Fünfzehn

Er wohnte etwas abseits in einer kleinen Wohnung im zweiten Stock. Gabe zog den Schlüssel aus seiner Jackentasche und schloss die schmächtige Tür auf. Eine goldene Vierzehn prangte darauf.

„Es tut mir Leid. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich aufgeräumt." Er zuckte entschuldigend die Schultern und winkte mich in seine Wohnung.

„Willkommen in meinem Reich."

Gespannt trat ich an ihm vorbei in die Wohnung. Sie bestand lediglich aus drei Zimmern. Einer kleinen Küche, dem Wohnzimmer, welches gleichzeitig auch als Schlafzimmer diente und einem Bad, welches sich wohl hinter der geschlossenen Tür verbarg.

„Cool.", sagte ich begeistert und schaute mich um.

Ich würde sofort hier einziehen, wenn ich die Wahl hätte. Alles war besser, als mit dieser Familie zusammen zu wohnen. Hier standen nicht in jedem Zentimeter hässliche Statuen, die mich anstarrten und nicht aus den Augen ließen, hier waren keine Eltern, die sich einmal einen Dreck um mich scherten und im nächsten Moment ausrasteten, wenn ich fünf Minuten zu spät kam. Das war wirklich cool.

„Ach was.", sagte Gabe und winkte ab. „Es ist ziemlich klein."

„Aber es reicht vollkommen.", folgte ich schnell, warf mein Gepäck achtlos neben der Wand auf den Boden und ließ mich auf die schmale Couch sinken.

„Also ich find's toll hier.", sagte ich und lächelte ihm zu.

Er lachte und sah sich einen Moment um. „Also was brauchen wir alles...",murmelte er abwesend und sah sich um.

Er lief in die Küche, öffnete einige Schränke und packte.

Ich sah mich noch einen Moment um. Auf dem schmalen Couchtisch vor mir lag achtlos eine Fernbedienung, die wohl zu dem kleinen, alten Fernseher gegenüber gehörte. Stifte und Papier lagen verteilt auf dem niedrigen Tisch. Kleine Notizen waren darauf gekritzelt.

An der Wand hing eine große Leinwand auf der ein Berg abgebildet war. Ich rätselte ob er es selbst gemacht hatte. Es war wunderschön. Das Foto bot einen weiträumigen Blick auf das Tal, indem ein langer, schmaler Fluss floss. Die Seiten des Berges waren mit etwas Schnee bedeckt, doch im Tal blühte alles und die Sonne warf ihre Strahlen großzügig auf die breite Landschaft. Ich hatte mich wohl direkt in das Bild verliebt. Es war perfekt.

Direkt neben der Tür stand ein einsamer Stuhl, über dem einige Jacken und ein Schal hing. Daneben lehnte eine braune Westerngitarre. Ein kleiner Schreibtisch stand ebenfalls im Wohnzimmer. Einige Hefte und Bücher waren darauf verteilt und Stifte lagen auch überall. Kugelschreiber, Holzstifte, Eddings. Ein kleines Bild stand eingerahmt am Rand des Schreibtischs.

Ich wollte es mir genauer anschauen und stand auf. Ich nahm das kleine Bild in die Hand und betrachtete es. Ein kleiner blonder Junge rannte mit großen Schritten lachend über eine Wiese. Das Gras war so hoch, dass es dem Jungen fast bis zu den Knien reichte. Der Hintergrund war frei. Grenzenlose Weite erstreckte sich dort.

„Das ist schon ewig her.", sagte auf einmal eine Stimme hinter mir, die mich zusammenzucken ließ. Ich hatte absolut nicht damit gerechnet.

Ich drehte mich um. Das Bild noch immer in den Händen.

Gabe lächelte mich an und nahm mir sacht das Bild aus der Hand.

„Das bin ich, als ich noch ziemlich klein war. Vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Mein Dad hat es gemacht, er hat das Photographieren geliebt." Er machte eine kurze Pause und betrachtete das Bild. ,,Dad hat so ziemlich alles photographiert was ihm unter die Linse kam. Ich habe tausende solche Bilder." Er lächelte und betrachtete einen Moment das Bild. Ich konnte förmlich in seinem Gesicht sehen, wie er daran zurück dachte.

