Einundzwanzig

Die Nacht über regnete es wie aus Eimern. Nein, fast wie aus Badewannen. Es wollte fast nicht mehr aufhören zu regnen. Die Tropfen klatschten gegen die Scheiben des kleinen Busses und liefen daran wie Wasserfälle hinunter, versperrten uns die Sicht auf den Sturm. Die Tropfen wirkten in meinen Ohren wie laute Trommeln. In einigen Abständen konnte man es vereinzelt donnern hören, oder einen schmalen, hellen Blitz am Himmel zucken sehen.

Im Wagen war es gemütlich, doch an Schlaf war nicht zu denken. Der Sturm hielt uns wach. Und so saßen Gabe und ich uns gegenüber und erzählten uns Geschichten. Lustige Geschichten von unseren Freunden, Geschichten von früher, als wir noch klein waren oder Geschichten, die wir als Kinder geliebt hatten. Die anfängliche Spannung zwischen uns ließ nach.

Irgendwann beruhigte sich der Sturm und wir wurden so müde, dass wir wohl irgendwann eingeschlafen sein mussten.

Es war überraschend, wie schnell sich hier an der Westküste das Wetter änderte, denn als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster schaute, lachte mir die Sonne ins Gesicht und der Himmel war so blau wie zwei Tage zuvor. Gabe befand sich, wie gewohnt, nicht mehr im Bus, sondern saß draußen mit geschlossenen Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Schwarze In Ears steckten in seinen Ohren und er tippte rhythmisch mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum.

Ich beeilte mich, mich umzuziehen und sprang dann gut gelaunt aus dem Bus. Gabe musste so laut Musik hören, dass er mich nicht hören konnte, denn er schaute nicht auf, als ich neben ihm stand. Schließlich ließ ich mich schwungvoll neben ihn ins Gras sinken und rempelte ihn dabei mit der Schulter an. Er schaute auf und zog sich lächelnd einen seiner Stöpsel aus dem Ohr.

„Na? Auch schon wach?"

„Ja, schon seit Ewigkeiten. Ich wollte nur nicht früher als du aufstehen, damit du deinen Posten als ‚Frühaufsteher' nicht aufgeben musst, wo dir ja so viel daran liegt.", sagte ich und grinste verschmitzt.

„Klar." Er schüttelte grinsend den Kopf. „Verständlich."

Nachdem wir gefrühstückt hatten und noch etwas in der Sonne gelegen hatten, fuhren wir weiter.

Die Westküste zog an uns vorbei wie ein Film, bis wir schließlich wieder etwas ins Landesinnere fuhren und uns ein grünes Schild in eine Stadt führte. Sie sah fast aus wie Servington, die Stadt in der wir wohnten. Viel befahrene Straßen, schnuckelige Cafés, Boutiquen und Kleiderläden.

Irgendwann beschlossen wir, in einem kleinen Restaurant mitten in der Stadt, zu Mittag zu essen. Gabe parkte den Bus auf einem kleinen Parkplatz gegenüber einer Apotheke. Wir stiegen aus und liefen auf dem Bürgersteig einige Meter, bis wir schließlich vor dem Restaurant ankamen und eintraten.

Einige Leute hatten sich um runde Tische mit Eckbänken versammelt und redeten laut miteinander. Es sah so aus, als wären die Leute, die hier saßen, öfter hier. Das Restaurant war schön eingerichtet. An einigen Stellen der Wand, konnte man Backsteine sehen, Holzbalken verbanden Wand und Decke und ein großer Kronleuchter hing in der Mitte des Restaurants. Ich fühlte mich auf der Stelle wohl.

Gabe ließ sich weiter hinten auf eine Holzbank, bei einem freien Tisch, sinken. Ich setzte mich ihm gegenüber.

Er griff nach der Speisekarte und vertiefte sich darin. Währenddessen schaute ich mich um. 13: 07 Uhr, zeigte eine alte Holzuhr an, die über dem Tresen und somit vor dem Eingang der Küche hing.

