Kapitel 3 - Ben
In der Loftwohnung herrschte ein produktives Chaos. Meine kleine Schwester wuselte in der Küche herum, wischte Schränke aus und räumte Geschirr ein. Dabei wackelte sie mit den Hüften zu irgendeiner Musik, die nur sie durch ihre AirPods hörte. Einer der Möbelpacker hatte fast einen Karton mit Tassen und Gläsern fallenlassen, als er sie das erste Mal entdeckte. Ein Blick von mir hatte gereicht, sodass er seitdem einen Bogen um die Küche machte. Nicht dass es viel half, denn Cat schien mit ihren offenen blonden Locken und dieser perfekt sitzenden Hose jeden Mann in ihrer Umgebung in den Wahnsinn treiben zu wollen. Mir raubte sie mit der Aufmerksamkeit, die sie damit auf sich zog, jedenfalls jeden Nerv.
Meine Mom war derweil im Bad beschäftigt, packte Handtücher, Seifen und sonstiges aus, während ich schaute, dass die Möbelpacker alles dahin brachten, wo ich es haben wollte. Dad organisierte uns derweil das Mittagessen.
Wir nutzten das Wochenende für meinen Umzug. Ich hatte meine Familie nicht davon abhalten können mir zu helfen, dabei wollte ich ihnen nicht noch mehr zu Last fallen, als ich es ohnehin schon tat. Meine Schultern waren verspannt, während mein Blick wachsam umher glitt. Unter meiner Haut spürte ich die Bewegung, spürte das bekannte Spannen, ja schon fast Reißen meiner Haut, doch drängte es mit aller Gewalt zurück. Jetzt nicht, befahl ich dem wilden Teil meiner selbst.
So viel Chaos, so viele Menschen um mich herum, vor allem so viele fremde Menschen, löste eine unerklärliche Aggression in mir aus. Am liebsten hätte ich gefaucht und mich auf jeden dieser Eindringlinge in meinem neuen Heim gestürzt. Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch. Es half nicht viel. Es roch nach altem Backstein, frischer Farbe, Schweiß, Aufregung und Staub. Die meisten Gerüche waren neu und unvertraut. Dabei hatte ich meinen Vater hoffnungsvoll zugesagt, als er mir anbot dieses Projekt in einer Kleinstadt viel weiter im Süden Deutschlands zu übernehmen. Ich hatte nicht mehr ein noch aus mit mir gewusst. Die vertraute Stadt, die vielen Menschen, die Häuser, der fehlende Wald, die fehlende Freiheit, die Natur, die ich so schmerzlich vermisste, dieses kontinuierliche Fehlen, dieses Sehnen nach etwas das ich nicht greifen konnte, einfach alles schien mich an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Die Wut wurde stärker, die unkontrollierten Ausbrüche häufiger, meine Gereiztheit bei den kleinsten Kleinigkeiten nahm stetig zu. Letzten hatte Natalie, die gute Seele in unserem Büro die Unterlagen verwechselt und ich hatte so die Beherrschung verloren und mit Worten meinen Unmut Ausdruck verlieren, dass sie am Ende weinend aus dem Büro gerannt war. Schlussendlich hatte ich unseren Drucker aufgeschlitzt. Zum Glück nur ein Gegenstand und kein Mensch, trotzdem... Ich konnte mich selbst mittlerweile nicht mehr im Spiegel ansehen. Ständig attackierte ich den Sandsack, dennoch nahmen immer mehr Geräte schaden, von den Wänden in meiner Wohnung gar nicht zu reden. Viel zu oft fuhr ich mit dem Auto zum nächsten Wald und ging laufen. Auch in meiner anderen Gestalt, ich ging dieses deutlich zu große Risiko einer Entdeckung ein, weil ich es nicht mehr als Mensch aushielt, weil ich viel zu nah daran war, die Kontrolle zu verlieren. Ich hatte mehr als ein Jahr im Dschungel verbracht, hatte mich, meine Raubkatze und all unsere Geheimnisse kennen und kontrollieren gelernt. Und nun? Zehn Jahre später fühlte ich mich hilfloser und näher mit dem Rücken an der Wand als jemals zuvor. Ich hatte Angst, den Verstand und noch viel mehr die Kontrolle zu verlieren. Meine wilde Seite wollte ausbrechen, wollte Kämpfen und Blut sehen. Es wurde mit jedem Tag schlimmer.
