Kapitel 15.1 - Annika
Als ich aus dem Zug stieg, war es bereits nach acht Uhr abends. Es war Dienstag, der Tag an dem Lukas, zumindest in der Vergangenheit, an den Abenden meist Zeit hatte. Er wusste nicht, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Ich hatte ihm nicht noch einmal die Möglichkeit geben wollen mir abzusagen und hatte mir festvorgenommen dieses Gespräch heute zu führen. Als ich an einer Kreuzung kurz zögerte, unsicher, wie ich am schnellsten zu seiner WG kam, bemerkte ich selbst wie lang ich ihn schon nicht mehr besucht hatte. Wir hatten es beide verkackt, erinnerte ich mich und daran sollte ich auch denken, wenn ich bei ihm ankam. Auch wenn ich sauer war und in letzter Zeit das Gefühl hatte, dass allein er unsere Beziehung in den Sand setzte, war auch ich nicht unschuldig.
Bei dem richtigen Haus angekommen, klingelte ich. Ein Surren verriet mir, dass ich eingelassen wurde. In der Tür zu der WG stand Julius, einer seiner Mitbewohner, in kurzer Hose und weißem Sportshirt. Als er mich erkannte, riss er die Augen auf.
„Annika, was machst du denn hier?", fragte er und verhaspelte sich fast beim Sprechen, dabei trat er vor die Tür, zog sie fast hinter sich zu.
„Hi Julius, ist echt schon zu lang her, nicht wahr?", begrüßte ich ihn und versuchte mir von meiner Nervosität nichts anmerken zulassen. Auch wenn ich dieses Gespräch unbedingt hinter mir bringen wollte, wäre ich jetzt an nahezu jeden anderen Orten lieber als diesen. Seltsam an dieser Situation war nur, dass Julius den gleichen Eindruck auf mich erweckte.
„Alles okay?", fragte ich ihn deswegen.
„Ja", antwortete er schnell, zu schnell und stockte dann. „Ja, klar."
Ich glaubte ihn kein Wort, aber wir kannten uns nicht gut genug, als das ich nachgehackt hätte. „Ist Lukas da?", fragte ich ihn daher nur.
Er kratzte sich am Kopf. „Äh, ja also nein."
Ungeduldig stand ich vor ihm und sah ihn mit hochgezogener Braue an. „Ist er nun da oder nicht?", fragte ich noch einmal nach, da er nicht auf meine Mimik reagierte und mich nur anstarrte.
„Er..." Ein langgezogenes Stöhnen unterbrach ihn. „Lukas, jaaaah!" Wir lauschten beide dem Geräusch und der Stille danach, dass nur noch leise im Hausflur ankam. Aber immer noch laut genug. Mein Gehirn benötigte einen Moment, in dem ich durch Julius hindurch starrte, um das gehörte zu begreifen.
Dann versuchte ich durch die angelehnte Tür zu schauen, aber natürlich sah ich nicht und wandte mich wieder Julius zu. „Verstehe!", nickte ich ihm mit fester Stimme zu, im Hintergrund erneut das Stöhnen der Frau, um die mein Freund sich offensichtlich kümmerte. Julius sah mich mitleidig an. Komischerweise fühlte ich nichts. Weder Wut noch Trauer, kühle Gelassenheit flutete mich und meinen Verstand und erklärte vielleicht auch meine nächsten Worte: „Lass mich rein, ich wollte ohnehin Schluss machen!"
Einen Moment sah er mich noch sprachlos an. Dann stieß er die Tür hinter sich auf und stellte sich seitlich in den Rahmen, um mich vorbeizulassen. Er wirkte mitgenommener von der Situation, als ich mich in diesem Moment fühlte. Das und meine kühle Gelassenheit in diesem Moment, irritierte mich mehr als alles andere.
