28

Jay
Die Milliarden von Sterne funkelten am klaren Nachthimmel um die Wette, der abnehmende Mond, stand hoch und zeigte sich ebenfalls von seiner besten Seite.
Immer wieder flogen Flugzeuge über uns hinweg, immer wieder warf ich Sam einen Blick zu, der mit geballten Fäusten und Wut in seinem Magen, starr aus dem Fenster blickte und das Haus der Rodigers nicht aus den Augen ließ. Durch die Dunkelheit, konnte ich nicht direkt seine Mimik deuten, aber so angespannt und wachsam wie Sam auf dem Beifahrersitz saß und durch die Frontscheibe auf das Haus an der anderen Straßenseite stierte, wusste ich, er würde jeden Moment aus dem Auto springen und Lonnie Rodiger höchstpersönlich zu einem Speicheltest zerren.
  Aber im Haus der Rodigers herrschte seit einer Woche gähnende Leere, kein Licht, keine Bewegungen hinter den geblichen Gardinen, keiner betrat oder verließ das Haus- niemand, als wären Lonnie und Abraham Rodiger wie vom Erdboden verschwunden, nachdem Streifenpolizisten von Haus zu Haus zogen, um die Männer zur freiwilligen Speichelprobe zu überreden.
  Einige fuhren sofort zur Wache und gaben die Probe ab, andere mussten mehrmals daran erinnert werden. Dann gab es da Personen, wie die Rodiger's die sich seit Bekanntmachung dieser Aktion regelrecht versteckten.
Für Sam, sagte diese Fluchtaktion offenbar alles, denn er verbrachte seine Arbeitszeit nur noch hier- mit Erlaubnis für die Observation und ich begleitete ihn dabei. 
Ich zählte auch einiges zusammen.
Die gefundenen Reifenspuren wurden analysiert und würden zu einem SUV der Marke Ford passen: Rodiger fuhr einen.
Drei der vier Jungen stammten aus Canaryville: wie Rodiger selbst, er hatte Ortskenntnis, konnte die Kameraüberwachung umfahren.
Die Sache im Imbiss vor Griffin Killians Tod: was wäre, wenn Griffin tatsächlich die Wahrheit sagte und Rodiger ihn tatsächlich unsittlich berührt hatte?
Und jetzt, nachdem ein Massentest an nicht vorbestrafte Männer angeordnet wurde, verschwanden Vater und Sohn.
Die Handys waren aus, sämtliches Geld von beiden Konto abgehoben, Abraham und Lonnie nahmen sich plötzlich Urlaub.
Das stank doch gewaltig! 
  Wir hatten uns für heute ein anderes Auto aus dem Fuhrpark mit den zivilen Wagen genommen, parkten versetzt zum Haus auf der anderen Straßenseite, damit wir das Haus und das Gartentor im Blick hatten.
Aber es tat sich nichts.
Während unserer Nachtschicht passierte nichts, selbst die anderen Streifenpolizisten, die tagsüber hier standen, berichteten von keinen Vorkommnissen.
Ich lehnte mich im Sitz zurück und griff aus der Getränkehalterung in der Mittelkonsole nach dem silber-blauen Energydrink.
„Willst du auch? Hab noch welche in der Kühlbox auf der Rückbank."
Fragend blickte ich ihn an und hielt ihm die Dose hin.
Nie und nimmer hätte ich eine Kühlbox auf eine Observation mitgenommen, aber Alvin, gab uns einige nützliche Tipps und Tricks mit auf dem Weg.
„Ich trinke diese Plörre nicht", winkte Sam mit einer Handbewegung ab, dabei ließ er das Haus immer noch nicht aus den Augen. „Dachte, du magst das Zeug auch nicht?"
Ich öffnete die Dose, roch sofort das übertrieben süßliche Getränk und nahm einen kräftigten Schluck. „Seitdem der Kaffee in der Nachtschicht nicht mehr hilft, trink ich das Zeug."
Sam rümpfte die Nase. „Na dann."
Ich trank noch einen Schluck, verzog wegen der Süße des Getränks das Gesicht und stellte die Dose zurück in die Halterung. „Holly wird sauer sein, wenn sie erfährt, dass ich erstmal in der Nachtschicht bleiben muss."
„Klar, verständlich. Du kommst nach Hause, wenn sie zur Arbeit muss und kommt dann nach Hause, wenn du zur Schicht fährst. Sie hat doch ein, oder zwei Tage die Woche frei- du nicht auch? Ich meine, ich hab normalerweise das Recht auf einen freien Tag während einer Urlaubswoche."
„Ich auch, aber dass Geld kann man immer gebrauchen", bemerkte ich.
„Habt ihr Geldprobleme?"
„Nein, kein bisschen, aber mein gebrauchtes Auto ist alt und ich muss in letzter Zeit echt viel erneuern- da kommt ein neues Auto billiger."
„Hast du schon ein Auto mit was du liebäugelst?"
„Ein Dodge Ram 1500, der Neue. Wäre schon toll."
Sam schnaubte belustigt. „Dann viel Spaß beim Sparen. Das Ding kostet ein Vermögen."
„Ich weiß", nickte ich. „Ist wie gesagt, nur ein Traum."
„Ich will meinen alten 3er BMW los werden. Der Coupé. Hab erst einiges erneuert, TÜV ist auch frisch, wenn du magst, mach ich dir ein Familienangebot."
„Bin nicht so der Fan von europäischen Autos. Die Gangschaltung in Hollys VW verwirrt mich schon."
Sam lachte. „Verwöhntes Kind. Kein Wunder, dass die meisten Amerikaner zu dumm zum Autofahren sind, wenn die nur mit Automatik fahren lernen."
„Gangschaltung soll so viel besser sein?", schnaubte ich belustigt und blickte zu Sam.
„Ich persönlich, finde Handschaltung halt besser, hab's schnell rausgehabt, da Dad auch nur mit Handschaltung fährt. Mom bleibt bei Automatik."
„Ich genauso. Danke für das Angebot, aber ich lehne ab."
Dann schwiegen wir wieder. Um kurz vor eins zog ich mein privates Handy hervor und schrieb Holly eine Nachricht. Ich wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde, vermutlich war sie schon im Land der Träume.
Ich wollte mein Handy gerade in dem Armlehnenfach verschwinden lassen, da setzte Sam sich aufmerksam hin. „Ey", bemerkte er und schlug mir leicht auf den Oberkörper.
Sofort griff er nach dem Fernglas, welches auf dem Armaturenbrett lag und hielt sich das vor die Augen.
Im Schein des Mondes und der wenigen Straßenlaternen, sah ich eine große und dürre Person, die komplett in schwarz gekleidet und mit einer Kapuze auf den Kopf vor dem Haus herumschlich. Von der Statur könnte der Typ Rodiger sein.
Meine Hand lag bereits auf dem Türgriff, aber Sam meinte, dass ich abwarten sollte, bis wir den Kerl genauer sehen würden.
Der Typ, der kurz das Haus beäugt hatte, ging den Weg zurück, von den er gekommen war.
„Fragen wir den mal!", sagte Sam und war als erster aus dem Auto gestiegen. Ich folgte ihm.