Dieser Ortswechsel war mein Versuch die Kontrolle zurückzugewinnen, in dem ich ihr zumindest einen Teil dessen gab, was meine wilde Seite verlangte. Mehr Freiraum, mehr Natur, mehr Möglichkeiten in meiner anderen Gestalt unterwegs zu sein. Aber vor allem brachte es mich von meiner Familie fort, schützte all die, die mir wichtig waren. Sollte ich doch die Kontrolle verlieren, würden nicht sie es sein, deren Blut am Ende an meinen Händen klebte.
Ich war mir nicht sicher, ob Dad wusste, was in mir vorging. Natürlich hatte er den zerstörten Drucker gesehen und bemerkt, dass Natalie einen Bogen um mich nahm, wann immer die Möglichkeit bestand. Daraus machte ich ihr auch keinen Vorwurf. Aber hatte er auch all die anderen Male bemerkt? Hatte er gesehen, wie ich immer wieder atmete und die Fäuste ballte? Wie ich immer wieder Abstand suchte? Dass ich nachts verschwand und mich in die Wälder flüchtete, konnte er nicht bemerken. Ich war längst aus meinem Elternhaus ausgezogen. Ich hatte meinen Vater nie darauf angesprochen und traute mich auch nicht, es zu fragen. Sollte er es nicht bemerkt oder es nicht richtig interpretiert haben, wollte ich ihn nicht zusätzlich beunruhigen. Zudem würde dieses Gespräch nichts an meiner Entscheidung ändern. Ich würde es hier versuchen und sollte all das nichts bringen, sollte ich schauen, dass ich so schnell wie möglich in den Dschungel verschwand. Tiao hatte es mir versucht zu sagen und ich hatte es in meiner ignoranten Dummheit nicht verstanden. Langsam kamen mir seine Worte wieder in den Sinn und unweigerlich fragte ich mich, ob auch der Rest all dieser Legenden stimmte.
„Hey Ben!", meine Schwester berührte zeitgleich mit ihren Worten meinen Arm und ich fuhr erschrocken zu ihr herum, bleckte die Zähne und hätte fast gefaucht. Meine Augen waren Katzenaugen, dass wusste ich, da sich meine Sicht verändert hatte. Der Leopard drängte mit solcher Macht vor... Krallen schnitten in meine Handfläche und ich roch mein eigenes Blut. Mein Leopard brüllte auf und verlangte nach mehr Blut. Das Blut eines oder noch besser mehrerer anderer. Ich spürte, wie die Wandlung mich vereinnahmen wollte, wie meine Knochen sich bereits zu verformen begannen. „Ich muss raus!", schaffte ich es noch zu Cat zu sagen, wobei meine Stimme schon verzerrt klang. Ich hatte keine Zeit zu verlieren, wenn ich den Menschen nicht offenbaren wollte, dass es Leopardenmenschen gab. Unerschrocken wie Cat war, schließlich wusste sie schon lang, was ich war, trat sie nur zur Seite und nickte. „Geh, ich kümmere mich um alles."
