Verletzlichkeit


Essay von Cassandra Logans

Verletzlich.

Manchmal sind wir verletzlich.

Natürlich musste uns Mrs. Flower gerade heute den Essay aufgeben. Und natürlich bestand Dad darauf, dass ich auch genau heute mit dem Schreiben beginne. Viel habe ich ja wirklich nicht auf das Blatt gebracht. Nicht einmal wenig. Dafür habe ich also zwanzig Minuten dieses wundervollen Nachmittags verschwendet. Für nichts. Wie immer! Ich starre das linierte Blatt vor mir an und beginne, an mir selbst zu zweifeln. Normalerweise bin ich nicht so unglaublich unkreativ. Eigentlich finde ich immer meine Inspiration. Mum hat mal gesagt, ich wäre eine geborene Autorin, doch das war lange bevor sie erkrankte. Vor vierzehn Monaten hat sich alles verändert. Mum's Schlaganfall machte unser Leben nicht gerade einfacher. Ich musste früher erwachsen werden und meinen Vater mit den damals noch dreijährigen Zwillingen unterstützen, obwohl ich selbst erst 16 Jahre alt war. Für Mum war es mit ihren siebenunddreißig Jahren sicherlich auch nicht einfach von dem Nacken an gelähmt zu seien. Doch sie macht sich gut. So gut, dass die Ärzte sagen, wir dürfen wieder hoffen. Und ich hoffe. Habe nie nicht gehofft, und ich werde auch nie aufhören zu hoffen. Jedenfalls nicht im Bezug auf Mum. Aber die Hoffnung auf einen guten Essay, welcher heute entsteht, habe ich schon lange aufgegeben. Ich schiebe den olivgrünen, super-bequemen Schreibtischstuhl nach hinten und stehe auf. Mit der Essaymappe unter den Armen nehme ich mein Tuch vom Bett und öffne die Tür. Die Sonne ist heute vielleicht zum letzten Mal so stark und warm zu spüren, da es schon Anfang Oktober ist. Ich will das Wetter genießen, anstatt hier zu sitzen und die Kopfschmerzen regelrecht herbei zu beschwören und draußen bekomme ich bestimmt neue Ideen. Auf dem Weg nach unten komme ich an Dad's rotem Lesesessel vorbei, über welchem meine Lederweste hängt. Ich streife sie mir zusammen mit dem dunklen Halstuch über und binde meine dunklen, fast schon schwarzen Haare zum hohen Zopf. Irgendwie bin ich plötzlich besser gelaunt. Unten angekommen entdecke ich meine beiden kleinen Brüder, beim Anlaufnehmen auf unseren Hund Peet. Sie sehen wirklich glücklich aus. Ich glaube, sie sind die einzigen in diesem Haus, die wirklich fröhlich sein können. „Hey, Austin, Lucas. Habt ihr Daddy gesehen?", frage ich die beiden Nervensägen.

Während Lucas den Kopf schüttelt antwortet mir Austin lächelnd: „Na klar! Draußen." Ich nicke dankend. „Okay. Tut mir einen Gefallen und lasst Peet am Leben." Schnell laufe ich die paar Schritte bis zur Haustür und schlüpfe dort eilig in meine liebsten Stiefeletten. Beim Gedanken daran, wie ich sie vor gut zwei Jahren mit Mum kaufte und wir lachend das Kaufhaus in einen Laufsteg verwandelten schmerzt mir mein Herz und mir treten Tränen in die Augen. Ich sehne mich so sehr nach dieser Zeit und vermisse mein altes, einfacheres Leben.Damals ging es uns allen besser. Vor allem Mum schien viel glücklicher gewesen zu sein. Sie liebte das Joggen, oder lange Spaziergänge. Für sie muss dieser Schlaganfall schrecklich gewesen sein.

