Kapitel 15.2 - Annika

Ich seufzte. Jetzt war ich also an der Reihe und wusste aufgrund all der Dinge, die ich sagen wollte, nicht wo ich anfangen sollte. Schließlich entschied ich mich da weiterzumachen, wo ich angefangen hatte. „Wie lange läuft das schon?"

„Das spielt keine Rolle", wischte er meine Frage beiseite und richtete sich auf. Ich sah ihm dabei zu, wie er vor meinen Augen seine Fassade, diese unüberwindbare Mauer, wieder errichtete. Seine nächsten Worte waren wohl der beste Beweis dafür: „Was machst du eigentlich hier?!" Du hast hier nichts zu suchen. Er sagte den letzten Teil nicht, aber ich hörte den Vorwurf zwischen den Zeilen und lachte bitter auf.

„Willst du mir gerade ernsthaft die Schuld, für diese Misere in die Schuhe schieben?" Fassungslos sah ich zu ihn. Die Ungläubigkeit ließ mich lauter und die Tonlage am Ende meiner Frage höher werden, als auch mich nun in der Küche aufbaute und unbewusst mit dem Gestikulieren begann.

„Ja, es lief doch alles super. Du warst happy in deiner Kleinstadtidylle, Sarah wusste sogar von dir und es hat ihr nichts ausgemacht und ich war auch zufrieden. Es lief für alle perfekt, warum musst du es mit deinem Eifersuchtsdrama kaputt machen?" Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und kam in einer drohenden Haltung auf mich zu. Davon ließ ich mich nicht einschüchtern. Ich kannte ihn lang genug und besonders in den letzten Jahren hatten wir uns öfters gestritten. Lukas war der Typ, der einen allein mit seiner körperlichen Überlegenheit zu dominieren versuchte. Vergriffen hatte er sich dabei allerdings noch nie.

„Eifersuchtsdrama? Gott, du bist so ein Idiot geworden, Lukas. Ich habe die letzten Wochen, besser gesagt Monate, versucht mit dir zu reden und wieder mehr Kontakt aufzubauen, weil es eben nicht alles perfekt läuft, weil ich in unserer Beziehung trotz meiner Kleinstadtidylle", wie vermutlich jede Frau in solch einer Situation hatte ich aufmerksam zugehört und baute seine Worte ein, um ihn endlich zu erreichen und ihn vorzuführen, dass es ebenso wie er behauptete nicht gewesen war, „nicht mehr glücklich war. Ich, Vollpfosten, habe dich vermisst! Habe unsere Freundschaft und meinen Partner vermiss. Du warst nie da, außer deine Eltern haben dich herbeordert oder es ging um den Fußball. Wenn wir telefoniert haben, hast du nicht zugehört und mal ganz ehrlich: Selbst das lief nicht mehr in den letzten Monaten. Also was bitte war daran perfekt?" Wir standen uns gegenüber und starrten uns zornentbrannt an.