Ich stürzte an den beiden Möbelpackern mit der Couch in ihrer Mitte, die mich erschrocken anstarrten, vorbei aus der Tür hinaus. Ich riss mir, als ich die Treppe heruntersprintete, den Pullover vom Leib und knöpfte die Hose auf. Es reichte nicht einmal komplett aus dem Gebäude heraus, als ich auf alle Viere fiel, die Knochen knackten, brachen und neue Gestalt annahm. Als Leopard brüllte ich verärgert und versuchte die Hose abzustreifen. Ich konnte nur hoffen, dass meine Familie sich um die Sachen kümmerte. Ich war dazu in diesem Moment nicht in der Lage. Mein Leopard sprintete über das verlassene Firmengelände, dass ich gekauft und als meine neue Unterkunft ausgewählt hatte und schlüpfte aus dem offenen Tor nach draußen. Ich überquerte die leere Straße und dann war ich in der Sicherheit des Waldes. Voller Wut zerkratzte der Leopard brüllend die Rinde eines Baumes, dann stürzte er sich auf den Nächsten. Schlug mit seiner Pfote verärgert über den feuchten Boden und sprang dann auf einen Baum und zog sich hoch bis in die Krone.
Es war das erste Mal, dass ich diesen Wald erkundete. Eigentlich hatte ich das erst für den nächsten Tag vorgesehen. Es tat mir leid, dass ich meine Familie mit meinem Zeug in meiner neuen Wohnung allein ließ. Doch ich hatte es nicht mehr geschafft, den Leoparden in Zaum zu halten. Ich ließ ihn frei und zog mich zurück, folgte seiner Toberei und hielt mich bereit einzugreifen, sollte es erforderlich sein. Remi, so nannte ich meinen Leoparden, erlegte einen Hasen, wobei ihn diese Beute nicht zufriedenstellte, aber es war besser als nichts. Er hinterließ Duftmarken, rieb sich an Bäumen und Sträuchern und markierte dieses Revier unmissverständlich als seines. Als ich mich auf den Heimweg machte, war es bereits dunkel. Die Möbelpacker waren nicht mehr da und auch der Wagen meiner Eltern war nicht mehr zu sehen. Sie hatten von Anfang an geplant in einem Hotel zu übernachten. Innerlich seufzte ich und wünschte mir ihnen der Sohn sein zu können, den sie verdienten. Doch ich schaffte es nicht, ich konnte den animalischen Teil meiner selbst nicht verdrängen. Meine Sachen lagen ordentlich gefaltet auf der ersten Treppenstufe. Anhand des Geruchs erkannte ich, dass meine Mom sie mir bereitgelegt hatte. Ich war unglaublich dankbar für das Verständnis, dass meine Familie mir entgegenbrachte und wünschte mir, ich könnte es ihnen auch nur in entferntester Weise zurückgeben. Dabei schien ich aktuell jeden Tag ein kleines Bisschen mehr zu versagen. Egal wie hart ich arbeitete, wie hart ich trainierte, was ich erreichte und welche Erfolge ich feierte. Es zählte alles längst nicht mehr, ich verlor jeden Tag mehr die Kontrolle und es war mir nur zu bewusst. Ich wandelte mich und zog mich an, dann machte ich mich auf den Weg nach oben. Dabei warf ich einen Blick in die verwaiste Fabrikhalle. Es war eine ehemalige Druckerei, die ich zu einem Spotpreis erworben hatte. Links unter mir befand sich die Druckhalle und oben rechts waren die Büroräume gewesen. Ich hatte sie zu einer offen recht großzügigen Loftwohnung umbauen lassen, daneben ein einfaches Büro für mich und ein Fitnessraum. Ich hatte mir dieses Gebäude bewusst ausgesucht. Es lag am Stadtrand, direkt daneben grenzte ein sehr großzügiges Waldstück und es war aufgrund der vielen Industriegebäude um mich, nicht zu stark besiedelt. Es schien mir fast schon perfekt für meine Bedürfnisse.
Als ich meine neue Wohnung betrat, sah ich, dass alle Möbel drin standen. Es war nicht alles am richtigen Platz, das erwartete ich auch nicht. Nicht, nachdem ich meine Familie den ganzen Nachmittag allein gelassen hatte. Cat saß auf dem Sofa mit einem Weinglas in der Hand und sah eine Serie. Es war nur ein gedämpftes Licht weiter hinten über der Kücheninsel an. Sie sah mich nicht und ich klopfte vorsichtig gegen den Türrahmen in der Hoffnung sie so nicht zu verschrecken. Vergebens. Sie sprang auf und kippte dabei den Wein fast aus. Gefährlich schwappte es im Glas, während sie zu mir sah wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich knipste das Licht neben mir an und sah, wie sie erleichtert ausatmete. Innerlich schalte ich mich einen Idioten. Ich vergaß immer wieder, wie schlecht die Augen der Menschen waren.