Ich trete nach Draußen in den warmen, hellen Schein der Nachmittagssonne. Die Blätter färben sich schon leicht goldgelb und rötlich. Damals war diese Zeit im Jahr immer meine liebste. Noch warm, aber nicht zu warm. Außerdem mochte ich schon immer den Regen. Wenn es regnete und die anderen kleinen Mädchen Zuhause malten oder mit ihren Barbies spielten, zog ich mir meine himmelblauen Gummistiefel an und sprang voller Spaß in die kleinen Pfützen. Vielleicht lag meine Liebe zum Herbst und Regen daran, dass ich an einem Regentag geboren bin, oder daran, dass meine Lieblingsheldin, Pollin Junior, eine Regenprinzessin war. Auf jeden Fall mag ich den Regen auch heute noch.

Es dauert eine kleine Weile, bis ich meinen Dad entdecke. Er steht am schwarzen Rollstuhl meiner Mutter und die beiden blicken auf den kleinen See, welcher sich vor unserem Haus erstreckt. Sie lieben sich. Egal, wie schwierig es auch sein mag, und genau das beneide ich irgendwie. Ich hätte auch gern eine so sichere und gefühlvolle Beziehung. Jemanden, an den ich mich in jeder schlechten Situation wenden kann, der immer zu mir hält. Jemanden, der mich vollkommen liebt. So, wie mein Dad meine Mutter, oder meine Mutter meinen Vater.

„Hey, Dad. Hey, Mum." Ich stelle mich vor sie und bemerke das Lächeln meiner Mutter. „Hübsch siehst du heute aus, Cassy!" , gibt sie mir als Antwort. Mit ihren rötlich schimmernden, braunen Haaren, ihrem zarten Elfenbeintein und den kristallblauen Augen ist sie zwar viel schöner als ich, aber ich weiß, dass sie sich das niemals eingestehen würde. „Danke, aber bei weitem nicht so hübsch, wie du. Ich will die Sonne ein bisschen genießen. Ist es in Ordnung, wenn ich zum Abendessen wieder da bin?" Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne und hoffe, dass die Antwort >Ja<, anstatt >Nein< seien wird. So, wie ich meinen Vater kenne, wird er ein riesen Ding daraus machen und mich mindestens zehn Mal an meinen Essay erinnern. Er öffnet seinen Mund. „Was ist mit deinem Essay? Wenn du gerade einen Ideenfluss hast, solltest du weiter an ihm arbeiten. Vielleicht googlest du einfach mal nach dem Thema. Was ..." Ich ersticke, wie befürchtet, fast an den Worten meines Vaters und bin mehr als erleichtert, als meine Mutter ihn unterbricht. „Natürlich, Liebes. Geh, und habe Spaß. Arbeiten kannst du auch noch später." Ich lächle sie dankbar an und mache mich auf den Weg zum Friedhof. Hier verbringe ich den größten Teil meiner Freizeit. Warum genau, weiß ich selbst nicht. Ich fühle mich bei den Toten irgendwie beschützt und geborgen. Natürlich hört sich das jetzt total verstörend an, aber so ist es nun mal. Immer, wenn ich kaputt oder verletzlich war, bin ich zu den Gräbern gegangen und habe Trost und Hilfe gesucht. Schon seit ich 12 bin, ist das so. Meine Eltern hatten nie irgendwelche Probleme damit, nur mein älterer Bruder Clarkson fragte sich hin und wieder, wie gestört seine kleine, drei Jahre jüngere Schwester wirklich war. Clarkson ist nur mein Halbbruder, denn Dad brachte ihn mit zu Mum, als er elf Monate alt war. Mum hatte Clark sofort lieb gewonnen, und für uns Kinder ist er genauso wichtig, wie jedes andere Familienmitglied.

Ich stecke mir die neuen, pinken Kopfhörer in die Ohren und lausche der Musik von Justin Bieber. Man kann über ihn sagen, was man will, aber einige seiner Lovesongs sind wirklich gut. Die schwebenden Melodien und die sanfte Stimme passen meiner Meinung nach perfekt zusammen. Beim Refrain stimme ich mit ein, ohne darauf zu achten, wer mich alles hören könnte. „Baby, you should go and love yourself."

