49

Jay
Ich hatte der nicht sonderlich gesprächigen und weinenden Frau Handschellen angelegt und sie auf die Rückbank von Abels Dienstwagen verfrachtet, der auf einem Parkplatz nicht unweit der Lichtung stand. Ich hatte sie angeschnallt, die Tür zugeknallt und das Auto abgeschlossen und war, ohne eine Meldung zu machen, zurück zum Trampelpfad gegangen.
Auch, wenn ich diese Lösung absolut nicht guthieß, wollte ich mit eigenen Augen sehen, was einen trauerden Vater und Großvater durch den Kopf ging, wenn sie jemanden...
Ich konnte nicht mal daran denken, da drehte sich mir schon der Magen um.
Für was waren die drei überhaupt Polizisten geworden, wenn sie so übel nach ihren eigenen Regeln spielten? Auch wenn es Familie war... Tristans Familie... aber dafür würde ich meine Zukunft doch nicht kaputt machen wollen, um für einen kurzen Augenblick ein Gefühl der Rache auszuleben.
Was hatte man davon?
Nur einen Mord an der Backe, Blut an der Hand, oder sonst wo, obwohl man dieses hätte anders lösen können. Gefängnis, dass wäre ein Plan gewesen. Der Plan.
Für alles, was Lonnie getan hätte, wäre er niemals wieder rausgekommen und ich war mir ziemlich sicher, dass früher, oder später, die Insassen ihren Teil geleistet hätten.
  Als ich den Trampelpfad entlang ging, hörte ich wirre Stimmen, die ein ängstliches und hilfloses Wimmern übertönten.
Ich trat zwischen den Bäumen auf die Lichtung und sah, dass die Lonnie wohl in den Wohnmobil gezerrt hatten.
"Hab ich nicht gesagt, dass du am Auto warten sollst?", fragte Abel mich, der aus der leicht geöffneten Tür zu mir blickte. Auch wenn er mit dem Rücken zu mir stand, hatte er mich anscheinend wahrgenommen.
"Die kann nicht abhauen. Handfesseln und so", sagte ich leise und versuchte einen Blick in den Wohnmobil zu erhaschen, aber Abel versperrte mir mit seiner Größe und seinen breiten Schultern die Sicht. Er seufzte und trat heraus, dann drückte er die Tür zu.
"Ich weiß, dass du ein vernünftiger Junge bist, dass warst du schon immer, lassen wir mal die ein oder andere Schlägerei auf der Highschool, oder auf dem Fußballplatz außenvor..." Er holte tief Luft. "Aber mach uns da keinen Strich durch die Rechnung. Rodiger hat meinen Sohn, uns alle, verhöhnt und verspottet. Er hat unschuldige Kinder getötet, darunter meinen ersten Enkel. Das kann ich nicht auf mich sitzen lassen."
"Du kannst aber Sam davon abhalten."
"Kann ich das, wenn ich es genauso wie Sam sehe?", fragte Abel mich und blickte mich eindringlich an. "Wir haben gesagt, wenn es schief geht, dass wir dich nicht damit reinziehen, und das werde ich auch beibehalten."
"Schon mal daran gedacht, was Holly und Sally davon halten würden? Könnt ihr beiden Vollidioten überhaupt soweit denken?"
"Jay."
"Nein, man, es geht hier nicht nur um meinen Arsch, Abel. Mir geht's um Holly, okay? Sie ist deine Tochter, Sams Schwester, was ist, wenn es zu Konsequenzen kommen wird..."
"Das wird nicht passieren. Wir passen schon auf und ich will ehrlich gesagt, auch nicht weiter darüber diskutieren."
Plötzlich öffnete sich die Tür und Sam blickte heraus und sofort zu mir.
"Entweder gehst du zum Auto und hältst die Schnauze, oder du bleibst hier und hältst die Schnauze. Du bist schlimmer, als meine Schwester, bei Gott."
"Sie kann halt nur weiter denken, wägt die Konsequenzen ab, die ihr damit ins Rollen bringt."
"Soll ich dir mal was sagen? Holly konnte sich auch nicht entscheiden. Da war auf der einen Seite, die Stimme der Vernunft, und auf der anderen Seite, kam zwischendurch dieser Hass durch, da stand sie hinter mir."
"Letztlich stand sie doch nicht hinter dir, weil sie uns angerufen hat", bemerkte ich ruhig.
Sam schnaubte nur und verschwand wieder im Inneren. Er hielt aber die Tür auf. "Im Ernst, halt einfach die Schnauze, Jay. Du bringst mich noch dazu, dass ich dir eine reinhaue. Ich hätte schon längst anfangen können."
"Bitte, lass dich von mir nicht aufhalten."
Er wandte sich wieder zu mir. "Ganz bestimmt nicht mehr."
Aus dem Inneren hörte ich ein belustigtes Lachen, welches von Lonnie kam. "Spannender als jede spanische Telenovela, die ich mir mit meiner spanischen Exfreundin anschauen musste."
"Dafür, dass du auf kleine Jungen stehst, wundert es mich immer noch, wie du so an eine hübsche Freundin kommen konntest?", bemerkte Sam spöttisch.
"Ich lege mich da nicht fest. Ich hab's damals schon bei Holly versucht."
"Zwischen dir und meiner Schwester liegen auch etliche Welten."
"Hat mich trotzdem nicht abgehalten..." Lonnie musste lachen. "...versehentlich in euer Haus zu steigen, wenn Holly allein war." Ich stieg hinter Abel in das Wohnmobil. "Sie hat es nie mitbekommen, wenn ich unter ihrem Bett lag." Er blickte kurz zu mir. "Eher ihr beiden." Dann schaute er wieder weg. "Oder, wenn ich ihr bei den täglichen Gassirunden mit dem Hund gefolgt war, oder wenn sie sich im Bikini in eurem Garten bewegt hat... Sie ist zu einer wundervollen Frau herangereift. Hättet ihr mich nicht gefunden, wäre ich in sieben oder acht Jahren zurückgekommen." Lonnie warf mir wieder einen komischen Blick zu. Ich starrte ihn an, hatte nicht mal gemerkt, dass ich vor Wut meine Hände zu Fäusten geballt hatte. "Ich denke, dann wäre euer Sohn in einem für mich perfekten Alter."
    Letztlich hab ich nicht sonderlich nachgedacht, als meine geballte Faust mit aller Kraft aufs Lonnies Nase zuschoss. Durch die Wucht meines Schlags, knallte Lonnies Kopf gegen den Tisch. Benebelt blieb er liegen und gab trotzdem noch irgendwelche Laute von sich. Ich war aber wieder auf ihn zugeschnellt, packte ihm am Kragen seines Pullovers und zerrte ihn zurück auf den Hintern.
"Wiederhol das noch mal. Na komm, wiederhol dich noch mal, du widerliches Stück Scheiße!"
Lonnie war von meinem Schlag und die davor benebelt und kämpfte damit, wach zu bleiben, aber ich verpasste ihm eine schallende Ohrfeige nach der anderen, und hielt ihn mit der linken Hand am Pullover fest. Dann ließ ich ihn einfach los und er sackte auf den Boden zusammen.
Dort wo mein Faustschlag traf, färbte sich bereits das Gesicht knallrot und die schon leicht angeschwollenen Augen, schwellten weiter an.
Meinen Blick von Lonnie nicht abgewendet, stellte ich mich gerade hin und holte tief Luft. Mein Kurzschluss war vorbei und ich nahm erstmal Abstand von dem am Boden wimmernden Lonnie.
Sam, welcher neben mir stand, drückte mir etwas an die Hand. Ich blickte auf meine Hand runter, die Handknöchel sichtlich rot und angeschwollen, und sah ein paar schwarzer Latexhandschuhe. "Kein Wort", zischte ich in seine Richtung und zog mir die Handschuhe über.
Ich blieb doch.

