THIRTYSIX

Schwungvoll schwang ich mein Bein über das Fensterbrett und das andere hinterher. Schon stand ich draußen vor dem Badfenster im Erdgeschoss, zog das Fenster so weit wie möglich wieder ran und sammelte meine Tasche vom Boden auf.

Unauffällig hatte ich mir den Schlüssel von Rios Audi aus dem Flur geklaut. Ebenso hatte ich meine Schuhe und Jacke entwendet. Die dachten ernsthaft, dass sie mich einsperren konnten?! Heute früh hatte ich, wieder jeder Vernunft wie ich nun einsah, Logan war einfach viel zu fürsorglich und besorgt wenn es um mich ging, gehofft, dass Logan Rio davon überzeugen würde, dass dieser mich wieder zur Uni gehen ließ. Logan hatte natürlich sofort Rio zu gestimmt, dass ich zu meiner eigenen Sicherheit, nirgendwohin durfte und zu allem Überfluss war ich nun nicht die einzige Gefangene. Alle durften nur zu zweit heraus. Julius hatte Glück, dass er schon auf Arbeit war als Logan das anordnete. Veronika und Nico waren kurz danach zusammen zur Arbeit gegangen. Sie arbeiteten in dem gleichen Büro, weshalb sie keine Probleme hatten. Louisa verkroch sich ohne jeglichen Widerspruch in ihrem Atelier während Ash ihre Termine absagte, um dann erst ein wenig Ordnung im Haus zu schaffen und nun das Mittagessen vorzubereiten. Ich glaube sie hatte das nur wegen mir so schnell hingenommen und akzeptiert. Unerklärlicherweise war Ash, ebenso wie alle anderen, der Meinung, dass ich in akuter Gefahr war. Am sichersten wäre ich demnach hier in ihrem Haus. Deswegen durfte ich nicht einmal zur Uni gehen. Ich verstand nicht wie sie mir so in den Rücken fallen konnte. Trotzdem war ich ihr gerade eben äußerst dankbar. Unbewusst lenkte sie nämlich meinen Wachhund ab. Bis gerade eben hatte ich in der Küche verschiedene Sachen für die Uni erledigt. Ein paar Übungen und das nächste Labor waren schon fertig als Ash beschloss, dass es ihr in ihrem Pullover zu warm wurde und sie nur noch mit einem halbdurchsichtigen Top weiter das Essen zubereitete. Wie sehr dieser Anblick Rio ablenkte, brauchte ich, glaube ich, nicht zu erwähnen. Es reichte zumindest aus, um dass ich mich unbemerkt davon machen konnte.

Mit eiligen Schritten rannte ich über den Hof und schlüpfte durch eine Seitentür in die Garage. Es war schon schlimm genug, dass Simon das Projekt heute Morgen allein beendet hatte und ich eine ganze Vorlesung verpasste, aber ich würde nicht noch eine weitere verpassen. Dabei ging es mir nicht um die Vorlesung, wenn ich eine davon passte... dann war es eben so. Hier ging es ums Prinzip. Und das Prinzip besagte, dass ich mich von nichts und niemand einsperren lassen würde, auch nicht von Logan McNaught und seinem gottverdammten Wachwauwau. Und erst recht nicht ohne eine gute Begründung. Diese hatte mir keiner liefern wollen. Es waren sich nur alle einig, dass die beiden Kerle eine Gefahr für mich darstellten. Warum sie es gerade auf mich abgesehen haben sollten, verriet mir keiner. Selbst dran Schuld, dachte ich und drückte auf den Schlüssel. Die Lichter des Audis gingen an und ich tapste im Halbdunkeln zu dem dunkelgrünen Wagen.

„Sarah Schiffer?" fragte eine dunkle Stimme hinter mir. Erschrocken, mit einem kleinen Schrei auf den Lippen, wirbelte ich herum.

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„Er hat meine Familie bedroht." Schluchzte die Frau, die Tag ein, Tag aus mein Haus betrat. Mit finsterem Blick lief ich vor ihr auf und ab. Überraschend schnell hatten die Lykae, die mein Bruder beauftragt hatte, die alten Überwachungsvideos zu sichten, den Verräter gefunden. Auf einem dieser Videos sah man wie Fernanda die Wanzen im gesamten Haus verteilte. Zu Silvester hatte sie unbemerkt von den anderen in dem Stress, der wegen der bevorstehenden Neujahrsfeier herrschte, die Wanzen angebracht. Fernanda war eine der Küchenangestellten, die tagtäglich das Essen für mich und meine Familie zubereiteten. Wenn ich nur daran dachte, wie sie mir und meiner Familie hätte Schaden können... Gift konnte uns nicht umbringen, aber es konnte uns eine Zeitlang das Bewusstsein rauben oder lähmen. Beides Möglichkeiten, die es einem Abtrünnigen leicht machen würden uns zu töten.

„Warum zum Teufel bist du dann nicht zu mir gekommen und hast mir Bescheid gesagt?" fauchte ich sie fuchsteufelswild an.

„Er ... er hatte meine kleine Sophia... in seiner Gewalt." Stotterte die Lykae unter Tränen. Sie saß auf den letzten verbliebenen Stuhl in meinem Büro. Unruhig lief ich vor ihr auf und ab, während Finn sich damit begnügte, sie mit seinem Blicken zu durchbohren.