„Seine Angaben sind korrekt", bemerkte ich, und reichte Lance Rodiger, den jüngeren Bruder von Lonnie seinen Ausweis.
„Könnten Sie uns trotzdem auf die Wache begleiten und eine DNA-Probe abgeben?"
„Wie oft denn noch? Ich wohne im St. Louis und bin seit Monaten wieder hier, um meinem Vater und meinem Stiefbruder zu besuchen", wiederholte er sich.
„Abraham Rodiger ist als sein leiblicher Vater gelistet."
„Weil er meinen kleinen Bruder auch wie seinen leiblichen Sohn behandelt. Er ist nicht der biologische Vater, aber das interessiert uns nicht."
„Haben Sie eine Ahnung, wo die sich aufhalten können? Einen bestimmten Ort?"
Lance schüttelte seinen Kopf. „Wir hatten in letzter Zeit recht wenig Kontakt, weil wir uns gestritten haben. Sie können gerne meine Telefonnachweise, Email Verkehr und so weiter kontrollieren. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo sich die beiden aufhalten." Er hielt kurz inne und seine dunklen Augen verdunkelten sich nur noch mehr. „Sie glauben, dass einer von denen etwas mit den Morden an den Jungen zu tun hat?"
„Wir wollen selbst wissen, ob an den Vermutungen etwas dran ist, oder nicht", bemerkte Sam. „Aber so wie's aussieht, sind Ihr Vater und Ihr Bruder wegen dem Speicheltest abgehauen."
Lance nickte. „Ich kann Ihnen gerne meinen Speichel geben, um auszuschließen, dass ich damit was zu tun hab. Ich weiß ja nicht, ob das möglich ist, aber in der Serie Bones, da wurde, zum Beispiel, aus meiner DNA, die von meinem Vater gewonnen und dann mit den Leichen abgeglichen. Geht das?"
„Das geht tatsächlich und wäre der Plan gewesen. Würden Sie uns dann aufs Revier begleiten, damit wir Ihre Daten aufnehmen und die Probe entnehmen können?"
Lance Rodiger zeigte sich weiterhin koperativ und stimmte dem Vorschlag zu.
Wenigstens könnten wir so Abraham Rodiger ausschließen. Es wäre so viel einfacher gewesen, wären die „Brüder" Blutsverwandt, ebenso wie „Vater" und „Sohn"...

