TWENTYTWO

-Sarah-

„So und da ich das letzte Mal drei Minuten überzogen habe, hören wir jetzt auf." Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, wie die Bedeutung dieser Worte bei meinen Kommilitonen ankam. Drei Stunden lang befanden sie sich, zumindest die meisten, gedanklich jenseits dieses Raumes. Doch sobald der Dozent die abschließenden Worte aussprach, ging der Kopf ruckartig nach oben. Es schien ein siebter Sinn zu sein. Ein prüfender Blick zum Dozenten, einer zu denen aus der ersten Reihe und auf einmal standen zwanzig Mann gleichzeitig auf und wollten, mit ihren vorher schon zusammen gepackten Sachen, alle als erstes aus den Raum. Auch heute wieder so. Lässig streckte ich mich aus, während alle zur Tür stürzten und drehte mich zu Simon um. Wir waren gestern noch nicht ganz fertig geworden und wollten das heute beenden. „Hast du das gestern noch gemacht?" fragte ich ihn. Er nickte. Hatte ich etwas anderes erwartet? Nicht wirklich. Simon war mustergültig. Selbst in der langweiligsten Vorlesung hörte er zu und schrieb mit. Eigentlich sollte ich das auch machen, dass würde meinen Lernaufwand am Ende auf ein Minimum reduzieren. Aber ich konnte meinen inneren Schweinhund nicht überwinden und wusste, dass ich in den Klausurwochen die Strafe dafür zu spüren bekommen würde.

„Also hast du nun heute Zeit?" fragte mich Simon. Er wusste genau, wie sehr ich mich gegen jegliche zusätzliche Arbeit sträubte. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte ohnehin keine Wahl. Irgendwann musste ich es machen. „Nicht mehr als jeden anderen Tag auch."
„Eigentlich sollten wir das in anderthalb Stunde hinbekommen." Versuchte er mich aufzumuntern.
„Lass das eigentlich weg und ich bin dabei." Ich wusste nicht warum ich mich umdrehte. Ob ich es gespürt hatte? Vielleicht. Als meine Augen auf ihn trafen, stockte der Atem in meiner Lunge und mein Herzschlag setzte aus. Auch er verhielt in seiner Bewegung und starrte mich an. Anders konnte man dieses besitzergreifende Abtasten mit seinen Augen nicht bezeichnen. Sie glühten förmlich. Ich wusste nicht woher es kam, dass ich geistesgegenwärtig noch ein: „Oder auch nicht." An meine Aussage hinzufügte. Meine Beine setzten sich von ganz allein in Bewegung. Der Stuhl schob sich zurück. Ich sprang auf und rannte den kurzen Weg auf ihn zu, um ihn dann wortwörtlich in die Arme zu springen. Einen halben Schritt taumelte Logan nach hinten, doch er hielt mich sicher in seinen Armen. Meine Hände lagen in seinem Nacken, die Beine hatte ich hinter seinen Rücken gekreuzt. Ich weiß nicht wer von uns beiden zuerst die Lippen auf den anderen presste. Es war ein verzweifelter, langer und sehnsüchtiger Kuss. Alle unsere Gefühle lagen darin. Die Wut, der Schmerz, die Trennung, die Anspannung, die Hoffnung und Verzweiflung. Gottverdammt, wie hatte ich ihn vermisst. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde glauben, dass einfach zu gehen überhaupt eine Möglichkeit war? Ich brauchte ihn wie die Luft zum Atmen. Egal wie dumm das sein mochte, wie naiv meine Gedanken vielleicht waren, wie kurz die Zeit war die wir uns kannten und die wir miteinander verbracht hatten. Jetzt nach der langen Trennung viel es mir nicht schwer, es mir selbst einzugestehen. Logan war der Eine, für immer. Außer Atem, mit rasend schnellem Herzschlag, lösten sich unsere Lippen zögerlich voneinander. Aber nicht ganz. Immer wieder neckten wir uns gegenseitig mit kleinen Aufmerksamkeiten, während wir uns langsam beruhigten. Ich legte meine Stirn an sein. „Lass es kein Traum sein." Flehte ich leise. Das hier war zu gut um wahr zu sein. Zu schön. Dabei fühlte sich alles so intensiv an, so echt. Vielleicht war ich heute morgen gar nicht wirklich aufgewacht, sondern träumte noch immer. Dann würde ich dieses Erwachen definitiv nicht überleben. Zu glauben, dass es Wirklichkeit war und dann festzustellen, dass alles nur ein Traum war, würde ich dieses Mal nicht aushalten. Der Schmerz würde mich umbringen. Ich sah wie Logans Mundwinkel zuckten. „Kein Traum. Ich bin wirklich hier." Murmelte er mir beruhigend zu und veränderte seinen Griff, so dass er mich nur noch mit einer Hand hielt und in meinen Nacken greifen konnte. „Ich habe dich vermisst." Gestand ich ihm. „Es ist vielleicht dumm, weil wir uns kaum kennen. Aber ich habe dich so unheimlich vermisst." Flüsterte ich, während Tränen über meine Wange liefen.
„Ich habe dich auch vermisst. Mehr als du dir vorstellen kannst." Vorsichtig strich er mir die Tränen von den Wangen. „Nicht weinen. Ich bin da. Ich gehe nicht und ich werde auch nicht zulassen, dass du noch mal verschwindest." Seine Worte lösten einen ganzen Tränenbach aus. Wie konnte ich nur so dumm sein? So überzeugt das Richtige zu tun, wenn es doch komplett falsch war?
„Hey, alles gut. Ich bin hier. Alles andere ist nicht von Bedeutung." Mit einer Hand strich er beruhigend über meinen Rücken und ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Ich spürte wie auch er sein Gesicht in meinen Haaren vergrub. Seine Nase streifte über meinen Nacken, sein Bartschatten kratzte an meiner empfindlichen Haut. Eine leichte Gänsehaut überkam mich. Ich genoss dieses Gefühl. All die Gefühle, die er in mir auslöste. Dieses aufgeregte Kribbeln überall. Dieses elektrisierende Verlangen, das durch meinen Körper heizte. Die Geborgenheit und Wärme, die er mir schenkte. Die Sicherheit. Aber am meisten die Vollständigkeit. Das Bedürfnis einfach nur über das ganze Gesicht zu strahlen, weil er bei mir war. Diese Lebendigkeit, die er mich fühlen ließ. Einfach nur ihn zu spüren.