Erst am nächsten Morgen, kamen wir zu viert in Chicago an. Ich hatte im Auto geschlafen, um wenigstens etwas fit für die heutige Schicht zu sein, aber ich fühlte mich, als hätte ich stundenlang durchgefeiert und zu tief in eine Wodkaflasche geschaut.
Sam, der die ganze Zeit, in sich gekehrt war, schien es nicht anders zu gehen. Auch er nickte, auf dem Heimweg mehrmals weg- knallte aber nicht lieblos mit dem Kopf gegen die Scheibe, wie ich.
   Ich sagte nichts, als Abel vor dem Haus hielt, in dem ich eine Wohnung hatte und stieg aus.
  Kaum war ich durch die Eingangstür hindurch und am nicht besetzten Empfang entlang, hörte ich Schritte hinter mir.
"Jay."
Es war Sam gewesen, der mir bis ins Haus gefolgt war. Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm. "Was denn noch?"
"Danke."
"Was auch immer."
Ich war einfach nur froh, endlich von Sam wegzukommen und hielt es für das Beste, wenn ich erstmal auf Abstand zu ihm und Abel ging.
  Ohne auch nur irgendwas zu sagen, wandte ich mich von Sam ab und ging zu den Fahrstühlen. Ich wollte einfach nur noch ins Bett und zu Holly, ihr die Wahrheit sagen und das ich versagt hatte, ihren Vater und Bruder von diesem Vorgehen abzuhalten.

Holly, die bereits zu Hause war und von dieser Erin nach Hause gefahren wurde, kam mir sofort entgegen, als ich durch die Wohnungstür trat. Sie sagte nichts, und auch ich schwieg, als wir uns einfach nur fest umarmten.
Als wir uns aus der Umarmung lösten und ich die Wohnungstür zu machte, blieb Holly neben mir stehen. "Habt ihr ihn jetzt offiziell verhaftet, oder..." Sie konnte es nicht mal richtig aussprechen, aber ich wusste sofort, was sie meinte.
An meinem Blick, den ich aufzog, erkannte sie sofort, zu welcher Entscheidung Sam getroffen war. Holly atmete tief ein und pustete lauthals die Luft aus der Nase. "Ja, ich hab's mir denken können."
"Ich hab's versucht", sagte ich und schmiss meine Tasche, welche die ganze Zeit im Kofferraum von Abels Auto lag, auf den Boden. "Ich hab's ehrlich versucht ihn davon abzuhalten, aber... ich konnte es nicht... ich."
"Es ist nicht deine Schuld. Das war ganz allein Sams Entscheidung... ich will auch kein Wort mehr darüber verlieren und nur noch wissen, ob man mit dem Rodiger-Thema abschließen kann?"
"Wir können abschließen", nickte ich und atmete tief durch. "Einfach nur abschließen. Dein Vater und Voight werden alles regeln."
Holly kam zu mir und legte eine Hand auf eine Wange, ehe sie mich wieder umarmte. Ich erwiderte kurz. "Ich muss mich fertig machen und zur Arbeit."
Holly blickte mich an. "Wieso nimmst du dir nicht einen Tag frei. Wir legen uns ins Bett, schlafen einfach und bestellen uns zum Mittagessen irgendwas zum Essen."
Auch, wenn ich die Ablenkung von der Arbeit gebraucht hätte, beschloss ich doch lieber Zuhause zu bleiben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top