SIXTEEN

Toni und Lukas waren zurück. Im Wohnzimmer hatten die Lykae den Tisch ausgezogen und alles für ein Frühstück aufgebaut. Anthony hatte damals die Wohnung für mich ausgesucht. Sie war viel größer als es für zwei Personen nötig gewesen wäre. Ich hatte es so gewollt, damit Lya und ich genügend Platz hatten, wenn wir uns in den langen Sommertagen nicht nach draußen bewegen konnten. Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte ich gelacht. All die Jahre hatten Lya und ich uns sehnsüchtig nach der Sonne verzehrt, immer nur Bilder und Videos gesehen, weil wir dachten, dass die Sonne uns töten würde. Jetzt saßen wir beide nebeneinander an der Tischseite mit dem Blick aus dem Fenster und konnten die Sonne beim Aufgehen beobachten. Ich bedauerte die Jahre, die ich diesen Anblick umsonst vermisst hatte. Trotzdem spürte ich keine Verbitterung. Jetzt wusste ich die kleinen Dinge im Leben wesentlich mehr zu schätzen als zuvor. Trotzdem fürchtete ich mich vor der Masse der falschen Annahmen, die man uns beiden womöglich noch offenbaren würde.

Nachdem Zarek seinen Vorschlag unterbreitete hatte, war er aus der Küche gegangen und hatte mir und Corinne einen Moment der Zweisamkeit gewehrt. Das erste Mal, wenn man das kurze Gespräche im Club nicht mitzählte.

Ich wusste noch immer nicht, wo wir standen, was wir waren und was aus uns werden würde. In dem Moment hatte es sich komplett richtig angefühlt, die Arme nach ihr auszustrecken und Corinne an mich zu ziehen. Noch immer schwebte dieser seltsame schattenartige Wolf über ihre Gestalt, ihre Hände waren zu tödlichen Klauen verformt und eine ehrfurchteinflößende, kraftvolle Aura umhüllte sie. Corinne wirkte so zum zerreißen angespannt als würde sie jede Sekunde wie eine Bombe hochgehen und alle mit sich reißen. Trotzdem verspürte ich keine Sekunde Angst vor ihr. Sobald meine Arme um sie lagen, entspannte sie sich merklich und schmiegte sich an mir. Es fühlte sich richtig an. So schnell wie der Schattenwolf gekommen war, so schnell war er weg. Ich musste die gleiche beruhigende Wirkung auf sie haben, wie sie auf mich.

Wir beide hatten nichts gesagt. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich sagen sollte. Die Situation war so skurril. Unwirklich. In dem Moment hatten wir beide nur die Nähe voneinander genossen und daraus Kraft geschöpft. Ich hatte keinen Plan, was all die Worte, die in dieser ereignisreichen Nacht gefallen waren, zu bedeuten hatten, Mein Leben hatte sich innerhalb von ein paar Stunden gedreht. Es schien es noch immer zu tun. Es war einfach so viel zu verarbeiten innerhalb kürzester Zeit. Ich wusste nicht, was als nächstes passieren würde oder auch passieren sollte. Am liebsten hätte ich die Zeit für ein paar Stunden angehalten, einfach um tief Luft zu holen und meine Gedanken zu ordnen. Schließlich war es Corinne gewesen, die die Stille durchbrach. „Würdest du mit nach Australien kommen?" fragte sie leise und rückte ein Stück ab um mir in die Augen sehen zu können.

Ich zögerte, während ich in ihren grauen Augen versank. Wusste die Antwort auf ihre Frage nicht. Während mein Herz und mein Instinkt „ja" schrien, war es mein Verstand, der mir unzählige Argumente auflistete, warum es besser war hier zu bleiben und sie ziehen zu lassen. Ich war eine Gefahr für sie. Ohne mich wäre sie besser dran. Sie hätte kein Streit mehr mit ihrer Familie. Ich musste mich um Lya kümmern. Ich wusste fast nichts über die Welt, die ihr zuhause war. Mir vielen unzählige Argumente dagegen ein. Aber es war der Blick in ihre Augen, die mich anflehten mitzukommen und bei ihr zu bleiben, das Gefühl, dass mir ihre Nähe vermittelte, welches mir schließlich die Entscheidung abnahm. „Ja."