Lukas Gesicht war eine kalte Maske, aber seine Augen loderten, als er zum Gegenschlag ausholte: „Du bist so egoistisch und denkst immer nur an dich. Du hast nicht angerufen, du hörst mir nie zu, du warst nicht da", äffte er mich nach. „Was hätte ich denn mit dir machen sollen?", brauste er auf. „Wieder mit irgendwelchen Kötern spazieren gehen oder bei einem Kinderfestival helfen, damit du Zeit für mich hast? Wie oft habe ich dich gefragt, ob du mit feiern kommst?" Oft, immerhin schien das mittlerweile Lukas größtes Hobby zu sein. Natürlich hatte ich ihn begleitet, hatte versucht mich zu amüsieren, auch wenn mir die zu laute Musik, die Enge in der Menschenmenge und der Gestank zu setzten. Einmal im Monat reichte mir das Spektakel mehr als aus, während Lukas jedes Wochenende unterwegs feiern wollte. Nicht mehr mitgegangen war ich erst, als er mich immer und immer wieder zahlen ließ. Und er versoff an einem Abend zweihundert Euro, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir hatten zweimal deswegen gestritten, hatten uns nicht einigen können und ich hatte gedacht, wenn er es braucht, soll er das machen. Als Paar war man schließlich nicht verpflichtet jedes Hobby miteinander zu teilen. Wir hatten genügend andere Gemeinsamkeiten, zumindest dachte ich das damals. „Und wie oft hast du nein gesagt? Und wenn ich mal ein Spiel zocken wollte, kam auch immer: Lass uns doch lieber was unternehmen. Frische Luft, Bewegung. Jedes Mal der gleiche Scheiß! Wenn du nicht verstehen kannst, dass es noch mehr als diese gottverdammten Hunde und diese armen Kinder für mich gibt, wie zum Beispiel meine Hobbys, meine neuen Freunde hier oder die Vorbereitungen für mein Auslandssemester, dann tut es mir leid, aber du bist nicht der Nabel der Welt, Nika. Und gerade wenn es um London ging, habe ich dich immer wieder versucht einzubinden. Ich habe dir Stellenanzeigen geschickt, die ganzen Wohnungen, meine Bewerbungsschreiben..." Er holte tief Luft und fasste sich sichtlich. Noch bevor er den Mund aufmachte, bemerkte ich den Stimmungsumschwung. Misstrauisch stellten sich bereits alle Körperhaare auf. Seine Stimme war nun deutlich sanfter: „Ich habe mit dir darüber gesprochen, weil ich immerhin will, dass du mich begleitest. Ich will endlich wieder mehr Zeit mit dir verbringen, dir endlich wieder näherkommen. Besser als wenn wir zusammenziehen und dann auch noch in einem fremden Land zusammen neue Erfahrungen sammeln, geht es doch gar nicht, Nika. Das ist perfekt für uns", beschwörend sah er mich an. Wartete darauf, dass ich ihm aus der Hand fraß.

Ungläubig starrte ich ihn an. Ich konnte nicht begreifen, wie er mir in einem Moment solche Vorwürfe machen konnte und im nächsten Moment noch immer von einer gemeinsamen Wohnung im Ausland reden konnte und das obwohl ich ihn vor ein paar Minuten inflagranti erwischt hatte.

„Du verarschst mich, Lukas, oder? Du hast gerade eben mit einer anderen Frau gefickt, weiß der Teufel wie lang das schon geht und jetzt redest du, nachdem du mich als egoistisch und meine Hobbys als dämlich bezeichnet hast, davon dass ich mit dir nach London gehen und zusammen in eine Wohnung ziehen soll", faste ich die Situation aus meiner Sichtweise zusammen.

„Das war ein unbedachter Moment der Wut, Nika. Du weißt, dass man nicht immer das sagt, was man meint", versuchte er mich zu beschwichtigen. Mehr als über seine Worte, ärgerte ich mich, über mich selbst. Denn ich wollte seinen Worten nur zu gern glauben, wollte nicht das es so mit uns endete. Doch es feste beharrliche Stimme in meinem Inneren forderte mich dazu auf stark zu bleiben, mich von seinen Worten nicht einlullen zu lassen und erinnerte mich an all die Momente voller Frust, Ärger und Verzweiflung. An all die Momente, wo er mich stehen und hängen lassen hatte.

Daher straffte ich die Schultern und sagte mit fester Stimme: „Abgesehen davon, dass ich mich weigere mich weiterhin unter meinen Wert zu verkaufen und deswegen nicht mehr zulasse, dass du auf meinen Gefühlen und Bedürfnissen herumtrampelst, wüsstest du schon längst, dass ich nicht mit nach London komme, wenn du mich einmal gefragt oder einmal die letzten drei Monate zugehört hättest."

Diese Information schien neu für ihn zu sein, so fassungslos wie er nun zu mir sah. „Du willst nicht mitkommen, von Anfang an nicht?", wiederholte er. Wie hatten beide wieder zu einer normalen Tonlage zurückgefunden.

Ich fragte mich, was in seinem Kopf vor ging, aber ich verstand ihn nicht. Zumindest nicht mehr. „Nein, will ich nicht. Aber was spielt das noch für eine Rolle, Lukas?"

„Ich will immer noch, dass du mit mir nach London kommst", unterbrach er mich fast schon. „Sarah, die anderen Frauen", meine Augenbrauen rutschten erneut in meinen Haaransatz, als er unbemerkt bestätigte, was ich mich bereits gefragt hatte, „sie haben alle nichts bedeutet. Du bist mir wichtig, Nika. Das warst du schon immer. Sobald ich mein Studium abgeschlossen habe, werden wir heiraten und Kinder bekommen."

