Dreiundzwanzig

Oben auf dem Wagen wurden wir sofort von verschiedensten Leuten umringt und angesprochen. Einige hielten mir ein Getränk hin oder wollten mit mir tanzen. Bei einigen ließ ich mich drauf ein. Ich ließ alle Bedenken von mir Abfallen und hatte Spaß.

Die Sonne verschwand wenig später ganz hinter dem Horizont und überließ uns die fröstelnde Dunkelheit. Die Tage waren heiß, die Nächte frisch. Doch nachts konnte man endlich wieder richtig atmen. Frische, kühle Luft.

Das Mädchen, welches uns zuvor auf den Wagen gelockt hatte, kam nun wieder auf mich zu. Mit einer in allen Farben blinkenden Lichterkette in der Hand.

„Ich bringe dich zum Leuchten!", lachte sie und wickelte mir die Lichterkette um den Hut. „Damit wir dich sehen können." Sie hatte definitiv etwas zu viel gehabt.

Sie hob ihren Becher und stieß gegen meinen. „Auf das Hollow Noise! Die beste Zeit im Jahr.", rief sie und blickte mich warm an.

„Auf das Hollow Noise!", antwortete ich und lachte.

Wir tranken und darauf zog sie mich hektisch zu einigen großgewachsenen Leuten. Zwei hübsche Blondinen und vier Kerle die am Geländer lehnten.

„Ich stelle dir meine Freunde vor.", sagte sie und zog mich mit.

Die Zeit verging schneller als ich sie einschätzen konnte. Ich plauderte mit einigen Leuten, tanzte und betrachtete die leuchtenden Menschen, die unter uns über das Festivalgelände spazierten.

„Wo ist Gabe?", fragte ich irgendwann die Brünette, deren Namen ich nicht einmal kannte und schaute mich zu allen Seiten um.

„Wer ist Gabe?"

„Mein... Der Blonde, mit dem ich hergekommen bin." Mir stieg die Röte ins Gesicht.

„Ach der...", sagte sie und lehnte sich gegen das nicht gerade stabil wirkende Geländer. „Keine Ahnung." Sie wandte sich wieder ihren Leuten zu.

Na toll.

Jetzt hatte ich den einzigen, den ich kannte, in der Menge verloren. Ich kämpfte mich zwischen den bunten Leuten hindurch und reckte den Hals. Eine Zeit lang stand ich einfach nur in  der Mitte des Balkons und dreht mich zu allen Seiten um, um die Menge nach Gabe abzusuchen.

Schließlich fand ich ihn. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Einen Moment hatte ich wirklich geglaubt, ich hätte ihn im Trubel gänzlich verloren. Er stand neben einem breitschultrigen Kerl, der ein blaues Bandana um den Kopf geschlungen und ein zerfetztes grünes T- Shirt trug. Zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt er lässig eine Zigarette. Sie redeten miteinander als würden sie sich bereits kennen.

Ich hob einen Arm und rief seinen Namen. Gabe drehte den Kopf und entdeckte mich auf der Stelle. Seine Miene hellte sich in derselben Sekunde auf. Ein warmes Kribbeln machte sich in mir breit und ich spürte wie sich mein Wangen röteten. Erneut. Ich versuchte das Gefühl abzuschütteln und lief auf ihn zu.

Er breitete die Arme aus und lief auf mich zu. Ich lächelte und ließ mir von ihm den Arm um die Schultern legen.

„Matt, das ist Jade, meine treue Begleiterin." Er zog mich näher zu sich und machte eine schnelle Handbewegung in die Richtung des blonden Kerls. „Jade, das ist Matt. Er ist früher mit mir auf die High School gegangen."

„Hey Matt.", sagte ich und lächelte ihm zu.

„Hey.", antwortete er und erwiderte mein Lächeln.

„Schon krass oder? Dass man sich hier wieder trifft."

Ich nickte.

