48
Sam
Wir standen schon einige Zeit auf einem Parkplatz einer Tankstelle, außerhalb von Brunswick. Holly war noch eine ganze Weile gefahren, tätigte, warum auch immer keinen Anruf. Als ich sie fragte, was sie vor hatte, ignorierte sie mich.
Sie ignorierte mich immer noch, als sie aus dem Wohnmobil ausstieg und tankte.
Als sie in dem Gebäude der Tankstelle verschwand, schob ich eine der Feinrippgardinen zur Seite und glotzte unbeholfen aus dem Fenster. Durch das große Fenster der Tankstelle, konnte ich ins innere Blicken und sah, dass Holly am Hörer eines Telefon hing. Sie schien zu telefonieren. Was sollte sie damit sonst machen?
Schnaubend schob ich die Gardine zurecht und ging in die Fahrerkabine. Der Schlüssel hing im Schloss.
Zögerlich schaute ich noch mal zur Tankstelle. "Tut mir leid", murmelte ich vor mich hin, legte die Schrotflinte neben mir auf den Boden und setzte mich kurzerhand an den Steuer des Wohnmobils. Dafür, hatte ich beim besten Willen keinen Award, für den besten Bruder, verdient und ich wusste, dass meine Schwester nie wieder ein Wort mit mir reden würde, aber dies war der einzige Ausweg.
Ich musste das tun. Nur so, konnte ich endlich mit alle dem abschließen. Nur so, kann ich in Ruhe weiterleben.
Kurzerhand fuhr ich mit quietschenden Reifen vom Parkplatz der Tankstelle runter und ließ meine Schwester zurück.
Das war der richtige Weg, für mich, mit allen Konsequenzen, die auf mich zukommen werden.
Mit vollem Tank im Rücken und zwei Personen hinter mir, fuhr ich ohne ein Ziel durch die Dunkelheit, hoffte, dass ich nicht von irgendwelchen Polizisten angehalten wurde, da eine Fahndung auf mich ausgeschrieben war.
In der Nähe von Kankakee, fand ich einen ruhigen und weit vom Schuss abgelegenen Ort, an dem ich mein Glück versuchte.
Ich ließ den Motor verstummen und griff nach der Schrotflinte, ehe ich in den Wohnbereich ging. Die Brünette fing panisch an zu weinen und gab immer noch keinen Ton von sich, während ich mich vor dem munteren Lonnie stellte. "Endstation", bemerkte ich und drückte seinen hängenden Kopf mit dem Schrotflintenlauf nach oben, sodass er mich angucken musste.
Er erwiderte den Blick und seine eiskalten Augen fixierten meine.
"Dann ist das wohl so", gab er von sich.
Ich löste ihm von den Tisch und zerrte ihn mit wenig Kraft, weil er nicht viel wog, zur Wohnmobiltür, diese öffnete ich, sprang auf den Waldboden hinab und zog Lonnie grob mit. Dieser knallte mehrmals mit dem Rücken auf die Stufen und zum Schluss auf den Waldboden.
Er stöhnte und fluchte vor Schmerzen auf. Die Frau war immer noch bitterlich am weinen und versuchte irgendwelche Töne von sich zu geben, aber es kam kaum etwas verständliches heraus.
Ich wandte mich aber lieber Lonnie zu und ließ seine Knöchel los. Mit einem stumpfen Dumpf, knallten seine Beine auf den Boden. Wieder gab Lonnie ein Fluchen von sich.
"Na komm, bring es endlich hinter dich, du Drecksbulle. Ich werde es kein bisschen bereuen, deinen Sohn gefickt zu haben!"
Diese Wortwahl, ließ mich sofort in ein schwarzes Loch fallen. Alles um mich herum, färbte sich schwarz und selbst das Wohnmobil neben mir, verschwand in der aufkommenden Dunkelheit. Ich sah nur noch den auf den Boden liegenden und hilflosen Lonnie und ich, wie ich über ihn kniete und ihn mit meiner geballten Faust und angesammelten Wut ein paar Mal heftig ins Gesicht schlug. Ich merkte, wie meine Handknöchel aufrissen, wusste jetzt schon, dass mindestens ein Knöchel gebrochen war, aber das war es mir absolut wert.