„Danke." In der Wohnung selbst war die Geräuschkulisse wesentlich eindeutiger und lauter. Ich hörte das Schlagen des Bettes an der Wand und bei dem Gedanken, dass Lukas und ich es ebenso in diesem Bett miteinander getrieben hatten, wurde mir dann doch komisch, fast schon ein wenig übel. Vielleicht war da doch nicht nur kühle Gelassenheit. Sein Stöhnen ging unter ihren Geräuschen fast unter und unweigerlich fragte ich mich, wann der Sex mit Lukas das letzte Mal so gut gewesen war. Ich wusste es nicht. In letzter Zeit war es nicht oft gewesen, wenn dann mehr Gewohnheit oder Pflicht statt Leidenschaft. Ich wusste nicht, wann wir uns das letzte Mal voller Leidenschaft hingegeben hatten und in diesem Moment, wollte ich darüber auch nicht zu genau nachdenken. Es war heftig in seiner WG zu stehen, zu wissen und leider auch viel zu genau zu hören, was Lukas in seinem Zimmer mit irgendeiner Unbekannten trieb. Als würde mein Körper mit Eiswasser übergossen, zog sich alles in mir zusammen und zurück, während ich nur am liebsten davonrennen wollte, damit es endlich aufhörte.
Ich hatte mir in den letzten Tagen reichlich Gedanken zu unserer Beziehung gemacht und umso länger ich grübelte, desto mehr Situationen und Aspekte hatte ich gefunden, die einfach nicht passten. Auch den Sex konnte ich wohl dazu zählen, überlegte ich, bemüht bei den Tatsachen zu bleiben und mich von meinen Gefühlen nicht übermannen zu lassen.
Ich ging in die Küche, da der offene Flur in diesen Raum mündete und hängte meine Jacke über eine der Stuhllehnen. Julius folgte mir. Unschlüssig sah er mich an. „Willst du was trinken?", fragte er. Das Mitleid und Unwohlsein troffen ihm aus jeder Pore. Es tat mir fast leid, dass er sich jetzt in dieser Situation befand.
Ich winkte ab. „Ich kann mir selbst ein Wasser machen." Ich wollte ihn und seine mitleidigen Blicke loswerden. Das konnte ich in diesem Moment nicht gebrauchen. Ich wusste nicht, ob er es verstand oder einfach selbst aus dieser unangenehmen Situation flüchten wollte, aber er drehte sich wortlos um und verschwand in einer der Türen im Flur.
Lukas und sein Besuch kamen etwa in dem Moment zum Höhepunkt, als ich den Wasserhahn ausstellte. Dankbar für die plötzliche Stille nahm ich einen Schluck von dem kühlen Nass und bemerkte erst jetzt wie laut meine eigenen Gedanken waren.
War ich nicht genug? Hatte ich nicht gereicht? War ich zu langweilig? Nicht hübsch genug? Oder war nur am Wochenende zu wenig? Hatte er deswegen am Freitag keine Zeit gehabt? All die anderen Male? Wie lang ging das schon?
Eine Frage jagte die nächste. Die Antworten kannte ich nicht. Als ich mir durch die Haare fahren wollte, fiel mein Blick auf meine zitternde Hand. Schnell ließ ich sie wieder sinken. Fuck. Vielleicht könnte Julius Lukas sagen, dass ich da gewesen bin. Dann wäre auch alles geklärt, oder? Einen Moment fiel mein Blick auf meine Jacke, doch dann straffte ich mich und zwang mich zu einem tiefen Atemzug. Ruhe bewahren. Ich würde vor dieser Situation nicht weglaufen. Angst haben war in Ordnung, ihr nachzugeben allerdings nicht. Zudem wollte ich diese Sache, unsere Beziehung, abschließen, jetzt noch mehr und dringender als je zuvor.
Ich hatte es viel zu lang herausgezögert, wurde mir bewusst, hatte die Anzeichen ignoriert und für Nichtig abgetan. Es dauert gefühlte Ewigkeiten, in der ich in der Stille wartete. Jede Sekunde zog sich wie Kaugummi in die Länge, bis ich das Geräusch der Türklinke hörte. Da ich Gedankenversunken an der Küchenanrichte gelehnt hatte, richtete ich mich auf. Mein Blick fiel automatisch auf Lukas Zimmertür und ich verfolgte, wie sie sich öffnete. Nur mit Boxershorts bekleidet trat er aus der Tür und bemerkte mich nicht. Ungehindert glitt mein Blick über seine hochgewachsene Gestalt, musterte ihn nüchtern. Sein Verhalten der letzten Monate und mit Sicherheit auch die Situation, die ich soeben ungewollt mitbekommen hatte, ließen ihn für mich deutlich unattraktiver erscheinen, als ich ihn Erinnerungen hatte. Viel kritischer als ich normalerweise war, bemerkte ich, dass er irgendwann damit angefangen hatte einen kleinen Bauch zu bekommen. Von dem Sixpack, dass er noch vor zwei Jahren hatte, war längst nichts mehr zu sehen und auch sein Teint wirkte auf einmal ein wenig fahl auf mich.