„In 'ner halben Stunde ist unten an der Main Stage ein richtig geiles Konzert. Habt ihr Lust mitzukommen?", fragte Matt und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Er blies schmale Rauchringe in die Luft.

Ich schaute zu Gabe. „Also ich bin dabei."

„Gut, dann auf zur Main Stage."

Matt schnappte sich seine drei Kumpanen. Einen breiten, dunkelhäutigen Kerl, ein schüchtern wirkendes Mädchen mit langen Beinen und eine andere, die an der Seite des Schwarzen klebte.

Wir stiegen hintereinander die schmale Treppe hinunter und sprangen vom fahrenden Wagen.

Gabe schaute mir von unten entgegen. „Komm, ich fang dich auf!"

Ich lachte und stieg die letzte Stufe hinunter. „Das schaff ich schon.", rief ich ihm entgegen.

„Das glaub' ich dir sogar. Ich will dich aber trotzdem auffangen." Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht. Er breitete die Arme aus.

Ich verzog das Gesicht ebenfalls zu einem Grinsen und sprang.

Und einen Moment hatte ich das Gefühl, ich würde nie aufhören zu fallen, nie aufhören zu schweben. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Wie als würde ich schwimmen, aber da wäre kein Wasser oder als würde ich fliegen, aber ohne Flügel. Doch dann fingen mich starke Arme auf. Ich lachte. Gabe nutze den letzten Schwung, der uns mein Sprung verlieh und drehte sich mit mir einige Male schnell im Kreis. Mein Herz schlug schneller und schneller und einen kurzen Moment wünschte ich mir, er würde mich nie mehr loslassen. Doch im nächsten Moment setzte er mich auch schon wieder vor sich ab.

Wir folgten dem Strom der Menschen, der uns zur hintersten Bühne zog.

Wir kamen nur wenige Minuten vor Beginn unten am Konzertgelände an. Matt hatte vorgeschlagen, weiter nach vorne zu gehen, da dort die Stimmung am besten wäre. Also bildeten wir eine Kette und quetschten uns durch die eng stehende Menge, die grölend warteten, bis die Band auf der Bühne erschien.

Entschuldigungen murmelnd drückte ich mich hinter Gabe, Matt und den anderen nach vorne. Und wie auf ein Stichwort trat die Band auf die Bühne, als wir einen Platz nicht all zu weit von der Bühne entfernt gefunden hatten.

Der Sänger, der gleichzeitig eine Gitarre trug, schrie einen Count in das Mikrophon und dann begannen sie den ersten Song zu spielen. Die E-Gitarre kreischte auf und der Bass schlug durch meinen ganzen Körper, als wäre ich an den Verstärker angeschlossen. Als der Typ in der Mitte schließlich zu singen begann, pfiffen einige aus der Menge und begannen die Arme in die Luft zu reißen. Wie benebelt tat ich dasselbe.

Gabe schrie mir etwas zu, doch ich konnte ihn nicht verstehen. Die Musik war zu laut.

„Was?", schrie ich gegen die dröhnende Musik an und lehnte mich weiter zu ihm herüber, um ihn zu verstehen.

Ich verstand ihn noch immer nicht, als er es wiederholte. Er zeigte auf den Kreis, der sich neben uns aufbaute. Die Leute gingen immer weiter zurück, bis sich ein großer Kreis aufbaute. Dann stürmten sie hinein, boxten gegeneinander, tanzten.

Ehe ich meinen Blick wieder zu Gabe wenden konnte, hatte er mich schon am Arm gepackt und in den Circle Pit gezogen.

„Lass mich ja nicht los!", schrie ich, als ich von der Masse, die sich im Circle Pit tummelte, zur Seite geschuckt wurde.

Ich wusste nicht, ob er mich verstanden hatte, jedenfalls tat er es. Er ließ mich nicht los. Und so tanzten, rannten und schubsten wir uns durch die Menge.

Nach zwei weiteren Songs der Band, die absolut fantastisch war, drückten wir uns schließlich wieder aus dem Circle heraus. Die Frische der Nacht war keineswegs mehr zu spüren. Mein Gesicht glühte.