Wie schnell die Zeit nur verging.
Aber wir hatten Zeit.

Wir hatten alle Zeit der Welt.

„Was nimmst du?", fragte ich, als Gabe fertig war und mir die Speisekarte reichte.

„Das Schweinemedallion mit Champignons."

„Hmm, du lässt es dir aber gut gehen.", sagte ich und nahm ihm die Speisekarte aus der Hand.

„Aber hallo. Wenn wir hier schon in einem Restaurant essen, esse ich doch nicht nur eine Portion Pommes."

Ich grinste. „Auch wieder Recht."

„Hey!", rief ein Typ, der uns sichtlich überraschte. „Woher kommt ihr denn?"

Ich hob den Blick und sah einen dunkelhaarigen Typen, der ungefähr in unserem Alter war. Vielleicht etwas älter. Er lehnte sich über die Lehne der Eckbank, die uns voneinander trennte.

„Aus Servington. Ist ne Kleinstadt. Weiß nicht ob du das kennst.", ergriff Gabe das Wort.

„Doch, doch. Kenne ich. Das hat man sofort gehört, der Akzent ist einfach unverkennbar." Er lächelte, worauf sich kleine Grübchen auf seinen Wangen bildeten. Er wirkte sehr sympathisch. Die anderen, die mit ihm am Tisch saßen, hatten sich ebenfalls umgedreht und lauschten dem Gespräch.

„Das hört man?", fragte ich und senkte die Karte.

„Ja, schon. Ich habe alte Bekannte aus der Gegend. Daher eben."

„Achso.", meinte ich. „Und woher kommen die genau?"

„Ich bin nicht sonderlich gut darin, mir Städtenamen und auch Namen an sich zu merken, deshalb kann ich's dir nicht genau sagen.“ Er lächelte und hob entschuldigend die Schultern. “Aber ich glaube nicht, dass das sonderlich weit weg von eurer Stadt entfernt ist." „Und was führt euch hier in dieses Kaff?"

„Wir machen einen Roadtrip. Sind die Küste runter gefahren und haben ein bisschen den Wilden Westen erkundet. Eigentlich sind wir nur zufällig hier. Nichts geplantes.", sagte Gabe.

„Das klingt toll. Wollte ich auch schon immer mal machen." Er lächelte. „Nur nicht hier. Irgendwo im Ausland."

„Ja, das wäre natürlich auch was."

„Und was macht ihr hier so? Gibt es in diesem Kaff irgendetwas, was man gesehen haben muss oder was man unbedingt tun sollte?", schaltete ich mich wieder ein.

„Außer dem Softeis am Ende der Straße, kann ich euch leider nichts empfehlen.", lachte er. „Tut mir Leid."

„Doch, doch.", meinte ein anderer von dessen Tisch. „Nicht weit von hier ist ein mega geiles Festival. Das Hollow Noise Festival. Das ist schon in zwei Tagen. Wir gehen auch hin, nur zwei unserer Truppe können leider nicht mit, weil der eine mit nem' gebrochenen Bein zu Hause liegt und die andere krank ist."

„Warte!", meldete sich der andere wieder hastig zu Wort. „Was habt ihr die nächsten Tage vor?", fragte er geheimnisvoll.

„Soweit noch nichts. Das machen wir immer ziemlich kurzfristig."

„Ihr könnt doch auch hingehen. Das ist echt nicht weit von hier und ihr bekommt von uns die beiden Karten. Die kosten ca. 200$."

Ich und Gabe tauschten einige Blicke. Nicht abgeneigt, aber unsicher.

„Was ist das für ein Festival?", fragte schließlich Gabe.