Ich hörte von ihrer Stimme nur ein unverständliches Murmeln. Sein Blick war mit einem warmen Grinsen, dass mir vertraut schien, in den Raum gerichtet. Sein Gesichtsausdruck, seine Körperhaltung, alles an ihm verriet mir, dass das nicht das erste Mal war. Diese Erkenntnis überraschte mich nicht, hatte ich es doch innerlich vermutete, dass es schon länger ging, aber es hinterließ ein klammes Gefühl und meine innere Stimme schalte mich einen Dummkopf.
Auf einmal schob sich eine zarte Hand und ein schmales Kinn in mein Blickfeld, als die Frau an Lukas herantrat, ihre Hand an seine Hüfte legte und ihren Kopf in den Nacken legte um sich von Lukas Küssen zulassen. Es war seltsam meinen Freund dabei zuzusehen wir er eine andere Frau küsste. Mein Magen verknotete sich. Es war keine Eifersucht, glaubte ich zumindest. Aber ich fühlte mich verraten und hintergangen, wütend. So unglaublich wütend, während ein Teil in mir es nicht wahrhaben wollte, was ich sah und eben gehört hatte. Auch wenn ich mich trennen wollte, so waren wir in diesem Moment noch zusammen. Es gab kein anderes Kommitment zwischen Lukas und mir oder hatte ich da irgendetwas verpasst?
„Komm, lass uns ins Bad gehen, damit wir mit unseren Filmabend starten können." Sie klang nett und sah süß aus, mit ihren hellen blonden Haaren, die an reifes Korn erinnerten und den zarten Gesichtszügen. Wären wir uns unter anderen Umständen begegnet, wäre sie mir bestimmt auf Anhieb sympathisch gewesen. So jedoch, tobten in mir so viele Gefühle, dass ich zum Teil nicht wusste, was ich fühlte und erst recht nicht weswegen. Sympathie oder Wohlwollen standen zumindest nicht an vorderste Front.
Als sie sich mit ihrem ganzen Körper an ihn schmiegte und ihren Kopf seitlich an seine Brust lehnte, bemerkte sie mich. Überrascht sah sie zu mir, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, dass sie in Kombination mit ihren klaren grauen Augen wirklich attraktiv machte.
„Oh, du musst Annika sein." Fast schon euphorisch löste sie sich von Lukas, der seinen Kopf zu mir herumriss, während die Frau nur mit einem seiner Shirts bekleidet auf mich zu stürzte. „Lukas hat mir nicht gesagt, dass du vorbeikommst. Wie schön dich endlich kennenzulernen." Vollkommen erstarrt und von dieser Situation nun endgültig überfordert und verwirrt, ließ ich ihre Umarmung über mich ergehen, während mein Blick auf Lukas lag, dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.
Die Unbekannte merkte schnell, dass etwas nicht stimmte, als sie sich von mir löste. Ich sah es ihr an, sah wie ihr Blick zwischen mir und Lukas hin und her schweifte. „Du bist doch Annika, oder?", erkundigte sie sich und ich nickte, mein restlicher Körper noch immer vollkommen starr. Warum zur Hölle wusste sie von mir und fickte trotzdem mit meinem Freund?
„Und ihr führt eine offene Beziehung?" Meine Augenbrauen mussten in meinen Haaransatz wandern, zumindest fühlte es sich so an. Vorwurfsvoll sah ich zu dem Mann, mit dem ich seit fast drei Jahren eine Beziehung führte und den ich seit unserer Kindheit als meinen besten Freund betrachtete. Offensichtlich hatte ich da eine entscheidende Information verpasst. „Oder Lukas?" Ich hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme, als sie sich an ihn wandte, da ich ihr die Antwort schuldig blieb.