Wir hatten Glück, dass wir Matt und die anderen wieder fanden. Sie standen noch direkt am selben Fleck wie zuvor.

„Na? Ist die Band nicht toll?", schrie mir irgendwann das schüchtern wirkende Mädchen mit den langen Beinen ins Ohr.

Ich drehte mich zu ihr. Sie strahlte mich an, wirkte plötzlich gar nicht mehr schüchtern, wie am Anfang.

„Oh ja!", schrie ich zur Antwort gegen die Musik an.

„Die sind fast jedes Jahr hier und stehen seit Jahren auf der Liste der Top- Ten auf dem ersten oder zweiten Platz."

Das konnte ich mir vorstellen. Die schlanken Finger des Gitarristen wanderten blitzschnell über das Griffbrett der E-Gitarre, wie man auf einer Nahaufnahme, die auf riesigen Bildschirmen neben der Bühne gezeigt wurden, sehen konnte. Ich beschloss mir, sobald wir wieder Zuhause waren, eine CD von ihnen zu kaufen.

„Achtung!", rief das Mädchen, welches sich zuvor als Sara vorgestellt hatte. Sie reckte die Arme in die Luft und stützte, wie die anderen, den Typen, der auf Händen über die Menge bis nach vorne zur Bühne getragen wurde.

Ich reckte ebenfalls die Arme in die Luft und schob den Typen weiter, der die Hände zum Metal Zeichen formte und den Song laut mit gröhlte.

Den Rest des Konzertes tanzte ich mit Sara und Gabe und startete, meist misslingende, Versuche, den mir unbekannten Text der Songs mitzusingen.

„Und zu unserem letzten Song!", brüllte der Sänger irgendwann ins Mikrophon. „Praise the rock in our world!"

Die Menge begann zu kreischen. Der Drummer schlug die Stöcke zusammen und der letzte Song begann.

„Willst du?", schrie Gabe, der neben mir stand und zeigte auf den Crowd Surfer der nicht weit von uns über die Menge getragen wurde.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als mir bewusst wurde, dass dies sogar einer meiner Punkte auf meiner Liste war. Genauso wie dieses Festival.

Ich grinste breit. „Ja!", rief ich. „Aber wie sollen wir uns da jemals wieder finden?"

Gabe schaute zur Seite und suchte das Gelände ab. „Wir treffen uns vorne am Ausgang. An dem Schild da hinten." Er zeigte auf ein riesiges Schild, am Rande des Geländes vor der Bühne, auf dem in roten Buchstaben dick „Exit" geschrieben stand.

„Okay.", schrie ich zur Antwort.

Keine Sekunde später hatten mich Gabe und Matt gepackt und hoben mich in die Luft. Ich lachte, streckte mich und spannte alle Muskeln in meinem Körper an. Die Leute unter mir gaben mich beinahe wie ein Tablett weiter und weiter, immer weiter nach vorne in Richtung Bühne. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass mich jemand fallen lassen würde. Warme, kalte, große und kleine Hände stützten mich und trugen mich über die Köpfe der Menge. Ich hatte das Gefühl, dass die Musik um mich herum immer lauter wurde, wenn das überhaupt möglich war. Ein kühler Wind fegte mir die Haare aus dem Gesicht und kühlte meine erhitzte Haut ab.

Vorne an der Bühne fing mich schließlich ein muskulöser, breitschultriger Security auf, setzte mich sachte auf dem Boden ab und zeigte mir den Weg zum Ausgang.

Und mir wurde bewusst, dass ich gerade dabei war, zwei Punkte meiner Liste zu erfüllen. Ich kam dem Schritt zur Freiheit immer näher.

Ich fühlte mich noch immer wie benebelt, als ich schließlich vorne am Exit- Schild auf Gabe traf.

„Und nächstes Mal bist du dran!", rief ich ihm lachend entgegen, bevor er auch nur irgendetwas sagen konnte.

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