Lance sagte auch so die Wahrheit. Er war wirklich seit Monaten nicht mehr in Chicago gewesen und zu den Zeitpunkten der Morde, war er in einer Paketfirma am arbeiten.
Kontakt zu seinem Vater und seinem Stiefbruder bestand auch nicht und der DNA-Test war negativ. Lance Rodiger ist unschuldig, genauso wie Abraham Rodiger, der ebenfalls abgeglichen wurde. Mein ungutes Gefühl, dass Lonnie der gesuchte Täter war, wurde stärker.

Zwei Stunden vor Feierabend, stand das Zivilfahrzeug vor dem Haus, aber Sam und ich, suchten einen Weg, um dort hineinzukommen.
Wir wollten, auf illegalen Wege an Lonnie's DNA kommen, auch wenn uns diese Aktion, unseren Job kosten würde.
Wir hatten es in den Flur geschafft, versuchten so wenig mit dem Taschenlampen an den Fenstern herumzuwursteln, damit die Nachbarn nicht hellhörig wurden. Im Eingangsbereich und Flur fand man keine Möbel vor und selbst im restlichen Haus, wirkte es, als hätte hier niemand gewohnt.
Wo waren die Möbel hin?
Die Nachbarn hatten angeblich nichts mitbekommen, oder gesehen.
Aber dies war typisch für das Viertel- jeder deckte jeden. Von Jahr zu Jahr wurde das schlimmer.
Im Keller fanden wir nichts. Nur leere Regale und ein einziges Glas eingelegter Pfirsiche, ja, die sahen aus wie Pfirsiche.
Sam fluchte auf. „Toll, wer weiß, ob's hier überhaupt Fingerabdrücke gibt. Die haben alles feinsäuberlich geputzt."
„Hm, schon komisch", murmelte ich und leuchtete über den sauberen Betonboden. „Das Haus steht noch nicht mal zum..."
Als ein wenig Licht auf die Holztreppe schien, fuhr ich fürchterlich zusammen.
Auf der obersten Stufe konnte ich Beine erkennen, Füße in irgendwelchen Männerstiefeln. „Chicago PD!", rief ich, zog meine Dienstwaffe hervor und richtete diese mit samt der Taschenlampe auf die schwarz gekleideten Beine.
Dann atmete ich hörbar aus. „Voight!"
Unbeeindruckt starrte er mich an.
„Ich hoffe, Sie haben die Erwachsenenwindeln an, Halstead!", bemerkte Alvin, der neben Voight auftauchte.
„Die sind voll!", gestand Sam.
Ich nahm die Waffe runter und steckte sie zurück ins Holster.
„Sie wissen, dass das hier Einbruch ist?", machte Voight uns ruhig darauf aufmerksam.
„Wir wollten doch nur irgendwas finden", warf Sam ein.
„Die ganzen Möbel sind weg", bemerkte ein weiterer Typ, der ebenfalls die Treppen runterkam. „Gar nicht merkwürdig. Ich frage nach, ob einer der beiden eine Lagerhalle angemietet oder einen Umzugsunternehmen kontaktiert hat. Aus den Nachbarn bekommt man eh nichts raus."
„Klar, danke, Dawson."
Der Latino mit dem dunklen Haar, blickte zu Sam und mir. „Hätte schwören können, dass eine Frau Chicago PD gerufen hat."
Dieser Dawson war daraufhin wieder nach oben verschwunden. Ich runzelte die Stirn.
„Was erhoffen Sie hier zu finden?"
„Hinweise."
„Inwiefern?"
„Irgendwas an dem Lonnie's DNA klebt."
„Hm." Voight schnalzte mit der Zunge. „Nicht mal eine Zahnbürste in den Badezimmern?"
Ich schüttelte meinen Kopf. „Nichts. Nur die eingelegten Pfirsiche im Regal."
Ich leuchtete auf das einsame Glas in einem der Schwerlastenregale. Voight fuhr mit seiner Taschenlampe über den Boden. „Sieht neu aus", bemerkte dieser. „Der Betonboden wurde definitiv erneuert."
„Hab ich auch schon gesehen", sagte Sam und deutete auf die Wand unter der Treppe. „Guck, Hank, die Wand wurde auch neu gegipst."
„Hm-mm", brummte er.
Voight drehte die Taschenlampe in seinen Händen, stellte sich vor die Wand und holte aus. Hinter den Schlägen, steckte vermutlich eine Menge Ärger, die Gipswand zersprang in tausend Teile, während Voight diese weiter bearbeitete. Als auf seine Schulterhöhe ein riesiges Loch in der Wand klaffte, drehte er die Taschenlampe wieder um und leuchtete in das Loch hinein.
„Was zum Teufel ist denn hier los?", rief dieser Dawson und stürmte die Treppen hinunter.
„Rufen Sie die Spurensicherung an", Voight rümpfte die Nase. „Wir haben einen weiteren Leichenfund."
Ich schluckte, während Al immer noch die Taschenlampe auf Voight und das Loch in der Wand hielt.
Dawson nickte.
„Ein weiteres Kind?", wollte Sam leise wissen.
Voight verneinte mit einem kleinen Kopfschütteln. „Sieht wie eine Frau aus."
Ich trat automatisch näher. Im Schein der Taschenlampe starrte mir direkt das augenlose und mumifizierte Gesicht einer dunkelhaarigen Frau entgegen, die in eine Plastiktüte gestopft wurde.
Der Mund war leicht aufgerissen, die Zähne standen hervor, ob die Frau weiß, oder schwarz war, konnte man nicht einschätzen.
Auch wenn die Leiche keine Augen mehr hatte, starrte sie mir hilflos in die Seele hinein.
Ich wandte mich ab, drehte mich zu Sam, der sich abermals in dem Regalen umschaute- vermutlich nach Fingerspuren im leichten Staub. Ich leuchtete abermals auf das Glas mit den eingelegten Pfirsichen, sah, dass ein fast komplett loses Etikett auf der anderen Seite hinab hing. Ich fasste das Glas mit meinen behandschuhten Fingern am festverschlossenen Deckel an und drehte es so zu mir, dass das umgeklappte Etikett in meine Richtung zeigte. Das Etikett glich eher weißbräunlichem Klebeband.
Mit meinem Zeigefinger strich ich das Klebeband an der richtigen Stelle.