„Sorry, Cat!", entschuldigte ich mich bei ihr und wusste nicht ganz, was ich tun sollte. Es tat mir jedes Mal so leid, wenn ich meine Familie so vor den Kopf stieß. Cat stellte das Glas ab und stürzte auf mich zu. Ihre Arme schlangen sich um meinen Hals und ich legte meine Hände vorsichtig auf ihren Rücken. „Du bist wieder da", murmelte sie erleichtert.
„Natürlich", brummte ich reuevoll und hielt sie ein wenig fester. „Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angegangen bin."
Cat trat zurück und grinste. „Mach kein Drama draus, Benni, ich kenne dich. Ich weiß, dass du mich trotzdem lieb hast."
Ich seufzte erleichtert. Dankbar dafür, dass es mit Cat und mir immer so einfach war und sie mich so nahm wie ich war. Ebenso wie Cat war ich adoptiert, weder mit ihr noch mit meinen Eltern war ich blutsverwandt. Es war somit für uns alle ein Schock gewesen, als ich mich das erste Mal in einem Leoparden wandelte. Wir waren fast noch Kinder gewesen. Sie elf und ich zwölf und wie so oft damals, hatten wir uns über irgendwelche Banalitäten gestritten. Ich wusste längst nicht mehr um was es ging, aber ich wusste, dass ich sie an den Haaren zog und sie dafür an meinem Ohr riss. Ich erinnerte mich noch heute an den Schmerz, der sich von meinem Ohr durch meinen ganzen Körper ausbreitete. Wie die Haut spannte und gefühlt riss, wie meine Knochen sich verbogen und brachen und auf einmal verwandelte sich meine Sicht, meine Nase roch so viel mehr und alles fühlte sich anders an. Cat saß wie erstarrt auf dem Boden und sah mich mit Riesenaugen an, während Mom schrie und Dad auf uns zu stürzte. Ich verstand seinen Gesichtsausdruck nicht, aber als er Cat hochnehmen wollte, schrie sie auf und ich stürzte fauchend vor. Er sollte sie in Ruhe lassen. Der Streit mit meiner Schwester war vergessen, durch all die Veränderungen in den Hintergrund gedrückt.
Dieser Tag war für uns alle ein großer Schock gewesen. Er hatte uns alle erschüttert und uns durcheinandergebracht. Wir hatten Wochen gebraucht, um das zu verarbeiten und ich noch viel länger, um mich selbst neu kennen und beherrschen zu lernen. Noch immer war ich dankbar, dass meine Eltern mich nicht verraten und weggegeben hatten. Auch heute verstand ich nicht, woher sie den Mut und die Kraft nahmen, die ihre Entscheidung erforderte und manchmal fragte ich mich in den ganz besonders schlimmen Momenten, ob sie ihre Entscheidung nicht mittlerweile bereuten. Dabei gaben sie mir nicht einmal das Gefühl unerwünscht zu sein oder dass ich ihnen eine Last war. Und auch Cat nicht, ganz im Gegenteil.
„Im Kühlschrank steht dein Essen und Mom würde sich riesig freuen, wenn du kurz bei ihr anrufst", klärte sie mich auf und ging dann wieder zurück zur Couch. Ich war ihr dankbar für die Ruhe und Gelassenheit, die sie mir vermittelte. Mein Leopard mochte nahezu keine Menschen, aber Cat hatte er fast genauso ins Herz geschlossen wie ich. Während ich bei meiner Mom anrief und ihr versicherte, dass ich okay war und mich auch wieder im Griff hatte, holte ich das Essen aus dem Kühlschrank und stellte es in die Mikrowelle.