„Eines der besten in den ganzen USA, finde ich. Das ist ein riesiges Gelände, mit verschiedenen Aktivitäten, die man machen kann und fast überall gibt es Bühnen, auf denen Bands auftreten, mit den verschiedensten Musikrichtungen. Da gibt es alles. Aber das Beste ist das Nachtleben dort. Jeder trägt irgendwelche kleinen Lämpchen oder Lichterketten an sich. Und sogar nachts, treten dort bis vier Uhr morgens Bands auf. Da gibt es die verschiedensten Leute und alle sind offen und gut drauf. Hollow Noise ist ein Muss, ich sag's euch." Er grinste. Schwelgte wohl in Erinnerungen.

Doch, das hörte sich gut an. Es hörte sich unglaublich gut an. Und es machte mich so neugierig, dass ich hinwollte. So war es auch, nach einer kleinen Überlegung mit Gabe. Wir waren uns schnell einig.

Zwischendurch kam eine Bedienung und nahm unsere Bestellung auf. Mein Magen knurrte, als hätte er seit Tagen nichts zu essen bekommen.

Die Jungs zeigten uns auf ihrem Handy einige Bilder von der Website des Festivals. Sie sahen vielversprechend aus. Glückliche, feiernde Leute, kleine, halboffene Gebäude aus Holz, den Festivalplatz voller Zelte, Autos und Wohnwägen und und und.

„Für 400$ könnt ihr sie haben."

Gabe und ich wechselten einen letzten Blick.

„Die Chance kriegt ihr nicht nochmal. Alle Tickets sind bereits seit Wochen ausverkauft.", schaltete sich ein strohblondes Mädchen ein, welches mit den Jungs am Tisch saß.

„Abgemacht."

So spontan war ich schon lange nicht mehr gewesen. Völlig fremden Leuten zwei Tickets abzukaufen, um zu einem Festival zu fahren, von dessen Existenz wir bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts gewusst hatten. Doch es fühlte sich gut an. Wir waren nämlich nicht mehr von irgendetwas abhängig. Wir konnten tun und lassen was wir wollten. Das sagte ich mir immer wieder. Und es fühlte sich toll an.

Am Nachmittag bummelten wir gemeinsam durch die Stadt und machten einige Einkäufe. Wir kauften weitere Lebensmittel in Dosen oder Plastik verpackt, Lichterketten, zwei Cowboyhüte, eine Sonnenbrille für Gabe, da er seine zu Hause vergessen hatte, im dunkeln leuchtende Körperfarbe, und andere Dinge, die wir fürs Festival gebrauchen konnten.

Die Nacht verbrachten wir auf einem abgelegenen Parkplatz, etwas außerhalb der Stadt. Wir wollten vor dem Festival, nicht mehr all zu weit weg.

Am letzten Tag vorm Hollow Noise Festival verbrachten wir hauptsächlich im Stadtpark. Wir holten uns zwei Waffeln mit Erdbeer- und Schokoladeneis, von einem rot lackierten Eiswagen, der durch den Park fuhr und alle zwei Meter anhielt um welches zu verkaufen.

Mit dem Eis in der Hand setzten wir uns auf eine Parkbank neben einem kleinen Teich und genossen die Wärme der Sonne, die auf unserer Haut prickelte. Ich sah den Enten zu, die in kleinen Schwärmen auf dem Teich herum paddelten und betrachtete das Schilf am Rand des Teiches, welches sich im seichten Wind wiegte.

„Glaubst du irgendjemand sucht bereits nach uns?", fragte ich nach einer Weile und wendete den Blick zu Gabe, der breitbeinig neben mir in der Sonne saß und sein Eis schleckte.

„Ich hab mein Handy seit wir losgefahren sind nicht mehr eingeschaltet, aber ich denke, da müssten schon einige entgangene Anrufe drauf sein. Von meinen Freunden oder meiner Mutter. Ich besuche meine Mutter normalerweise einmal in der Woche. Sie wird sich sicher fragen wo ich bin. Aber ich bin erwachsen. Was will meine Mutter da schon machen? Sie wird einfach warten, bis ich wieder auftauche." Er zuckte die Schultern. „Denkst du etwa nicht, dass deine Eltern dich suchen werden?"