Vor allen Dingen, als ich die schräge, gebrochene und blutende Nase von Lonnie erblickte, sein völlig verballertes Gesicht, als könnte er nicht glauben, was hier gerade passierte.
Ich konnte es selbst nicht glauben und mit einem Mal, war die Dunkelheit um mich herum verschwunden. Völlig aus dem Nichts.
Schweratmend hielt ich, Starr wie eine Steinfigur, in meiner Position inne und verengte die Augen, um in der Dunkelheit und im Licht der schwachen Scheinwerfer des Wohnmobils zwei Beine zu erkennen, die zielsicher auf mich zu kamen. Die schweren Stiefel bohrten sich in den trockenen Waldboden, und meine Augen wanderten nach oben. Als hätte ich nicht schon am Gang erkannt, dass Hank Voight auf mich zu kam. Wie hatte er mich finden können?
Hinter ihm tauchten noch zwei weitere Personen auf, die ich als Jay und meinem Dad identifizieren konnte. "Was zum Teufel?", keuchte ich fassungslos. Ich schniefte und zog den Rotz in meiner Nase hoch, ehe ich mich aufstellte.
"Sam", sagte Dad im völlig ruhigen Ton und trat an Hank vorbei. Er hob beschwichtigend die Arme in der Luft und blickte mich mit einem eindringlichen Blick an, der nichts Gutes verhieß.
Er wollte wieder was sagen, aber wurde vom Wimmern aus dem Wohnmobil unterbrochen.
Auch Voight wurde hellhörig. "Halstead, nehmen Sie die Frau und bringen Sie sie zum Auto."
"Klar", brummte Jay und trat näher an den Wohnmobil heran. Er blickte von Lonnie, zu mir, warf mir einen ziemlich wütenden Blick zu, vermutlich, weil ich Holly einfach allein ließ, und dann wieder zu Lonnie. Als er ein Bein über Lonnies Arm hoch, hielt er inne und trat mit Absicht auf die Hand. "Och, tut mir leid", bemerkte Jay, drückte seinen beschuhten Fuß noch weiter runter und nahm auf diesem Fuß sogar noch Schwung, um in den Wohnmobil zu steigen.
Die Frau wurde immer panischer. "Ma'am, ich bin vom Chicago PD, Ihnen wird nichts passieren", versicherte Jay ihr glaubhaft. "Ich kann Ihnen sogar meine Marke zeigen, wenn Sie möchten."
Ungeduldig wollte ich wieder nach Lonnie greifen, aber Dad zog mich an dem Armen zurück.
"Noch nicht", zischte er mich an und deutete in Richtung Wohnwagen. Genaugenommen auf Jay. Als ich einen prüfenden Blick zu Hank warf, nickte er nur.
Ich verstand sofort. Sie waren beide auf meiner Seite. Ich ging ein paar Schritte zurück.
"Bring sie zum Auto, wir reden gleich", bemerkte Dad, als Jay mit der völlig aufgelösten Frau aus dem Wohnmobil kam. Sie wimmerte und weinte noch mehr, als sie den sich vor Schmerzen windenden Lonnie auf dem Boden sah.
"Ihr bringt ihm auch zum Auto. Ich rufe Verstärkung."
Jays Augen huschten schnell, über uns alle rüber, als sich keiner rührte und ich verachtend Schnauben musste. "Spinnt ihr?", platzte es aus ihm heraus. "Regeln wir jetzt so die Dinge? Wir haben ihn, wir können ihn in den Knast bringen!"
"Wir reden am Auto, Jay", mahnte Dad mit strenger Stimme.
"Ich werde Verstärkung rufen und dann werden wir Rodiger..."
"Wir werden am Auto miteinander reden!", wiederholte Dad sich fast schreiend.
"Ihr zieht mich da nicht mit rein!", übertönte Jay mit zitternder Stimme meinen Vater. "Ich will nicht sein..." Er deutete auf Lonnie. "...Blut an meinen Händen kleben haben."
"Aber das Blut von Tristan und den anderen Kindern?", fuhr ich ihn an und ging auf ihn zu.
"Das hab ich nicht gesagt", sagte Jay kleinlaut. Er blieb auf seinem Fleckchen Erde stehen, während ich vor ihm stellte und ihn eindringlich anblickte.