Mit dem Essen in der einen und Besteck in der anderen Hand gesellte ich mich zu meiner Schwester auf die Couch. Sie würde hier übernachten. Wenn wir uns nicht gerade piesackten, waren wir wie meine Mom so gern sagte, ein Herz und eine Seele.
„Willst du auch ein Glas Wein?", erkundigte sie sich und schenkte mir ein Glas ein, als ich nickte. „Auf deine neue Heimat!" Unsere Gläser klirrten leise, als wie anstießen, dann war es ruhig. Während ich aß, setzte Cat die Serie fort. Als ich erkannte, was sie sah, stöhnte ich gequält.
„Du schaust dir den Scheiß doch nur wegen den Typen an." Ich wusste, dass sie ein Faible für diesen Schauspieler hatte und ließ keine Gelegenheit ungenutzt sie damit aufzuziehen.
„Ach, halt die Klappe, als würde dir die Schauspielerin da nicht gefallen", warf sie mir entgegen und beachtete mich nicht weiter. Ich ließ es unkommentiert und wies meine kleine Schwester nicht daraufhin, dass ich mich immer öfters von Frauen fern hielt, da fast nichts meinen Leoparden so sicher in Rage brachte, wie wenn ich eine Frau berührte oder gar Sex mit ihr hatte. Was früher als Entspannung und Ablenkung diente, wurde nun zu einer angespannten, disziplinierten Geschichte, die nicht schnell genug vorbei sein konnte, sodass der Reiz auch daran schnell verloren ging.
Nach dem Ende der Folge begann Cat Pläne zu schmieden, wann wir uns wo treffen würden und zwang mich dazu es in meinem Kalender einzutragen, damit ich es auch ja nicht vergaß.
„Hast du nicht letztens noch eine Party schmeißen wollen, dass du mich endlich los bist?", neckte ich sie, während sie über ihrem Handy brütend nach dem nächsten Termin suchte.
Ihr Blick sagte schon mehr als jedes Wort und ich versteckte mein Schmunzeln hinter meinem Glas. „Hast du mitbekommen, wie weit es bis hierhin ist?", fragte sie wahrhaftig empört. „Wer holt mich denn jetzt ab, wenn ich ausgehe und zum Frühstück sonntags kommst du nun auch nicht mehr und unser Filmabend ist auch Geschichte." Im Angesicht meines aufgebrachten Leoparden blieb sie ruhig, aber die Vorstellung, dass wir uns weniger sehen würden, trieb ihr die Tränen in die Augen. Ich legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an mich.
„Es ist doch erstmal nur eine Probe. Vielleicht gefällt es mir hier unten ja gar nicht", erinnerte ich sie an die Fakten.
Nun war sie es die aufgebracht schnaubte. „Und was machst du dann?" fragte sie und riss sich von mir los. Ich seufzte, soweit wollte ich selbst noch gar nicht denken. Doch das musste ich auch nicht, Cat nahm mir die Aufgabe ab: „Du gehst wieder nach Borneo, nur kommst du dann vermutlich gar nicht mehr zurück."
„Das ist nicht gesagt, Cat." Ich hatte ihr und auch niemanden anderen diesen Floh ins Ohr gesetzt, hatte ich diesen Gedanken selbst noch nicht zu denken gewagt.
„Ich bin nicht blöd, Ben. Ich sehe wie anstrengend es für dich ist, dich unter Kontrolle zu halten. Deine Augen verändern sich ständig, deine Handflächen bluten und fast immer, wenn ich dich sehe, sind deine Augenringe noch größer. Und du bist so ... so...", sie suchte nach den richtigen Worten und sah mich Hilfe suchend an. „Wütend? Aggressiv?", bot ich ihr resigniert an, sie war heute live dabei gewesen, wie ich die Kontrolle verloren hatte. Ich wandte den Blick von ihr ab und ließ ihn zu dem Wald hinter dem Gebäude schweifen. Wieder meinte ich das Streifen meiner Raubkatze von Innen an meiner Haut zu spüren. Nur zu gern hätte ich unser neues Zuhause weitererkundet. „Ungehalten? Ruhelos? Angespannt?" Mein Blick kippte zurück zu Cat, die nun selbst ein wenig ungehalten wirkte.
