Eins

Ich stolperte aus dem Bus und schulterte meinen Rucksack. Ein Typ mit einem "geh mir aus dem Weg oder du bist tot"- Blick stapfte an mir vorbei. Ich machte mir über solche Leute keine großen Gedanken, auch wenn mich manche zur Weißglut bringen konnten.

Die anderen Schüler stürmten hinter mir her aus dem Bus, die meisten waren Kinder. Ich hatte es satt mit diesem Kidsbus jeden Morgen zur Schule zu fahren, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich war zwar siebzehn und hatte vor einem Jahr meinen Führerschein gemacht, hatte jedoch kein Auto. Und meine Eltern wären in hundert Jahren nicht so nett und würden mir eines ihrer drei Bonzenautos leihen. Nicht über ihre Leichen. Und selbst hatte ich kein Geld, um mir eines zu kaufen.

Ich hatte schon oft darüber nachgedacht mir einen Nebenjob, den ich etweder in den Ferien oder abends nach der Schule machen könnte, zu besorgen, doch ich musste sagen, ich glaubte niemand wäre froh mich als Angestellte in ihrem Laden zu haben. Niemand würde mich auch nur mit einem Tablett voll Essen durch die Gasthäuser und Kantinen spazieren lassen, denn es lag auf der Hand dass ich wieder Ärger machen würde, wie sie sagten. Vielleicht würde ich den Kunden ja das Essen über den Schoß kippen? Aber es war mir egal. Mein Ruf war mir wirklich egal, denn alles was zählte war, dass ich zufrieden war und das war ich größtenteils. Ich tat was ich wollte und das war auch gut so.

Ich stapfte den schmalen Betonweg entlang, der zu unserer Schule führte. Die Kids hinter mir rannten schreiend in die Gegengesetzte Richtung, zur Grundschule. Sie konnten nur von Glück reden, dass sie in einem anderen Schulgebäude als ich untergebracht waren, denn wenn mich ein kreischendes Kind auf dem Weg zum Unterricht, was ja so wie so schon schlimm genug war, umgerannt hätte, weil sie meinen an jedem Ort der Welt Fange spielen zu müssen, dann wollte ich ihnen nicht erzählen was dann geschehen würde.

Ich lief durch das Schultor und direkt in die Hölle. Jeden beschissenen Tag saß ich in diesem Kasten und hörte mir mindestens sechs Stunden das öde Gerede der Lehrer an, die sich für etwas besseres hielten, nur weil sie älter waren als wir. Und sinnvolle Dinge lernten wir hier auch nicht. Nichts was man fürs Leben wirklich brauchte. Nichts was uns nützen würde.

Seufzend lief ich zu meinem blau lackierten Spind und kramte meine Bücher daraus hervor, als sich eine große Hand auf meine Schulter legte.

"Hey, Babe.", hörte ich Bryan seuseln. Ich drehte mich mit einem Grinsen auf den Lippen um. 

"Nenn' mich noch einmal so und du wünschst dir nie geboren zu sein."

Er grinste nur und schaute hinter sich, als plötzlich von draußen ein dumpfer Knall ertönte.

Josh, Phlipp und Lewis kamen gröhlend angerannt.

"Wir haben draußen auf dem Hof 'ne Deodose in die Luft gejagt!", lachte Phlipp und stützte sich mit einer Hand an einer Spindtür ab.

Phlipp hieß eigentlich Phillip, doch seit sich Josh einmal versprochen hatte und Phlipp zu ihm gesagt hatte, trug er mehr oder weniger stolz diesen Spitznamen.

"Seid ihr behindert?", fragte ich und schüttelte lachend den Kopf. "Wenn ihr so weiter macht, fliegt ihr so was von, von der Schule." Ich gab meiner Spindtür einen Stoß, sodass sie krachend zufiel.

"Ach was.", meinte Lewis locker. "Einbisschen Spaß in diesem Kasten, soll uns doch gegönnt sein."

Sie lachten, während ich meine Bücher in der Tasche verstaute und mich auf den Weg zum Deutschkurs machte, als die Schulglocke ertönte. Gemächlich und sichtlich begeistert lief ich zur Tür hinein und lies mich auf den nächst besten Platz fallen, der nicht gerade in der ersten Reihe war.

