Kapitel 9 - Annika
Lukas meldete sich die ganze Woche über nicht, worüber ich ehrlich gesagt nicht böse war. Frisch vom letzten Saufurlaub zurück hatte er spontan beschlossen mit der nächsten Gruppe Skifahren zu gehen. Sowie ich Lukas kannte würde die Abriss Ski Party dabei keinesfalls zu kurz kommen. Ich gönnte es ihm und trotzdem war da eine kleine Stimme in meinem Kopf, die ja nach meiner Stimmung schmollte oder motzte, dass er auch ein paar Tage mit mir verbringen könnte. Doch ich gab mein Bestes sie zu ignorieren und genoss stattdessen die Zeit mit meinen Freunden, den Kindern, meiner Mom und das gemeinsame Laufen mit Ben. Er war aufmerksam und taute mit jedem Mal mehr auf. Unsere Unterhaltungen flossen locker dahin, mal interessant, mal witzig, mal tiefgründig, weswegen ich gern meine Zeit mit ihm verbrachte. Ich schrieb ihm immer, wenn ich mich für das Laufen fertigmachte, dann trafen wir uns am Tierheim. Ich konnte es ihm ansehen, wie die Hunde sein Herz zum Schmelzen brachten und ich musste allein bei der Erinnerung schon lächeln. Der Sonntag war ein verregneter Tag, weswegen wir am Ende jeder mit einem Regenschirm in der einen und die Hundeleine in der anderen Hand spazieren gingen. Er hatte mich aufgrund des Regens sogar abgeholt.
„Willst du den nicht machen?" Wir unterhielten uns gerade über meinen nicht vorhandenen Führerschein.
Ich zuckte mit den Schultern. „Bisher bin ich ganz gut ohne klargekommen." Ben sah mich an, als hätte ich zwei, wenn nicht gar drei Köpfe. „Schau mich nicht so an", verlangte ich von ihm und schlug mit meiner Faust locker gegen seinen Oberarm. Während ich überrascht quietschte, gab er ein protestierendes Geräusch von sich. Es war die Hand mit dem Schirm gewesen, weswegen mir nun eiskaltes Wasser über Nacken und Rücken lief und er hatte einige Tropfen ins Gesicht bekommen. Ich lachte, während er schmunzelnd den Kopf schüttelte. Die Hunde hatten kurz zu uns gesehen, liefen jedoch unbeeindruckt weiter. Die beiden schienen nicht allzu viel von dem nasskalten Wetter zuhalten.
„Ich kann mir meinen Alltag ohne Auto gar nicht vorstellen." Seine Stimme verriet mir, dass er es wirklich versuchte, aber scheiterte. Vermutlich war es leichter für mich, da ich diesen Luxus auch aus meiner Kindheit nicht kannte. Meine Mom und ich waren schon immer von dem Öffentlichen Nahverkehr abhängig gewesen.
„Siehst du, da geht es schon weiter. Erst kostet der Führerschein ein ganzes Vermögen und um ihn dann wirklich nutzen zu können, brauche ich ein Auto. Das kostet, genau wie die Versicherung, die Wartung, TÜV, Sprit und so weiter. Das ist ein riesiger Rattenschwanz und das für die paar Mal, wo es wirklich geschickt wäre. Ich weiß nicht." Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte schon öfters darüber nachgedacht, mich jedoch noch immer nicht dazu durchringen können.
„Du könntest dir dann aber einen Mietwagen nehmen, wenn du mal einen brauchst."
„Und dann bin ich eine Verkehrsbehinderung, weil ich nur aller zwei Monte fahre und ich vollkommen ungeübt bin?" Skeptisch sah ich ihn unter dem Regenschirm an. Zerknirscht nickte er. „Ich verstehe, was du meinst."
„Im Urlaub finde ich es manchmal ärgerlich. Wenn wir einen Roadtrip machen, müssen immer alle anderen fahren und ich kann meine Unterstützung nie anbieten", gab ich zu. Es war nicht alles an meiner Führerscheinlosigkeit perfekt. Urlaub war tatsächlich die Situation, die am häufigsten zu der Überlegung Führerschein oder nicht führte.
„Reist du gern?", wechselte Ben das Thema. Anders als Lukas schien er sich nicht daran aufhängen zu wollen, dass ich nicht Auto fahren konnte, sondern akzeptierte es. Akzeptierte mich. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich bei unserer Unterhaltung angespannt hatte, trotzdem fühlte sich das Atmen jetzt gleich viel leichter an.
„Ja, aber ich komme fast noch lieber wieder nach Hause zurück." Vielleicht lag es daran, dass ich seitdem ich mein eigenes Geld verdiente, oft unterwegs war. Vielleicht lag es aber auch einfach an all die Personen, die zuhause auf mich warteten und die mir so wichtig waren.
Bens Lachen war tief und warm. Es brachte mich automatisch auch zum Lächeln. „Das ist gut, ich denke, so sollte es für jeden sein." Das war es nur leider nicht. Unweigerlich musste ich an Lukas denken. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht schnell genug von hier fortkommen konnte, und ich war mir mittlerweile fast sicher, dass er nicht wieder kommen würde, wenn er es endlich geschafft hatte. Noch nie hatte ich diesen Gedanken so klar formuliert, sondern immer nur dieses Gefühl gehabt.