A M T A G

wurde dort mit einem schwarzen Stift, vermutlich Edding, draufgekritzelt.
Was hatte das zu bedeuten?
Wieder drehte ich das Glas, die wenigen Pfirsiche, die auch schon mal bessere Tage erlebt haben, sie waren eher blass und groß, aber irgendwas war da noch. Runde, Platte irgendwas. Ich schüttelte das Glas, damit sich die beiden platten Dinger zu mir drehen konnten. Sie waren dunkelrot unterlaufen, sahen merkwürdig aus, zwischendurch sah man helle Punkte und einen direkten roten Knubbel in der Mitte von einem der flachen Dinger.
„Dreh noch mal um, Halstead! Das Etikett."
Ich wandte mich leicht erschrocken zu Al, der neben mir stand und mit Entsetzen auf das Glas blickte. Wie befohlen, drehte ich das Glas und zog das beschriftete Klebeband lang.
„A M T A G? Amtag? Am Tag? Was soll das bedeuten?"
Al Olinsky warf einen Blick über die Schulter, ich trat zur Seite, als Voight zu uns kam.
„Sieht doch nachdem aus, was ich denke, hm?", fragte Al ihm.
Voight presste die Lippen zusammen, gab kein Nicken, oder Geräusch von sich.
Er drehte sich um. „Ich gebe sofort eine landesweite Fahndung nach Lonnie Rodiger und Abraham Rodiger aus! Wir haben Sie!"
Voight lief die Treppen nach oben und ich wandte mich zu Alvin. „Was zum Henker ist das?", fragte Sam.
„Keine Pfirsiche", murmelte ich.
Al nickte. „Zwei abtrennte Brustwarzen und Hoden."
Mir wurde augenblicklich schlecht und ich wandte mich von diesem Anblick ab.
„Und Amtag?"
„Das A, keine Ahnung, das M, ebenso wenig Ahnung, aber das T, das A und das G haben eine Bedeutung. Das macht Sinn."
Alvin schwieg und starrte weiterhin auf das Glas.
Nach strengen Nachdenken, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich blickte zu Sam, dessen Nasenlöcher sich vor Wut geweitet hatten. „Wir müssen diesen Hurensohn kriegen", bekam Sam gerade noch so raus, ehe er sich mit Tränen in den Augen von allem abwandte.
Tristan, Alexej und Griffin.
Ich schluckte hart und wandte mich ab.
Kommen wir endlich zum Ende?

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