Er hat das Photographieren geliebt.

Was war passiert?, schwebte mir die Frage augenblicklich durch den Kopf, sobald er den Satz ausgesprochen hatte. Doch ich fragte nicht, schließlich hatte ich ihm auch nicht erzählt wie ich zu meiner Familie stand und was passiert war oder passierte.

Ich schluckte, setzte dann aber ein Lächeln auf. Ich wollte jetzt nicht über meine Familie nachdenken. Ich wollte unbeschwert, frei und unabhängig sein und jetzt mit Gabe umher fahren.

„Das Bild ist toll.", meinte ich. „Ich kenne auch jemanden der unheimlich gut photographiert."

Josh Latham.

„Ich bin fast fertig mit packen.", wechselte Gabe schließlich das Thema und stellte das Bild wieder auf den Schreibtisch. „Aber wir müssen noch einiges einkaufen."

„Kein Thema. Wir haben ja Zeit." Ich hatte zur Zeit Sommerferien, also keine Bedenken irgendetwas zu verpassen. Was ich in der Schule sowieso nie tat. Nichts Neues, nichts Nützliches.

„Soll ich dir noch was helfen?"

Gabe überlegte einen Moment und drückte mir schließlich einen Rucksack in die Hand. „Du kannst den Rucksack und dein Zeug schon mal ins Auto packen." Er drückte mir seinen Autoschlüssel in die Hand. Ich schnappte mir schnell mein Gepäck, warf es mir über den Rücken und trat aus der Tür.

Schnellen Schrittes joggte ich die Stufen hinunter und lief schließlich aus dem mehrstöckigen Haus zum Parkplatz, auf dem Gabes kleiner Bus stand.

Mit einem Klick öffnete ich die Heckklappe und verstaute unser Gepäck darin. Ich knallte den Kofferraum wieder zu, verschloss das Auto und trabte wieder ins Haus, die Stufen hinauf, bis ich wieder in Gabes Wohnung stand.

Ich schnappte mir die Decken und Kissen, die gestapelt neben der Tür lagen und packte auch sie ebenfalls unten ins Auto.

Im selben Moment als ich wieder hinauf gehen wollte, kam er mir, alle Hände voll mit nützlichem Kochzeug, seiner Gitarre und eigenem Gepäck entgegen.

Schnell lief ich auf ihn zu und nahm ihm einige Sachen ab.

„Danke.", lachte Gabe und wir verstauten alles grob im Gepäckraum.

„Hast du alles?", fragte ich.

Gabe lehnte sich vor in den Kofferraum und platzierte unser Gepäck so, dass wir noch genug Platz für unsere späteren Einkäufe hatten.

Erst jetzt wurde mir bewusst wie spontan das alles war. Ich war weg gegangen, wir hatten uns zufällig getroffen und wir fuhren los. So schnell ging das. Ein spontaner Roadtrip ins Nirgendwo, mit einem Typen, den ich kaum kannte, der allerdings, nicht zu meinem Leidwesen, ziemlich gut aussah. Zudem war es ein Punkt auf meiner Liste. Nicht, mit einem gutaussehenden Typen unterwegs zu sein, den ich kaum kannte, nein, sondern spontan einen Roadtrip zu machen. Einfach so durchs Land zu fahren und dort anzuhalten wo man wollte, wo es schön war.

„Jepp.", hörte ich ihn leise murmeln. „Dann lass uns losfahren!" Er grinste mir zu, knallte die Heckklappe zu und lief vorne zur Fahrertür. Ich erwiderte sein Grinsen und schwang mich auf den Beifahrersitz.

„Dann los!", rief er, lächelte breit und fuhr los.

Wir fuhren circa zwanzig Minuten bis zum nächsten Supermarkt. Und kauften womöglich mehr als wir brauchten.