Es war wie als würde die Sonne auf ihren Gesicht aufgehen. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und ließ selbst ihre Augen heller scheinen. Ihre Arme schlangen sich um meinen Nacken und sie presste sich ganz fest an mich. Ich spürte ihre Freude und ihre Glücksgefühl in jeder einzelnen Zelle meines Körpers. Denn auch wenn mein Verstand mich gerade fragte, was zur Hölle ich da tat, fühlte sich meine Entscheidung durch und durch richtig an.

Trotzdem oder genau deswegen, mussten wir jetzt noch ein paar Dinge klären. „Aber..." sie löste sich wieder von mir und sah mich abwartend an. Die Zähne, die sich in ihrer Unterlippe verbissen hatten, verrieten ihre Nervosität und Unsicherheit. Vorsichtig strich ich mit dem Daumen über ihre Unterlippe und befreite sie.

„Mach das nicht." Murmelte ich.

„'Aber' ist meist kein gutes Zeichen." Meinte sie.

„Ohne Lya kann ich nicht weg. Sie muss mit." Erklärte ich ihr. Alles andere würde sich auf jeden Fall regeln lassen. Nur Lya war die Unbekannte, die ich nicht so einfach lösen konnte. Wenn sie nicht mitkommen würde, musste auch ich hier bleiben. Ich konnte sie nicht einfach allein lassen. Damals hatte ich aus Schuld- und Pflichtgefühl die Verantwortung für sie übernommen. Heute war sie fast so etwas wie eine Tochter für mich.

„Mehr nicht?" fragte Corinne als ich nicht noch etwas sagte. Ich zog die Augenbraue hoch. War das denn nicht genug?

„Nein. Der Rest sollte kein Problem sein." Ich hatte keinen festen Job. Ich arbeitete mal hier, mal da. Mehr um etwas zu machen, als dass ich es wirklich brauchte. Ich lebte von den Zinsen meines Geldes, das ich damals im Dienst verdient und nie ausgegeben hatte. Einen Teil davon hatte ich in ein paar äußerst profitablen Aktien angelegt, weswegen ich heute keine Geldsorgen hatte.

Erleichterung breitete sich auf Corinnes Gesicht aus. „Sie ist Manuels Gefährtin. Er würde ehr Washington niederreißen, als dass er zuletzt, dass er von ihr getrennt wird." Ich nickte und sah die unausgesprochenen Worte in ihren Augen. Sie würde das Gleiche tun. Hätte Zarek nach dem ihr Bruder, diesen einen Satz aussprach eine falsche Bewegung gemacht, so zweifelte ich keine Sekunde daran, dass sie ihm an die Kehle gegangen wäre. Und ich hätte ihr geholfen.

Nun saßen wir alle am Tisch. Warme Croissants von der französischen Bäckerei um der Ecke lagen auf unseren Tellern, frische Brötchen standen in einem Korb auf den Tisch. Ebenso wie mehrere Marmeladen und auch eine Auswahl verschiedener Käse- und Wurstsorten. „Ihr könnt doch essen, oder?" hatte Antonia gefragt, als sie für Lucas die Tür aufhielt. Tatsächlich konnten wir wie ganz normale Menschen essen, aber wir mussten es nicht.

„Ich liebe Croissants." Murmelte Corinne und biss genüsslich von ihrem ab. Genießerisch schloss sie die Augen während sie kaute. Ich konnte nicht anders als sie anstarren. Meine Gedanken wanderten von ganz allein zu einer anderen Situation. Einer in der wir allein waren und ich es war, der ihr diesen entrückten Ausdruck ins Gesicht zaubern würde, der der Grund für ihr Stöhnen sein würde. Meine eigenen Träumereien blieben nicht ohne Wirkung. Ich war dankbar dafür, dass wegen des Tisches niemand die Beule in meiner Hose sehen konnte. Ein kurzer Blick in die Runde verriet, dass zum Glück niemanden meine kleine gedankliche Reise mitbekommen hatte. Mein Blick blieb wieder an Corinne haften. Es war faszinierend wie sie all die Probleme, die momentan auf ihren Schultern lagen, ausblenden konnte und einfach nur diesen einen Moment genoss. Ich versuchte es ihr gleich zu tun und musste dabei feststellen, dass es mit ihr tatsächlich möglich war. Dass ich trotz aller Widrigkeiten in diesem Moment so glücklich war, wie schon lange nicht mehr. Corinne saß am Tischende, neben mir, ihr ging es gut und sie wirkte glücklich. Lya schien sich hervorragend mit Manuel zu verstehen und wirkte fast schon ausgelassen. Ich konnte die Sonne beim Aufgehen beobachten. Außerdem hatte die Möglichkeit jederzeit herauszugehen und mich in ihr zu sonnen. Gerade eben war mein Leben wirklich schön. So schön wie schon lange nicht mehr. Womöglich konnte sich niemand vorstellen, was für eine Dankbarkeit ich für Corinne empfand, allein für diese kleinen Dinge, die sie mir schenkte.