Der Weg zum Friedhof ist viel zu lang, weshalb ich gern meine eigene, kleine Abkürzung gehe. Über den Schotterweg, an den Kleingärten vorbei, durch das winzige Laubwäldchen. Mit Hilfe diesen Weges spart man locker fünfzehn Minuten Fußweg ein. Erfreut schaue ich mich auf dem Stadtfriedhof um und bemerke, dass keiner außer mir hier zu seien scheint. Ich bin wirklich froh darüber, denn die meisten, die hier sind, sind es um Freunde oder Verwandte zu „besuchen" und ich hasse es, traurige oder verletzte Leute zu sehen. Ich komme mit Trauer einfach nicht zurecht. Das kam ich noch nie. Meine Beine führen mich, wie von allein zu meinem Lieblingsplatz. Er ist die schlichte, kleine Parkbank auf der ich sooft sitze. Ihr Anblick ist mir schon sehr bekannt und löst ein vertrautes, gutes Gefühl in mir aus. Andere wollen Veränderungen, mögen das Unbekannte, doch ich vertraue lieber auf Bewährtes. Meine Finger streichen die dünne Schmutzschicht von der Sitzbank, bevor ich mich zögernd auf ihr niederlasse. Durch das dichte Laub über mir kitzeln nur wenige der Sonnenstrahlen auf meiner leicht gebräunten Haut. Ich mag die Wärme, welche die Strahlen auf meiner Haut auslösen. Sie bedeckt meine Arme wie eine unsichtbare Decke und lässt mich entspannen.

~DAMIEN~

°.Als mir Valemir sagte, dass wir in Gefahr stecken, war mir noch nicht bewusst, wie enorm diese Gefahr ist, wer „Wir" und was, oder wer, die Gefahr eigentlich ist. Ich willigte seiner Bitte, die Gefahr zu beseitigen, ohne Nachfrage oder Widerspruch ein. Er hatte mich vor über zweihundert Jahren verwandelt, mir mein Leben gerettet und mir gelehrt, mich selbst zu schützen. Ich vertraute ihm blind. Aber, wie schon gesagt. Ich wusste damals von nichts. Ich wusste nicht, dass die Gefahr ein menschliches Herz war. Dass dieses uns, also alle Vampire, an dem Tag, an dem es seinen 18. Geburtstag hat, vernichten wird. Und ich wusste nicht, dass ich bereit wäre zu gehen, damit das Herz bleibt.°

Ich schließe die Augen und lausche genussvoll den leisen, zaghaften Klängen des Friedhofes. Der Wind pustet mir voller Stärke meine Haare ins Gesicht und mit ihnen einen vanilligen Geruch, welcher meine Sinne zum Leben erweckt. Ein ungewöhnlicher Duft. Zu ungewöhnlich! Ängstlich drehe ich mich, während ich die Augen öffne und blicke mich um. Niemand zu sehen. Erleichtert lehne ich mich wieder zurück. Doch da ist er schon wieder. Dieser Geruch. Er wird immer intensiver, ebenso wie meine Panik. Und der Wind wird immer heftiger. Dann noch dieses gleichmäßige, ruhige Rascheln. „Danger?", flüstern die Bäume mir zu und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich schnappe mir meine Tasche. Das hier ist mir echt zu melodramatisch! Meine Augen wachsam auf meine Umgebung gerichtet, versuche ich in einem möglichst schnellen Tempo von dem Friedhof zu fliehen. Eigentlich glaube ich ja nicht an Geister und den restlichen mystischen Kram, aber das eben erlebte, ist mir echt eine Nummer zu hoch. Viel zu hoch! Soviel zum Thema, ich würde mich auf dem Friedhof wohl und sicher fühlen. Wohl eher nicht.

xx Ich hoffe sehr, dass euch das erste Kapitel gefällt und ihr mitfiebert, wie es weiter gehen wird ;). Es wurde Zeit, für eine neue Geschichte. Hier ist sie. :D Weiter geht es am Wochenende. Bis dann <3 xx


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