Nun hatte er es endgültig geschafft. Ich war restlos vor den Kopf gestoßen. Hörte er sich selbst dabei zu was er sagte? Sah so Lukas Plan aus? Ihm schien noch immer nicht bewusst zu sein, dass wir ab heute Abend getrennte Wege gehen würden. Also schüttelte ich sanft den Kopf und lehnte mich an den Tisch, der hinter mir stand. „Nein, Lukas, das werden wir nicht. Ich bin heute Abend hergekommen, weil ich das Gefühl hatte, dass unsere Beziehung sich in einer Sackgasse befindet und ich einfach nicht mehr an dich herankomme." Als er den Mund öffnete, hob ich die Hand. „Lass mich ausreden, Lukas, bitte. Ich habe dieses Gefühl gehabt, auch wenn du es vielleicht anders wahrgenommen hast. Deswegen bin ich hergekommen, ich wollte noch einmal mit dir reden, in der Hoffnung, dass wir vielleicht unsere Freundschaft retten können, wenn es auch bei unserer Beziehung nicht klappt." Ich holte tief Luft und war Lukas dankbar, dass er dieses Mal auf das, was ich noch zusagen hatte, wartet. Vielleicht schlummerte doch noch etwas von dem Jungen, der jahrelang mein bester Freund und am Anfang ein großartiger Partner gewesen war, in ihm. Ich musste mich kurz sammeln und überlegte, wie ich ihm, dass was ich nun sagen wollte, am besten rüberbrachte, ohne dass er sich angegriffen fühlte oder wir erneut in gegenseitige Vorwürfe abglitten. „Allerdings bedeutet es für mich einen großen Vertrauensbruch, dass du hinter meinem Rücken mit anderen Frauen geschlafen hast."

Er schnaubte und verschränkte die Arme vor seiner Brust, lehnte sich an die Wand hinter ihm. „Als ob du für eine offene Beziehung bereit wärst."

Ich atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte ruhig zu bleiben. Bemerkte Lukas, dass er von einer Position zur nächsten wechselte? Gerade so, wie es ihm am besten passte. Was war in den letzten Jahren geschehen, dass er sich so stark verändert hatte?

„Vermutlich nicht, da hast du recht. Das rechtfertigt dennoch keinen Betrug. Wenn es das ist, was du willst, was du brauchst, hättest du mit mir darüber reden sollen. Vermutlich wäre unsere Beziehung dann schon früher zu Ende gewesen, aber es hätte uns das hier erspart und mir die letzten Monate. Die waren echt beschissen." Ich konnte mir den letzten Satz nicht verkneifen, denn genau das waren meine Gedanken. Hätte Lukas einfach früher mit mir geredet, hätten wir uns beide eine Menge blöder Situationen sparen können und wären vielleicht noch Freunde. Nachdem was ich heute erlebt hatte, waren wir das mit Sicherheit nicht mehr. Ich hatte noch nicht einmal angefangen zu verarbeiten was passiert war. Noch immer fühlte es sich seltsam an, als würde nur ein kleiner Teil von mir begreifen, was ich gesehen und gehört hatte und der andere würde sich vor dieser Realität verschließen.

So langsam schien es zu Lukas durchzusickern, dass wir ab heute Abend getrennte Wege gehen würden. Er drehte sich zu der Küchenanrichte und trat einmal gegen den Schrank. Ich zuckte nicht zusammen, hatte schon zu oft miterlebt, wie er seine Gefühle an Wände oder Schränke ausließ. Normalerweise hatte ich ihn dann immer in meine Arme gezogen und war für ihn dagewesen. Hatte ihn reden lassen und einfach gehalten, wenn er sich mal wieder über seine Eltern oder ein mieses Spiel aufregte. Nun war ich es, die ihn so weit brachte. Und ich wollte und konnte dieses Mal nicht in dieser Form für ihn da sein. Das war vorbei. „Das war nicht geplant, Nika." Er fuhr sich durch seine blonden Haare, was sie noch verwuschelter aussehen ließ. „Wir hatten uns gestritten, nach diesem Urlaub..."

Nach unserem letzten Urlaub? Es glich einem festen Schlag in meine Magengrube. Das war über ein Jahr her! So lange betrog er mich schon und ich hatte es nicht bemerkt? Tief durchatmen, Nika, sagte ich zu mir selbst und nahm auch noch einen Schluck von dem Wasser, dass neben mir stand.