"Hi, ich bin Lorence.", hörte ich jemanden neben mir sagen.

"Hi", gab ich als Antwort und drehte mich wieder nach vorne.

"Und du bist?", schob er drücken hinterher.

"Jade.", antworte ich mürrisch.

"Freut mich auch, dich kennen zu lernen.", sagte Lorence zähneknirschend und drehte sich ebenfalls mach vorne.

"Gleichfalls."

Ich sah wie er sich durch die kurzen, blonden Haare fuhr und dann etwas auf seinen Block kritzelte.

Meine Mutter nannte mich immer unhöflich, aber was sprach schon dagegen jemandem zu zeigen, dass man keine Interesse daran fand, mit dieser Person zu reden? Und das fand ich wirklich nicht. Nicht in diesem Raum, nicht um diese Uhrezeit und nicht mit diesen Leuten.

Ich lehnte mich zurück gegen die Lehne des Stuhls und tippte mit den Fingerspitzen gedankenverloren auf der Tischplatte herum, als Lorence mich nochmal etwas fragte.

"Hast du heute irgendwie schlechte Laune oder so?", fragte er.

Langsam drehte ich mich in seine Richtung und zog eine Augenbraue hoch. "Nein. Sehe ich etwa so aus? Ich habe heute ausgesprochen gute Laune.", sagte ich und verzog keine Miene.

"Ich bin mir irgendwie nicht ganz sicher, ob du das sarkastisch gemeint hast oder nicht."

Ich zuckte mit den Achseln. "Das kannst du dir aussuchen.“

Als Mrs. Spark herein kam, war es jedoch vorbei. Sie begann gleich damit, mit dem Stoff weiter zu machen. Gedichtsinterpretationen der üblen Art. Irgendwann wurde es mir dann allerdings wirklich zu blöd und ich zog mir meine schwarze Mütze tiefer ins Gesicht, sodass Mrs. Spark meine geschlossenen Augen nicht sehen konnte.

Es polterte, als mein Kopf auf den Tisch knallte und ich plötzlich aufwachte. Ich schreckte hoch und schaute mich um. Schüler die mich mit seltsamen Blicken musterten. Einige lachten. Ich musste wohl eingeschlafen sein.

Mrs. Spark begutachtete mich grimmig.

"Nehmt bitte die Mütze herunter, Mrs. Wrong.", sagte meine Englischleherin.

Seufzend zog ich die schwarze Mütze vom Kopf, die nun meine feuerroten Haare enthüllte.

"Es würde mich freuen wenn Sie wenigstens etwas Interesse am Unterricht zeigen würden, denn ansonsten muss ich Sie leider aus dem Kurs werfen.", schob sie noch hinterher und drehte sich wieder zur Tafel.

"Sind die gefärbt?", fragte Lorence neben mir und griff sacht nach einer roten Haarsträhne.

"Nein, sind sie nicht!", antwortete ich so leise, dass nur er es hören konnte. "Als würde ich mir die Haare so färben!"

Ich hatte nichts gegen meine Haarfarbe, sie gab mir irgendwie etwas Spezielles, etwas womit ich auffiel, aber es wäre ganz sicher nicht die Farbe, die ich mir aussuchen würde, wenn ich mir meine Haare färben würde.

Lorence ließ, zu meiner Erleichterung, von mir ab und schaute zur Tafel.

Die Stunde ging recht schnell vorbei, wie ich feststellte, als es wenige Minuten später zum Stundenwechsel läutete. Ich musste wohl ziemlich lang geschlafen haben.

Als es klingelte stand ich so schnell es ging auf und lief zur Tür hinaus. Auf dem Gang begegnete ich Josh. Ich grinste und nickte ihm zu.

Er kam auf mich zu und fragte: "Und wann führen wir den nächsten Punkt auf deiner Liste aus?" Er legte seinen Arm um meine Schultern, während wir den Gang entlang liefen, auf dem nun so ziemlich die ganze Schule unterwegs war.