"Das ist aber nicht der richtige Weg, verdammt."
"Es geht hier verdammt noch mal um meinen Sohn!"
"Das ist mir auch klar", entgegnete Jay ruhig. "Das holt Tristan aber auch nicht wieder, Sam, dass ist dir schon klar? Denk doch mal vernünftig nach, dass wird dir vermutlich nur für einen kurzen Augenblick eine Genugtuung sein und dann wird dich dieser Weg ein Leben lang verfolgen. Du wirst dich fragen, wieso du nicht anders gehandelt hast. Dein Leben lang. Ist es das, was du willst? Du bist Cop, Sam, Cop, und kein Mörder."
"Wo ist da der Unterschied?", fragte ich. "Erklär mir mal, wo da der Unterschied liegt? Du hast doch auch schon einen Verdächtigen erschossen, richtig? Warum? Weil dein Leben in Gefahr war..."
"Das kannst du doch nicht mit dieser Situation, jetzt, hier in diesem Moment, vergleichen", fuhr Jay mich an. "Das hier, ist eine völlig andere Situation, als einen Verdächtigen, der dein Leben bedroht zu erschießen. Dein Verdächtiger liegt wehrlos und gefesselt auf den Boden. Benutz dein Gehirn, verflucht."
"Bring die Frau zum Auto und warte einfach da. Wir erledigen das. Es wird schnell gehen. Du wirst da schon nicht mit reingezogen."
"Ihr seid schwer vom Begriff," bemerkte Jay fassungslos und schüttelte seinen Kopf. "Das man darüber mit euch diskutieren muss."
"Versetz dich in meine Lage hinein, verdammt! Du bist nicht derjenige, der sein Kind beerdigen musste, weil es ermordet wurde! Du kämpfst nicht jedes Mal aufs Neue mit den Dämonen, die dich jagen! Du stehst gerade nicht über dieses Schwein. Du hast Glück, verflucht, Glück, dass es deinem Kind gut geht. Du hast dein Kind nicht verloren. Du weißt erst, wie ich mich fühle, sobald du dein Kind in den Arm hast, glaub mir das, da bist du die ganze Zeit am Rand dieser Angst-Klippe. Also, hör auf meinem Vater, hör auf ihm..." Ich zeigte auf Hank. "Und bring sie zum Auto, dort besprechen wir alles."
Jay musste sichtbar schlucken. "Und ihr seid wirklich der Meinung, dass es das Richtige ist?", fragte er und blickte Abel und Hank nacheinander an.
"Ich würde genauso reagieren, ja", nickte Hank. "Ich kann mich da ein bisschen besser hineinversetzen."
"Nur weil mein Sohn noch nicht auf der Welt ist, oder was?", zischte Jay und wirkte danach irgendwie, als bereue er seine Worte.
"Sohn?", fragte mein Dad.
"Es wird ein Junge", hauchte ich. "Was ist, wenn er das deinem Sohn angetan hat? Würdest du aus purem Hass nicht genauso handeln wollen?"
Jay antwortete nichts darauf, sondern wich meinen eindringlichen Blick aus. "Ich will damit nicht in Verbindung gebracht werden, so egoistisch das klingt, aber ich will wenigstens für meine Familie da sein." Er wandte sich zu der Frau. "Los jetzt!"
Als hätte sie mit einer unnötigen Diskussion ihm vom Gehen abgehalten. Er war doch derjenige, der versuchte, uns von dem Vorhaben abzuhalten.
Die Frau setzte sich eingeschüchtert in Bewegung. Jay ging hinterher und folgte dem Trampelpfad in die Dunkelheit.
Ich blickte zu Hank, der sofort auf Lonnie zustürzte und ihm unter den Achseln auf die Beine zog. Dad schüttelte irgendwelche Gedanken von sich ab und lehnte sich zu dem benebelten Lonnie nach vorne.
"Damit kommen wir zu dir, Mäuschen", bemerkte er und schlug ihn grob auf die Schulter.
Lonnie wimmerte ängstlich und fing bitterlich an zu weinen.
Immer wieder schön, wie Leute, die sich kurz vor dem ersten Platz auf dem Siegerpodest dachten, so tief fallen konnten und kleinlaut wurden.
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