Sein Blick huschte von mir zu ihr und wieder zurück. Das Entsetzen war Unsicherheit und Überforderung gewichen. Na, immerhin ging es ihm nun ähnlich wie mir. „Annika..."
Gespannt sah ich ihn an, aber es kam nicht mehr. Endlich fand ich meine Stimme wieder: „Klär mich auf, Lukas. Seit wann führen wir denn eine offene Beziehung?" War ich gemein? Vielleicht. Aber ich genoss es zu sehen, wie er sich wand und nicht wusste, was er tun, was er sagen sollte. In all meiner Wut, meinen Selbstzweifel, Unsicherheiten und Überforderung mit dieser Situation, war es purer Genuss zusehen wie schwer er sich nun mit der Situation, für die er maßgeblich verantwortlich war, tat.
Die Blondine drehte sich zu mir um, in ihren Augen sah ich Reue und Schuld. Sie stand zwischen mir und Lukas und fühlte sich sichtlich unwohl. „Es tut mir leid, ich wusste es nicht." Sie zögerte, wollte mich berühren, aber traute es sich offensichtlich nicht, da ich so steif und starr dastand. Ich konnte mit ihr in dieser Situation nicht viel anfangen, zu sehr kämpfte ich gerade mit mir selbst. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass mein Freund mich betrog. Nicht darauf, dass ich es heute Abend entdecken und ich seine Affäre kennenlernen würde. Und mit keinem Gedanken, hatte ich vermutet, dass sie genauso von ihm belogen wurde wie ich. Dabei war sie so nett und einfühlsam. Sympathisch. Sie tat mir leid.
Sicherlich hatte ich heute Abend mit Lukas Schluss machen wollen. Hatte diese Farce einer Beziehung beenden, mit ihm reden und ihn, um seine Freundschaft bitten wollen. Daher war es nicht die Eifersucht, die mich antrieb, aber das Gefühl seines Verrats schmeckte bitter auf meiner Zunge und lähmte mich.
Sie trat einen Schritt zurück, ihr Kopf hing von ihren Schultern. Mit den guten Manieren, die meine Mom mir beigebracht hatte und meinem Wunsch keinen Wesen ein Leid zuzufügen, griff ich trotz all diesem Gefühlschaos in mir, nach ihrem Arm und stoppte sie. Hoffnungsvoll, dass ich ihr vergeben würde, sah sie zu mir. Lukas hatte sie ebenso wie mich in diese Situation gedrängt. Er hatte nicht nur mich verraten, sondern auch sie belogen. Dafür hasste ich ihn in diesem Moment sogar noch mehr.
„Du kannst nichts dafür." Ich versuchte es mit einem Lächeln. Anscheinend war es genug, sie erwiderte es kurz, bevor sie zurück in Lukas Zimmer ging, um keine zwei Minuten später mit einer lockeren Jeans und einem einfachen Sweatshirt bekleidet zurückkam. Lukas und ich hatten in dieser Zeit kein Wort getauscht, sondern gewartet. Lukas hatte ihr nachgestarrt, hatte zu mir gesehen und wieder zu ihr. Seine Hin- und Hergerissenheit war offensichtlich. Als sie aus dem Zimmer stürmte, lagen Tränen in ihren Augen. „Sarah...", sprach Lukas sie nun endlich an, Verzweiflung in seiner Stimme.
„Halt die Klappe, Arschloch!", keifte sie ihn an und schien ihm am liebsten ins Gesicht springen zu wollen. Nachdem auch sie den ersten Schock verarbeitet hatte, kam nun scheinbar auch bei ihr die Wut. Ein Griff an die Garderobe, wo sie sich eine Jacke und Handtasche schnappte, dann war sie verschwunden. Als die Tür mit einem Knallen zu fiel, zuckte Lukas zusammen. Nach einem Moment sah er zu mir. Tiefe Runzeln hatten sich in seine Stirn gegraben, sein Blick war verzweifelt. Für einen Mann der gerade Sex gehabt hatte, sah er äußerst unentspannt aus.
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