45

Sam
Angespannt und den Lauf meiner Waffe in Richtung Gesicht meines Gegenübers gehalten, atmete ich vor Erleichterung tief durch.
Ich nahm den Arm mit der Pistole runter, sicherte die Waffe und stopfte sie wieder in den Hosenbund.
„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst im Auto warten!", fuhr ich meine Schwester an und fuhr hoch.
„Ich hab mir nur Sorgen gemacht, Sam", entgegnete Holly kleinlaut und krabbelte neben mir den Abhang hinauf.
„Du drehst sofort wieder um und verpisst dich. Ich werde das hier allein regeln."
Holly antwortete nicht, sondern starrte durch das Gebüsch hindurch, während sie in Schräglage auf den kalten Waldboden lag. „Hörst du mir zur Abwechslung mal zu?"
Ich musste wohl richtig verzweifelt geklungen haben, da Holly mir einen Blick zu warf.
Ihre Augen waren starr vor Schreck, als sie mich anblickte.
„Da ist Rodiger!", keuchte sie. „Ich hatte Recht!"
Sofort legte ich mich neben meiner Schwester auf den Boden und machte mir selbst ein Bild davon. Neben der dünnen Brünetten, stand tatsächlich ein Mann mit hoher Stirn, Geheimratsecken, eingefallenen Wangenknochen und starrem Blick.
Das war eindeutig Rodiger.
Und eindeutiger ging es wohl nicht, als die Brünette ihn mit „Lonnie" ansprach. Dann redeten die beiden leiser miteinander.
Holly zog ihr Handy mit der dreckigen Hand aus der hintersten Hosentasche und ich blickte zu ihr. „Was machst du?"
„Ich rufe Dad an, wir haben ihn und er bekommt endlich seine gerechte Strafe."
„Nein!", tönte ich streng, aber leise. Ich zog meiner Schwester sofort das Handy aus der Hand. „Das werde ich so regeln."
„Was soll das heißen?"
Ich schaltete Hollys Handy kurzerhand aus und gab ihr es zurück. „Das was ich meine. Ich werde es auf meine Weise regeln."
„Das wirst du nicht. Ruinier dir deswegen nicht deine Zukunft, Sam!"
„Holly", murrte ich. „Die ist schon ruiniert, nachdem ich meinen Sohn beerdigen musste und wenn du nicht gleich abhaust und ins Auto steigst und mich mein Ding machen lässt, werde ich richtig wütend."
Holly starrte mich an und ich sie. Sie kratzte sich die Nasenspitze und Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich will nicht, dass du Ärger für Dinge bekommst, die man hätte anders Regeln können. Verstehst du mich nicht?"
„Gegenfrage. Verstehst du mich nicht? Ich habe endlich die Chance, mir den Mörder und Peiniger meines Sohnes vorzuknöpfen, endlich damit abzuschließen. Er ist mir auf einem Silbertablett serviert..."
„Ja und?", unterbrach sie mich. „Es gibt andere Mittel und Wege, Sam. Rufen wir Verstärkung, lassen den Typen ordnungsgemäß verhaften. Der Weg, den du gehen willst, ist nicht der Richtige, obwohl..."
„Obwohl, was?", zischte ich.
„Obwohl er es echt verdient hat. Aber, dass ist beim besten Willen moralisch nicht vertretbar."
Holly schien nachzudenken und ich schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. „Es wird so oder so rauskommen, Sam. Du wirst gerade von deinem Hass geleitet. Versetz dich in die Lage eines Detectives, der nach den Gesetzen und Regeln des Landes spielt und nicht nach seinen eigenen."
Als ich meine Augen öffnete, sah meine kleine Schwester mich eindringlich an. Sie sah verletzt aus, ängstlich.
Ich schluckte und wich ihren Blick aus. „Wie würdest du handeln? Als Mutter, die so oder so eine festere Bindung zu dem Kind hat, als der Vater. Was ist, wenn es Jay und dein Kind wäre, welches vergewaltigt und getötet wurde? Was ist, wenn du den Mörder deines Fleisch und Blutes plötzlich vor deiner Nase hast? Würdest du das nicht auch tun wollen?"
Holly rümpfte die Nase. „Ja, natürlich, aber ich kann auch weiter denken..."
„Kannst du eben nicht", unterbrach ich sie scharf. „Tristan war eben nur dein Neffe und du nur die Tante. Du steckst nicht in dieser Ausnahmesituation, wo es nur einen Ausweg gibt, und zwar: seinen Sohn zu rächen." Ich rutschte ein Stückchen näher an Holly heran. „Mach jetzt nicht auf Moralapostel, kleine Schwester. Ich weiß, ganz genau, dass du auch Dreck am Stecken hast und Dad dich in einigen Dingen deckt."
Sie wich meinen Blick aus. „Mach was du willst", bemerkte Holly nur. „Aber mach's richtig, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Ich werde dich decken, wenn's sein muss, dir ein Alibi geben, wenn uns die Scheiße um die Ohren fliegt..."
„Vergiss das. Das werde ich nicht zu lassen. Fahr einfach und hol Mom ab. Die macht sich sicherlich auch schon sorgen."