Dosenfutter aller Art, einen kleinen Gasbrenner um das Zeug später zu erhitzen, literweise stilles Wasser, Brötchen für das Frühstück morgen und eine Zahnbürste für Gabe, da er so intelligent gewesen war und seine vergessen hatte. Plastikbesteck, Pappteller, sowie kleine Schüsseln, ein paar CDs von Bands, die wir beide mochten, für die Fahrt, Panzertape, falls etwas kaputt ging, eine Lichterkette und eine große Taschenlampe für den Bus, waren ebenfalls Bestandteile unseres Einkaufs.

„Ich zahle.", sagte Gabe und warf noch einen Packen Kaugummis in den Einkaufskorb, den ich schlitternd an der Kasse zum Stehen brachte.

„Nein, nein.", warf ich eilig ein. „Auf keinen Fall!"

„Doch, doch ich-..."

„Wie wär's wenn ich zahle und du gibst mir nachher die Hälfte?", lachte ich. „Dann sparen wir uns das ganze Hin- und Her und müssen beide kein schlechtes Gewissen haben." Ich zückte meinen Geldbeutel und grinste.

Gabe lachte. „Abgemacht."

Draußen luden wir alles in Gabes kleinen Bus. Wir setzten uns einen Moment vorne ins Auto und besprachen, wo wir als erstes hinfahren würden.

„Es wird langsam dunkel.", meinte ich und zeigte zum Fenster hinaus, wo es bereits stark dämmerte und die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand. „Wir sollten für den Anfang nicht all zu weit fahren."

„Ja, du hast Recht.", stimmte Gabe mir zu. „Mach mal das Handschuhfach auf, da müsste eine Landkarte drin sein."

Ich tat was er mir gehießen hatte und öffnete das Handschuhfach. Die Karte fiel mir augenblicklich entgegen.

Ich faltete die Karte auseinander und legte sie anschließend auf die Ablage über dem Armaturenbrett.

„Also hier sind wir,...", murmelte Gabe und tippte mit dem Finger auf die Karte.

„Lass uns doch einfach erstmal irgendwo an die Westküste fahren und dann fahren wir die Westküste so lange runter, bis wir einen Ort gefunden haben wo wir bleiben wollen."

Er fuhr mit dem Finger weiter über die Linie, die den Highway darstellen sollte, bis er schließlich an der Westküste ankam.

„Das ist eine ausgesprochen gute Idee!", lobte er mich gespielt begeistert und grinste.

„Ich weiß.", meinte ich darauf und erwiderte sein Grinsen. „Ich habe immer gute Ideen."

Er lachte, startete den Motor und fuhr los. Er fuhr los. Es ging endlich los. Endlich weg von hier. Weg von unserer Heimatstadt, von meiner Familie, von allem.

Glücklich lehnte ich mich zurück und zog mir die Karte auf den Schoß.

Dort waren die McWay Falls, an denen die Jungs und ich mal einen Tag verbracht hatten und dort oben würden wir ankommen, wenn wir gerade Wegs dem Straßenverlauf folgen würden.

Gabe fuhr direkt wieder auf die Hauptstraße, die wenn man lange genug darauf fuhr, direkt auf den Highway führte.

Ich faltete die Karte wieder zusammen und schob sie zurück ins Handschuhfach. Dann lockerte ich meinen Gurt etwas und kramte hinten in unseren Einkäufen herum.

Als ich eine Weile nicht fündig wurde, warf Gabe einen Blick über die Schulter und fragte: ,,Was suchst du denn?"

„Die CDs, die wir gekauft haben.", antwortete ich leise und wühlte weiter darin herum.

„Achso die.", meinte er und griff neben sich an der Tür in ein schmales Fach. „Die sind hier." Er zog die CDs heraus und drückte sie mir in die Hand.

Acoustic, 70iger und 80iger Rock, Indie, Hard Rock,...

„Okay,...", murmelte ich und breitete die CDs vor mir aus. „Was willst du hören?"

Ich konnte seinen Blick nicht sehen. Er schaute konzentriert auf die Straße.

„Ist mir egal." Er bog auf die Auffahrt zur Autobahn ab. „Überrasch mich."

Ich grinste und öffnete die CD mit den Rock Hits. Vorsichtig nahm ich die CD heraus und schob sie in den Player.