Er meinte die "100 Dinge"- Liste. Seit meiner Kindheit führte ich eine Liste, die ich immer weiter aufbaute, bis es schließlich hundert Punkte geworden waren. Früher hatte ich mir geschworen diese Dinge zu erfüllen bevor ich achtzehn war, bevor ich frei war. Und jetzt halfen mir meine Freunde dabei diese Dinge zu erfüllen. Mit ihnen konnte man so ziemlich jeden Scheiß anstellen. Sie waren für alles zu haben.

"Keine Ahnung, wann habt ihr denn alle Zeit?"

"Ganz, wann die Lady wünscht." Er grinste.

Nach der Schule quetschte ich mich wieder in den übervollen Bus und war in großer Versuchung ein Kind aus der Bank zu ziehen und mich hinzusetzten. Der Bus war seit Anfang des Jahres so überfüllt, dass sogar manchmal einige nicht in den Bus passten. Einmal war er sogar fast nicht den Minsterhill hinauf gekommen, da zu viele Menschen im Bus waren und er somit zu schwer war. Ich hatte gelacht und mir heimlich gewünscht er würde nicht hinauf kommen, um eine Ausrede zu haben, nicht zur Schule gehen zu müssen.

Ja, ich hasste die Schule. Wieso? Weil ich mir nicht gerne von irgendwelchen Leuten etwas vorschreiben ließ. Es lag einfach in meiner Natur, dass ich das tat was ich wollte, egal was von mir erwartet wurde.

Meine Eltern waren wahrscheinlich ein großer Grund für meine Einstellung. Immerzu erwarteten sie, dass ich die perfekte Tochter abgab. Doch das war ich nunmal nicht. Es hieß immer: "Jade, wieso kannst du nicht einmal vernünftig sein? Nimm dir ein Beispiel an deinem Burder." oder "Jade, kannst du nicht einmal das tun was man von dir verlangt!?". Das konnte ich nicht ausstehen. Vorallem nicht wenn sie mich mit meinem Bruder verglichen.

Meine Eltern hatten ihren perfekten Sohn. Colin war zwei Jahre älter und tat genau das was von ihm erwartet wurde. Er hatte gute Noten, sprach sich immer mit meinen Eltern ab, spielte Football und hatte fürs College ein Sportstipendium bekommen. Sie liebten ihn dafür. Meine Eltern hatten immer zu den Drang perfekt zu sein und ich war das einzige Hindernis für ihr perfektes Image. Ich war Jade, die schlecht in der Schule war und Jade, die sich unmöglich benahm und Jade, für die man sich schämen musste. An mir prallten ihre Worte Tag für Tag ab. Ich ging ihnen aus dem Weg so gut es ging und das störte sie auch nicht.

Als der Bus an meiner Haltestelle hielt, stolperte ich gedankenverloren aus dem Bus und lief den schmalen Gehweg entlang, der zu unserem Haus führte. Ich erblickte schon die makellos weiß gestrichene Hauswand und den riesigen Garten mit den kleinen, hässlichen Statuen, die meine Mutter, leider Gottes, sammelte. Wir besaßen die Statuen in allen Größen und doch sahen sie immer klobig aus. Sie waren meist aus Marmor oder Stein und passten absolut nicht zur Einrichtung unseres Hauses oder gar zu irgendetwas. Sie waren einfach hässlich, auch wenn meine Mutter sich das nicht eingestehen wollte. Ich kam mir immerzu wie in einem Museum vor, wenn ich das Haus betrat.

Aus meiner Jackentasche zog ich den silbernen Hauschlüssel und öffnete die Haustür. Im Flur ließ ich meinen Rucksack auf den Boden sinken.

"Kannst du bitte deine Tasche aus dem Weg räumen? Durch dich sieht das Haus immer aus wie eine Müllhalde.", hörte ich meine Mutter aus dem Wohnzimmer sagen, die mich aus dem kleinen Fenster, dass zwischen Flur und Wohnzimmer angebracht war, beobachtete.

Ich verkniff mir ihr zu sagen, dass nicht durch mich das Haus aussah wie eine Müllhalde, sondern durch ihre Sammlung an hässlichen Statuen.

Seufzend hob ich meine Tasche auf und brachte sie hinauf in mein Zimmer.

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