Holly griff nach meiner Hand, die sich in der lockeren Erde vergriffen hatte und atmete tief durch.
Dann sagte sie etwas, was mir das Blut in den Adern zu Eis gefrieren ließ. „Wir haben schon bei anderem Scheiß zusammengehalten. Dann kriegen wir das auch gemeinsam hin. Schnappen wir uns den Kerl. Machen wir aus diesem Schwein Hackfleisch."
Entsetzt starrte ich Holly an, als sie aus ihrem Hosenbund eine kleine Pistole hervorzog.
„Was zum Teufel... Holly!"
„Halt einfach die Schnauze", sagte sie, für ihre Verhältnisse, viel zu kalt.
Das konnte ich alles beim besten Willen nicht glauben. Was passierte hier gerade?
Was passierte mit meiner kleinen Schwester?
Und warum ließ ich ihr das durchgehen? War erleichtert, dass ich dies nicht allein machen musste. Ich war ein schrecklicher Bruder, der seine kleine Schwester in seine Probleme mit hineinzog.
Aber...
Es war ihre alleinige Entscheidung und mehr als dagegen einzuwenden, konnte ich eh nicht.
„Ruf die Polizei an", sagte ich letztlich.
Holly starrte mich entsetzt an. „Was?"
„Ich sagte, ruf die Polizei ein und teile ihnen mit, dass wir einen gesuchten Serienmörder gefunden haben. Planänderung. Ich kann dich da nicht mit reinziehen."
Holly nickte nur. „Lass uns zurück zum Parkplatz vor dem Campingplatz. Dann machen wir es gemeinsam."
Ich blickte nachdenklich auf den Campingplatz und direkt in das grinsende Gesicht der Brünetten. Sie schaute direkt in unsere Richtung. Gott, dass war gruselig. Konnte die und überhaupt sehen? Das bezweifelte ich. Oder doch?
„Sam!", hörte ich Holly zu mir sagen.
In dem Moment, wo ich realisierte, was los war, schloss ich für einen Augenblick meine Augen und drehte mich dann vorsichtig um.
Ich lag in Rücklage auf dem kalten Boden und mir wurde direkt der Lauf einer abgesägten Schrotflinte an die Stirn gedrückt.
„Hallo, Lonnie. Hab schon gedacht, du lebst mittlerweile auf einem anderen Planeten!", bemerkte ich voller Ironie und schielte zu meiner Schwester rüber. Diese hatte die kleine Pistole direkt auf Lonnie gerichtet.
„Nimm sofort die Waffe runter, oder ich schieße ihm das Gesicht in tausend Teile!", knurrte Lonnie bedrohlich meine kleine Schwester an.
„Wie wäre es, wenn du die Flinte runternimmst, oder du kannst dich von deinen Eiern verabschieden?"
„Nimm. Die. Waffe. Runter!", schrie Lonnie Holly bedrohlich an und spuckte dabei Rotze mit sich. Er drückte mir den Lauf der Schrotflinte grober gegen die Stirnmitte, sodass es schon weh tat. „Ich zähle bis drei."
Holly zögerte einen Augenblick. „Ist okay, nimm bitte die Waffe runter", bat ich die ruhig, obwohl ich mir am liebsten vor Angst in die Hosen scheißen könnte. Holly legte die Waffe brummend auf den Waldboden, und Lonnie, der immer noch die Waffe auf mich gerichtet hatte, zog diese mit dem dreckigen Stiefel zu sich. Er hob die Pistole auf, schüttelte den Dreck ab und hielt sie jemanden hin.
Kurze Zeit später, kam die merkwürdige Brünette die Böschung runtergelaufen und zog Lonnie Hollys Pistole aus der Hand.
Sie zielte sofort auf meine Schwester.
„Durchsuch sie nach Handys und Waffen", befahl er ihr. Sie nickte schweigend.
„An eurer Stelle, würde ich keinen Fehler machen", drohte Lonnie uns, während die schweigende Brünette meine Schwester von oben bis unten abtastete. Sie fand Hollys Handy und steckte es letztlich in die Jackentasche ihrer Regenjacke. Dann kletterte sie über Holly drüber und hockte sich neben mich. Sie fand mein ausgeschaltetes Handy, welches sie ebenfalls einsteckte und sogar meine nicht registrierte Pistole, die sie direkt Lonnie weiterreichte.
Mir wurde augenblicklich klar, dass wir am Arsch waren. Ich würde definitiv daran schuld sein, wenn Holly und ihrem Baby etwas passiert. Wieso habe ich nicht auf sie gehört?
Lonnie schrie uns abermals an. Wir sollten aufstehen, keine Faxen machen und mitkommen. Während ich immer noch in den doppelten Lauf der Schrotflinte blickte, hatte die schweigende Brünette meiner Schwester abermals die Pistole vor die Brust gehalten. Schweigend stieg Holly auf und wurde sogleich ziemlich grob von der Frau gepackt.
Ich stand ebenfalls auf. „Lass meine Schwester gehen und wir machen das unter und aus", sagte ich.
„Einen Scheißdreck!", fuhr Lonnie mich an und schlug mir die Waffe in den Rücken.
Ich fluchte auf. „Geh!"
Dann setzte ich mich mit den anderen in Bewegung.

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