„Alles okay?", fragte er mich, mein Blick flog zu Ben. Er musterte mich und ich meinte Sorge zuerkennen. Diese Aufmerksamkeit war so ungewohnt, dass sie etwas in mir berührte. Ich lächelte unbewusst. „Ja, ich war nur in Gedanken." In seiner Gegenwart viel es mir überraschend leicht meinen Ärger mit Lukas zu vergessen.
„Und wie sieht es mit dir aus? Reist du gern?" Ich wollte meine Zeit nicht mit Gedanken an Lukas verschwenden. Solange wir nicht miteinander sprachen, würde sich an der Situation nichts ändern. Da konnte ich die Gedanken noch so oft hin und her wenden, wie ich wollte.
Ben wirkte nachdenklich, seine Antwort brauchte einen Moment, in dem nur das Geräusch des Regens und unsere Schritte auf dem aufgeweichten Boden zu hören waren. „Eigentlich schon, aber ich war die letzten Jahre nicht mehr viel unterwegs."
„Was hat sich geändert?", hackte ich neugierig nach.
Nun war er es, der mit den Schultern zuckte. „Ich weiß es nicht so genau. Mein Leben. Früher habe ich immer Urlaub mit meiner Familie gemacht, irgendwann waren es dann kleinere Urlaube mit Freunden. Nach meinem Abi habe ich ein Jahr im Dschungel verbracht. Als ich wieder kam, habe ich mich auf das Studium konzentriert. Ein zweimal war ich mit Freunden in Europa unterwegs. Cat und ich habe auch die Ost- und Westküste der vereinigten Staaten besucht. Nachdem Studium ist es immer weniger geworden", erzählte er. „In den letzten Jahren bin ich nur noch das ein oder andere Mal in den Kongo gereist."
„Zurück in den Dschungel?", zählte ich eins und eins zusammen, schließlich war es nicht das klassische Reiseziel. Wobei Ben auf mich ohnehin wie jemand wirkte, der sich nicht mit einem klassischen Hotelurlaub zufriedengab. Er sah zu mir und nickte. Seine Stirn war gerunzelt und sein Kiefer trat stärker hervor. Er wirkte ein wenig angespannt. Seufzend fuhr er sich durch die Haare, sein Blick richtete sich nach vorn, als er sprach: „Ja genau. Ich habe da fast so etwas wie eine zweite Familie gefunden und ich liebe die Natur, das Klima. Die Tiere, die Pflanzen... es ist alles so anders." Mit seinen Gedanken war er in diesem Moment wieder im Dschungel, ich sah es an seinem Blick, der durch die Bäume hindurch etwas ganz anderes sah und wünschte ich könnte es ebenso sehen.
„Das klingt toll. Wie kam es dazu, dass du für ein Jahr in den Dschungel gegangen bist?"
Seine Lippen pressten sich aufeinander und ich sah, wie sein Gesicht sich vor mir verschloss. Offensichtlich hatte auch Ben Themen, über die er nicht sprechen wollte. Sofort ruderte ich zurück: „Du musst es mir nicht erzählen. Tut mir leid, dass ich so neugierig war."
Er schüttelte den Kopf und sah mir dann mit diesem konzentrierten Blick in die Augen. „Das muss es nicht. Ich wäre es mit Sicherheit auch, aber ich denke, dass ist eine Geschichte für einen späteren Zeitpunkt." Ich nickte, nur zu gut verstand ich ihn.
Wir wandten uns wieder unverfänglicheren Themen zu und ich stellte fest, dass er sich begeistert mit Finanzthemen auseinandersetzte und an der Börse spekulierte. Fasziniert endlich jemand gefunden zu haben, der sich genauso gern mit diesem Thema befasste, fragte ich ihn über seine Strategie und Vorgehensweisen aus, was er mir, nachdem er seine Überraschung über meine Fachkenntnisse in diesem Bereich überwunden hatte, mit genau so vielen Fragen aufwog.
Außer meiner Mom und Taliah wusste niemand, dass ich fleißig an der Börse spekulierte und alles zu diesem Thema weit über mein berufliches Interesse hinaus in mich aufsog. Zwar hatte ich es bei Lukas mal angesprochen, ob er sich nicht auch damit auseinandersetzten wollte, aber ich hatte ihm nie verraten, wie erfolgreich ich damit war. Geld war nicht das leichteste Thema in unserer Beziehung.
Ben und ich fachsimpelten so sehr, dass wir nicht einmal richtig bemerkten, wie wir vor dem Tierheim ankamen und einfach stehen blieben, um weiter zu reden. Wanda war es schließlich, die sich auf Bens Füße setzte und bettelnd zu uns aufsah. Lachend sahen wir sie an. Sie hielt offensichtlich noch weniger vom Regen als wir. Ben setzte mich wieder zuhause ab. „Gute Nacht, Annika."
„Gute Nacht, Ben." Mir wurde bewusst, dass wir uns morgen nicht sehen würden und ich empfand so etwas wie Bedauern. In mir regte sich der leise Verdacht, dass ich ein bisschen zu gern die Zeit mit ihm verbracht. Ich wischte ihn beiseite. Nichts sprach gegen neue Freundschaften.
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