Logan setzte sich mit mir in den Armen in Bewegung, aber das war mir egal. Solange er bei mir war, war mir alles egal. Er hatte seine Arme um mich geschlungen. Ich konnte ihn das erste Mal seit Wochen wieder berühren, riechen, seine Stimme hören und ich fühlte mich auf einmal wieder vollständig und ganz. Es war mir unbegreiflich wie ich von einem Menschen so abhängig sein konnte. Aber solange er bei mir war, war auch das in Ordnung. Ich hörte eine Autotür zuschlagen und eine andere öffnen. Logan veränderte meine Position so, dass ich seitlich auf seinen Schoß saß. Wir waren in einem Auto, realisierte ich, als ich kurz über seine Schulter sah. Da blitzte das erste Mal wieder ein kleiner Gedanke auf, der nicht nur mit Logan zu tun hatte. „Meine Sachen?" fragte ich und wollte schon von Logans Schoß aufspringen um sie zu holen. „Bleib hier. Die hat Ash zusammengepackt." Befahl mir Logan und hielt mich mit eisernem Griff fest.
Tatsächlich entdeckte ich auf den Fahrersitz Ash. „Hi, Süße." Zwinkerte sie mir zu. „Überraschung gelungen?" fragte sie breit grinsend. Ich nickte und schmiegte mich wieder an Logans Brust. Irgendwann würde ich sie fragen müssen, wie sie das gemacht hatte. Aber das hatte Zeit.
Dann kam mir der nächste Gedanke. „Ich hab Simon versprochen, mit ihm das blöde Projekt fertig zu machen." Darauf hatte ich gerade wirklich absolut keine Lust. Nicht einmal eine Pistole an meinen Kopf würde mich dazu bewegen können, das jetzt noch zu machen.
Ich spürte das Knurren in Logans Brust aufsteigen, noch bevor es das ganze Auto ausfüllte. Drohend. Warnend. Dunkel. Es war nicht menschlich. Wahrscheinlich sollte ich mir jetzt wirklich Sorgen machen und schleunigst das Weite suchen. Aber selbst dieses unmenschliche Knurren störte mich nicht. Ich hatte keine Angst vor ihm. Auch nicht, als er seinen Griff um mich verstärkte. Tatsächlich beruhigte es mich. Verstärkte das Gefühl von Geborgenheit. Vielleicht würde ich meine Meinung ändern, wenn ich wieder einen klaren Gedanken fasen konnte. Aber seien wir Mal ehrlich: Ich bezweifelte es. Dafür liebte ich diesen besitzergreifenden Kerl viel zu sehr. Gerade eben konnte er wahrscheinlich so ziemlich alles machen und ich würde es akzeptieren. Einfach nur weil er endlich wieder da war.
„Du gehst nirgendwo hin." Erklärte mir Logan, als ich mich von ihm lösen wollte.
„Ich habe Simon gesagt, dass es heute schlecht ist und er hat gemeint, du sollst ihm später einfach noch mal deswegen schreiben." Warf Ash ein, während sie den Wagen durch den Feierabendverkehr lenkte.
„Danke Ash." „Kein Thema, Süße." Wieder knurrte Logan. Es war leiser. Aber trotzdem klang es gereizt und drohend. Ich wusste nicht woher ich dieses Wissen nahm oder wieso ich die nächsten Worte sagte. Ich hatte nie zu der Sorte Frau gehört, die der Meinung war, dass ein Mensch irgendjemanden gehören konnte. Dazu gehören, ja. Jemanden gehören niemals. Trotzdem verließen die Worte meine Lippen. „Ich bin hier Logan. Und ich gehöre nur dir." Sofort verstummte das Knurren. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht. Liebevoll. Sehnsüchtig. Wieder fanden sich unsere Lippen.

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