„Ich bin nachhause gefahren, also hierher. Die Jungs und ich, wir haben getrunken und dann waren wir feiern und dann... Eins führte zum anderen." Sein Blick suchte meinen, seine Mimik bat um Absolution. Dieser Anblick löste etwas in mir aus. Wut, Verärgerung. Fast hatte ich das Gefühl, er wollte mich dazu drängen, dass ich ihm das gerade erfahrene einfach vergab. Es fiel mir schwer ruhig zu bleiben und abzuwarten, ihm nicht meine Gedanken ungefiltert an die Stirn zu klatschen.

„Gut, Fehler passieren. Das war beschissen, aber offensichtlich nicht das einzige Mal", fauchte ich, konnte nicht ganz an mich halten.

„Es fühlte sich so gut an und es war so einfach." Er sah über meine Schulter an die Wand, während ich mit grimmig aufeinander gepressten Lippen versuchte den Schmerz, den sein Verrat in mir auslöste und die Wut, die omnipräsent war, zu überstehen. „Du warst eine Stunde weit weg und mit all deinen Hobbys so beschäftigt, die Wahrscheinlichkeit, dass du es je bemerkst, war gering." Als sein Blick auf einmal direkt auf meinen traf, erstarrte ich. „Warum machst du uns kaputt, Nika? Es war alles perfekt. Du warst glücklich und ich auch." Einen Moment sah ich ihn verständnislos an. Ich hörte seine Worte, doch mein Verstand weigerte sich sie zu verarbeiten. Dann richtete ich mich auf.

„Dich hat doch der Blitz getroffen, Lukas", fauchte ich aufgebracht und konnte es noch immer nicht glauben, dass er mir die Verantwortung für diese Situation in die Schuhe schieben wollte. „Du hurst herum, vernachlässigst unsere Beziehung immer mehr und weil ich so dumm bin und mich mit dir aussprechen will, und dich bei deinem Tete a Tete erwische, mache ich alles kaputt?" Meine Stimme wurde immer lauter, vermutlich konnte seine Nachbarschaft jedes einzelne Wort mithören, doch das kümmerte mich in diesem Moment herzlich wenig.

„Ach komm, Nika, als ob es nicht normal wäre. Mein Vater hat schon seit Jahren immer wieder Affären. Männer haben nun einmal Bedürfnisse. Für dich ändert sich dadurch doch nichts. Wenn du möchtest, dass ich wieder öfter nach Hause komme, dann werde ich das machen und in London sieht es doch sowieso ganz anders aus."

Mein Kopf musste irgendetwas abbekommen haben. Noch immer wollte ich es nicht wahrhaben. Es war reiner Selbstschutz als ich aufsprang. Ich schnappte mir meine Jacke und sagte zu ihm: „Komm mir nicht mit der Scheiße. Du bist ein Arschloch, Lukas!" Fuchsteufelswild drängte ich mich an ihm vorbei und rauschte zur Tür heraus. Seine Stimme, die mir nachrief, ignorierte ich.

Auf dem Weg nach unten zog ich mir die dünne Jacke über und stolperte dabei, sodass ich fast die Treppen herunterflog. Im letzten Moment fing ich mich, verlangsamte mein Tempo dennoch nicht als ich nach draußen stürzte.

Tief zog ich die Luft ein und gab dem Impuls nach, zu laufen. Die Richtung war egal, Hauptsache laufen. Es beruhigte meine Gedanken, half mir runterzukommen und war von jeher mein bewehrtes Mittel gegen Stress, Sorgen und Ängste. Ich liebte das verlässliche Gefühl des Bodens unter mir, das Geräusch, wenn meine Füße aufkamen und ich mich wieder abstieß, die klare Luft in meinem Gesicht, das leichte Brennen in meiner Lunge, die Anstrengung, die meinen Fokus von allen um mich herum auf mich selbst verlagerte. Laufen war meine Therapie. War es schon immer gewesen. Es störte mich nicht weiter als es zu nieseln anfing. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, starrten zu mir, doch ich nahm sie nicht weiter wahr. Ich vergaß die Zeit und achtete auch nicht, wohin ich lief, sondern ließ meine Beine arbeiten und meinen Kopf in dem Genuss der Anstrengung treiben. 

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