„Das ist schwer zu sagen. Je nach dem in welcher Phase sie gerade stecken.“, sagte ich ironisch. ,,Entweder ist es ihnen scheiß egal was ich mache und sie sind froh, dass ich weg bin oder sie haben längst die Polizei verständigt, die auf die Suche nach einem „verzogenen Teenager" sind." Ich erzwang ein Lächeln und schüttelte den Kopf. Das alles passte nicht zusammen.

„Aber weißt du was? Es ist mir egal. Mich stört es nicht mehr. Denn sobald ich achtzehn bin, bin ich frei und kann tun und lassen was ich will. Dann ziehe ich aus und bin endlich unabhängig."

Gabe nickte, aber ich sah, dass er über meine Worte nachdachte. Aber er antwortete nicht.

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. Einige Leute spazierten durch den Park, warfen sich ein Frisbee zu oder lagen mit einem Buch in der Hand in der Sonne.

Plötzlich kam mir eine Idee.

Schnell sprang ich auf die Füße. „Komm schon. Ich hab eine Idee!", rief ich.

Gabe richtete sich auf und sah mich fragend an. „Was denn?"

„Komm schon. Lass uns Zeitreisende sein!"

Wieder Kind sein.

Er verstand und ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht. Ich zog ihn am Arm auf die Füße und lief neben ihm den schmalen hell geschotterten Weg entlang, bis wir auf einen Mann mittleren Alters trafen. Er besaß einen dunklen drei Tage Bart und trug eine dunkelblaue Brille. Er trug ein blau kariertes Hemd, mit kurzen Ärmeln und eine Hose, die ihm bis knapp oberhalb der Knie reichte. Seine Füße steckten in schwarzen Sandalen. Er sah aus, wie der Vater vieler Kinder. Erschien mir nett und freundlich. Gabe und ich liefen auf ihn zu.

Ich hob die Hand, um ihm ein Zeichen zu geben, dass wir mit ihm reden wollten.

„Entschuldigt!", rief ich, als wäre er ein Herzog, den man mit Ihr einsprechen musste.

Verwundert blieb der Mann stehen.

„Könntet Ihr uns das heutige Datum verraten?", setzte Gabe einen drauf. Ich konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken.

„Heute ist der 17. August.", antwortete der Mann schlicht.

„Und in welchem Jahr befinden wir uns?", fragte ich mit hoffnungsvollem Blick.

Gabe unterdrückte neben mir ein Grinsen.

„2018, wieso-...?"

„Arthur!", rief ich begeistert und unterbrach somit den Satz des Mannes. „Arthur, es hat funktioniert!"

Ich stürzte mich begeistert in seine Arme. Gabe erwiderte die Umarmung und sagte: „Ja, Elizabeth. Es hat funktioniert!"

„Vielen Dank, Sir.", rief ich schnell über meine Schulter, als ich schon Gabes Hand gepackt hatte und mit ihm den schmalen Feldweg davon rannte.

Wir hätten den Punkt zusammen erledigt, wie versprochen. Und ich hätte ihn mit keinem anderen Menschen lieber erfüllt.

Als wir aus dem Park draußen waren lehnten wir uns gegen eine Hauswand und konnten das Lachen nicht mehr unterdrücken. Schallend brachen wir in Gelächter aus.

„Das Gesicht.", lachte Gabe und lehnte den Kopf zurück gegen die Hauswand. „Dieser Gesichtsausdruck. Den hätten wir festhalten müssen. Einfach genial."

„Elizabeth und Arthur.", lachte ich und rang nach Luft. „Allein diese Namen stammen aus einem anderen Jahrhundert."

„Jetzt verstehe ich, wieso du diese Liste hast.", sagte Gabe nach einer Weile, nachdem wir uns wieder eingekriegt hatten. „Das ist genial!"

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