„Du liebst Essen allgemein." Erwiderte Zarek. „Vielleicht solltest du es doch nochmal mit einem Kochkurs probieren."

„Oh bitte nicht." Murmelten Lucas und Manuel wie aus einem Mund. Entsetzt starrten sie zu Zarek. Sie konnten es scheinbar nicht begreifen, dass er diesen Vorschlag machte.

Wie es schien konnte Corinne nicht kochen. „So schlimm war es ja nun auch nicht." Empörte sich Corinne und sah die Brüder böse an. Ich schmunzelte. Die Vorstellung wie sie sich darüber aufregte, wenn ihr etwas nicht gelang, war köstlich.

„Meinst du den Rinderbraten, der besser als Schuhleder geeignet war oder ehr den Wackelpudding, der bis auf die Farbe starke Ähnlichkeit mit Beton hatte." Ärgerte Lucas sie.

„Als ob du besser kochen könntest." Fauchte sie.

„Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er das kann." Unterstützte Manuel seinen Bruder.

„Das ist nicht wirklich eine Kunst." Stellte Zarek trocken fest. „Du kannst nicht einmal Kaffee kochen, Cori." Fiel ihr Zarek in den Rücken. Als Antwort bekam er nur ihren Mittelfinger zu sehen.

„Das ist nicht sonderlich nett." Lachte Manuel.

„Nicht sonderlich nett ist es, wenn ich Logan brühwarm erzähle wie ich es geschafft habe meine drei Bodyguards für mehrere Stunden zu Entkommen." Erwiderte sie mit zuckersüßem Lächeln.

„Das wäre tatsächlich nicht sehr nett." Stimmte Zarek ihr zu. „Und genau deswegen wirst du es nicht machen." Corinne Schnitt ihm eine Grimasse. „Wo kommst du her, Lya?" wandte sie sich dann an das dunkelhaarige Mädchen, das eigentlich schon eine Frau war. Lya legte ihr Brötchen aus der Hand.

„Ich bin in den Slums von Basra aufgewachsen." Gab sie ohne zu zögern zu. Basra war eine der größten Städte des Iraks. „Maxim hat mich damals gerettet als er mich zu einem Vampir machte. Du bist die Prinzessin der Lykae, nicht wahr?" fragte sie dann Corinne und lenkte somit geschickt von sich selbst ab. Lya sprach nie gern über sich selbst. Corinne nickte. „Ja, das bin ich."

„Wie ist das so?"

„Prinzessin sein?" hackte Corinne nach. Lya nickte und sah interessiert zu ihr.

Corinne zögerte, überlegte sichtlich was sie sagen sollte. „Ich glaube es ist nicht viel anders, als wenn man normal ist. Es ist fast so etwas wie ein Job. Ich muss mich um die Lykae und ihre Probleme kümmern. Meistens organisiere ich alles für meinen Bruder, koordiniere und unterstütze ihn wo ich kann. Und ich bin niemals allein." Letzteres sagte sie mit ein klein wenig Ärger in der Stimme und blickte finster zu den drei Muskelprotzen. Wobei Lucas nicht ganz so muskulös war. Er war ebenso wie seine Gefährtin ein Computergenie.

Zarek schnaubte. „Schön wär's."

Corinne verdrehte die Augen. „Außer wenn ich es schaffe ihnen zu entwischen. Das passiert aber nur einmal aller zehn Jahre." Fügte sie hinzu.

„Das nervt oder?"

Als Corinne gerade etwas antworten wollte, ging ihr Handy los.

„Logan." Erklärte sie grimmig nach einem Blick auf das Display.

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