„Ja, genau. Ungehalten, ruhelos. Das bist nicht du, Ben. Das weißt du. Und das hier", sie machte eine Geste, die die neue Wohnung, das Gebäude, die Stadt und alles andere miteinschloss, "ist ein letzter Versuch. Mehr Wald, kleinere Stadt, weniger Menschen, mehr Ruhe. Diese Wohnung liegt am A der Welt, Ben." Das tat sie und genauso wollte ich es haben.
„Ich glaub dem Kater in mir gefällt es, Cat.", entgegnete ich ihren aufgebrachten Worten ruhig. Sie warf vor Emotionen wogend ihre langen Haare zurück und griff nach ihrem Glas. Ich lächelte. Erst einen Schluck trinken, bevor man etwas sagte, dass man hinterher bereute, hatte sie mir einmal verraten. Sie würde mir auch fehlen. Cat war nicht nur meine kleine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. Ich konnte mit ihr über alles reden.
„Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich so sehr", wisperte sie schließlich. So war es immer bei Cat, ihre Wut verpuffte so schnell wie sie kam. Sie war ein kleiner Tornado. Ich liebte sie dafür und wegen ihrer bedingungslosen Loyalität.
„Du bist hier immer willkommen, Cat. Das weißt du, nicht wahr?", forschend sah ich in ihre goldbraunen Augen und sie nickte. Zufrieden lehnte ich mich in auf der Couch zurück.
„Außerdem, was hast du vor, dass unsere Kinoabende flachfallen? Hast du einen neuen Lover?", lenkte ich sie ab.
„Was?!", fragte sie verwirrt. „Nein, aber du hast dir doch das weit entfernteste Eck gesucht und nicht ich." Mit meinem neuen Wohnort war Cat von der ersten Minute an nicht glücklich gewesen. Bisher hatten wir nie weiter als eine Stadt weiter entfernt voneinander verbracht. Die einzige Ausnahme war mein Jahr in Borneo gewesen. Zudem hatte ich mir den Ort nicht allein ausgesucht, ich sollte als Bauleiter für die Firma meines Dads das Bauprojekt vor Ort übernehmen. So war es von Anfang an geplant, nur hatte ich damals nicht erwartet, dafür umzuziehen. Aber es war perfekt, dieser Ort war ruhig und vielleicht auch ein wenig abgelegen, wie Cat meinte.
„Ja und deswegen schaffe ich es nicht, dass ich einmal im Monat zu unserem Filmabend auftauche, oder wie?"
„Das sind sechshundert Kilometer."
„Na und? Ich habe ein Auto."
Stumm sah sie mich einen Moment an. „Wofür haben wir dann die ganzen anderen Termine gemacht?", fragte nun sie mit dieser gefährlich ruhigen Stimme, die jeden Mann warnen sollte, dass er seine nächsten Worte wohlüberlegt zu treffen hatte.
„Das frage ich mich allerdings auch." Mit Absicht nahm ich Anlauf und sprang in das Wespennest. Das Leben war zu kurz um nicht alles mitzunehmen, dass sich mir bot und meine kleine Schwester auf die Palme zu bringen, zählte definitiv zu meinen liebsten Hobbys.
Nun sah sie aus wie die Wildkatze, die mir gleich ins Gesicht springen würde. Fuchsteufelswild. Wieder nahm sie einen Schluck ihres Weins und ich konnte mir ein breites Grinsen nicht verkneifen.
„Du bist unausstehlich", stellte sie dann fest und mein Grinsen wurde breiter, als mich zufrieden zurücklehnte. „Nur bei dir, Lieblingsschwester."
„Ach, leck mich doch", murrte sie und sofort richtete ich mich auf.
„Oh, verdammt", fluchte sie und sprang auf. „Das wagst du nicht." Kreischend stürzte sie davon und ich ihr lachend nach.
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