. Ich erkannte sie kaum wieder. ,,Wir haben vorhin einen Anruf erhalten, dass du einen Motorrafunfall hättest, Jade. Dein Vater und ich, wir..." Sie brach ab und suchte die richtigen Worte. ,,Du hattest einen Unfall. Bist verletzt. Und wir haben uns Sorgen gemacht. Uns ist plötzlich bewusst geworden, was wir dir zugemutet haben, dass wir nie für dich da waren. Wenn man bedenkt, was alles hätte passieren können. Du hättest tot sein können!" Sie warf Dad einen leicht verzweifelten Blick zu.

"Ich weiß." Vielleicht hätte ich mehr sagen sollen, doch in diesem Moment wusste ich nicht, was ich hätte anderes sagen können. Ich war zu überrascht.

"Wie geht es dir nun?", fragte nun auch mein Dad.

"Es geht schon.", meinte ich beschwichtigend.

Wir schwiegen eine Weile.

„Colin war hier.", sagte ich irgendwann leise und erschöpft und durchbrach somit die Stille.

„Ach wirklich?", fragte Dad und hob den Blick.

„Ja, das war er. Er hat gesagt, er würde morgen wieder kommen."

„Schön."

Und irgendwann gingen sie wieder, nachdem sie sich bei einer freundlichen Schwester, die herein gekommen war, darüber erkundigt hatten, dass es mir soweit ganz gut ging und dass ich in ein paar Tagen nach Hause kommen würde.

Beide wünschten mir eine gute Besserung, dann gingen sie.

Ich wusste selbst nicht recht, was ich von ihrem Besuch halten sollte, doch ich wusste zu schätzen, dass sie hier gewesen waren und sich entschuldigt hatten. Aber ich stellte mir die Frage, wie es jetzt wohl weiter gehen würde. Ob jetzt alles anders werden würde. Doch ich war zu erschöpft, zu benommen um darüber nachzudenken und so schlief ich wenig später, nachdem sie gegangen waren, ein.

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