„Rock.", grinste Gabe bereits nach dem ersten Takt.

„Gut erkannt, Blondie!", meinte ich und lehnte mich auf meinem Sitz zurück.

„Nicht so frech, Feuerzeug!", konterte Gabe darauf. Ich lachte.

Ich drehte den Lautstärkeregler auf und genoss die E-Gitarre die in meinen Ohren surrte.

Direkt vor uns ging die Sonne unter. Sie leuchtete in Rot- und Orangetönen und breitete sich auf dem ganzen Himmel aus. Schillernd verschwand die Sonne langsam hinter dem Horizont.

Es sah so unglaublich schön aus.

Ich zog mein Handy aus meiner Jackentasche, die ich noch immer um meinen Bauch gebunden trug und machte ein Foto vom Sonnenuntergang, anschließend eines von Gabe, der konzentriert hinterm Steuer saß und zur Musik im Takt mit den Fingern auf das Lenkrad tippte.

Als ich mein Handy wieder gesenkt hatte und hinter die Handbremse in ein kleines Fach geworfen hatte, meinte Gabe leise: „Lass uns ein Spiel spielen."

Ich schaute zu ihm. „Okay. Was für eins?"

Er räusperte sich. „Ich nenne es, ganz professionell, Ich stelle dir eine Frage, du antwortest und dann umgekehrt."

Ich lachte. „Hört sich gut an. Wir nennen es zwar ‚Wahrheit' oder man stellt sich einfach Fragen, aber das Spiel Ich stelle dir eine Frage, du antwortest und dann umgekehrt gefällt mir besser."

Gabe lachte ebenfalls. „Okay. Ich beginne."

Ich nickte und wartete gespannt auf seine erste Frage.

Er überlegte einen Moment. Ich hatte geglaubt, er würde mich gleich auf meine Familie ansprechen oder wieso ich vor ein paar Stunden so aufgelöst gewesen war, doch er fragte mich etwas anders.

„Was ist dein größtes Geheimnis?"

Ich lachte. Damit hatte ich absolut nicht gerechnet.

„Ich liebe Geheimnisse.", schob er noch grinsend hinterher.

Ich dachte einen Moment nach. „Ich habe keine richtigen Geheimnisse.", sagte ich irgendwann und schüttelte den Kopf.

„Was heißt hier keine richtigen Geheimnisse. Jeder hat Geheimnisse."

„Aha!", antwortete ich. „Dann rück du doch mal mit deinen raus." Ich zog gespannt eine Augenbraue hoch und musterte ihn von der Seite. Sein Haar hing ihm widerspenstig ins Gesicht. Seine dunklen Augen glitzerten im Scheinwerferlicht der Autos, die uns entgegen kamen. Er saß lässig im Sitz.

„Als ich klein war, habe ich mal einen Kugelschreiber geklaut." Rückte er raus.

Ich lachte schallend. „Einen Kugelschreiber.?", stellte ich mehr die Frage. „Einen Kugelschreiber. Gabriel Steel, ist das dein Ernst?"

Er erwiderte mein Lachen. „Ja das ist es!", rief er überzeugend und meinte es wirklich ernst.

„Also ich weiß nicht, ob ich von dir enttäuscht sein soll, dass du klaust oder ob ich dich auslachen soll, dass du einen Kugelschreiber klaust.", antwortete ich sarkastisch.

„Was hast du denn gegen Kugelschreiber?", meinte Gabe grinsend und schaute zu mir herüber.

„Es ist ein Kugelschreiber, Gabe. Du hättest alles klaun' können, was dir vielleicht von Nutzen ist. Aber ein Kugelschreiber! Ich hab sogar mal einen auf der Straße gefunden!", lachte ich und setzte mich nun seitlich, sodass ich ihn anschauen konnte.

Gabe zog einen Schmollmund. „Man." Er zog das Wort in die Länge. „Du bist wirklich anstrengend.", meinte er gespielt beleidigt.

Ich grinste. „Tut mir Leid." Ich zuckte die Achseln. „Das liegt nun mal in meiner Natur.

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