„Ich wiederhole meine Frage." erklärte ich ihr gefährlich ruhig. „Warum. Hast. Du. Dich. Mir. Nicht. An. Ver. Traut?" jedes Wort betonte ich einzelnen, bei dem letztem sogar jede Silbe. „Ich hätte niemals zu gelassen, dass er deiner Tochter etwas antut. Wir hätten sie befreit und dem Lykae schon viel früher stoppen können." Ich verstand es nicht und musterte die dunkelhaarige Frau vor mir. Wusste sie nicht was auf dem Spiel stand? Verstand sie nicht, dass sie mit diesem Verrat nicht nur mich und meine Familie in Gefahr brachte? Sondern auch jeden einzelnen Lykae meines Rudels, unser gesamtes Volk. Ja, sogar meine Gefährtin. Ganz besonders meine Gefährtin. Allein der Gedanke ließ meinen Schattenwolf wild und bedrohlich knurren, was Fernanda erneut zusammen zucken ließ. Mit einem Seufzen wandte ich mich von ihr ab und trat zum Fenster vor. Ohne etwas zusehen fiel mein Blick auf die ersten Bäume des Dschungels. Michael Walker, der Abtrünnige wie wir nun dank Fernanda wussten, hatte schon immer gewusst, wie er die Schwächen eines jeden zu seinem Zweck nutzen konnte und er schreckte auch vor keinen Grausamkeiten zurück, wie mir nun bewusst wurde. Fernanda hatte vor ein paar Jahren ihren Gefährten bei einem tragischen Autounfall verloren. Er war bei lebendigem Leibe im Auto verbrannt, während Fernanda von zwei Lykae gehalten dabei zu sah. Sie hatten ihn nicht mehr retten können. Fernanda lebte nur noch für ihre Tochter Sophia, sie war ihr Ein und Alles, das letzte was ihr von ihrem Gefährten geblieben war. Und Michael hatte bewusst diesen Schwachpunkt ausgenutzt.

Er war für mich kein unbekannter Lykae, vor guten fünfzig Jahren war ich schon einmal mit ihm aneinander geraten. Damals meinte Michael, dass er in der Lage wäre mich in einem Kampf zu besiegen. Es war meine Pflicht, mich einer traditionell vorgetragenen Herausforderung zu stellen. Natürlich gab es dafür Bedingungen, sonst könnte jeder daher kommen und ich wäre nur mit sinnlosen Kämpfen beschäftigt. Aber Michael Walker hatte diese Anforderungen erfüllt und so hatten wir gekämpft. Innerhalb weniger Minuten hatte ich den deutlich unterlegen Lykae besiegt. Er hatte sich damals schwergetan sich mir zu unterwerfen. Ein solcher Kampf endete nur damit, dass der Schwächere sich unterwarf oder den Tod fand. Die ersten Jahre nach dem Kampf hatten wir ihn kritisch im Auge behalten. Er war nicht sonderlich beliebt bei seinem Rudel, doch er hielt sich an die Regeln der Lykae. Mit der Zeit hatte ich ihn nicht mehr so sehr kontrollieren lassen. Es war sein Recht gewesen mich zu einem Duell herauszufordern und nur weil er es wahrgenommen hatte, sollte man ihn dafür nicht bestrafen. Jetzt verfluchte ich mich dafür, die Leinen gelockert zu haben. Hätte ich dies nicht getan, dann wären wir jetzt nicht in dieser Situation.

„Okay, Fernanda. Du gehst noch einmal zu dem Treffen mit ihm zurück und berichtest mir von jedem noch so kleinen Detail." Verlangte ich, wandte mich vom Fenster ab und ihr zu.

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„Lass mich runter, du Neandertaler." Verlangte ich und trommelte auf den breiten Rücken eines braungebrannten Riesens. Er war es, der mich in der Garage angesprochen hatte. Als ich flüchten wollte, hatte er mich einfach gepackt und schleppte mich, weiß der Teufel, wohin.

„Lass sie ja nicht runterfallen." Sagte der zweite Neandertaler, der uns folgte, zu seinem Freund, über dessen breiter Schulter ich lag. Sein Griff um meine Oberschenkel festigte sich noch mehr. Zielsicher strebten die beide auf das Hauptgebäude des Hofes zu. Einen Moment beruhigt, dass die beiden scheinbar nicht zu den Kerlen aus dem Porsche gehörten, atmete ich auf. Doch dann kam der nächste Gedanke und ich hätte am liebsten lautstark geflucht. Fast hätte ich meine Flucht geschafft und jetzt tauchten die nächsten beiden muskelbepackten Vollidioten auf. Eine Minute später und ich wäre weg gewesen, jammerte ich in Gedanken. Von dem hin und her Geschauckel auf seiner Schulter wurde mir schlecht. Das teilte ich den beiden auch mit.

„Hab dich nicht so, Prinzessin. Du bist selber dran schuld." Maulte der, der mich trug.

Mit geschlossenen Augen kämpfte ich gegen das Übelkeitsgefühl an und gab jegliche Gegenwehr auf.

Endlich blieb er stehen. Gequält stöhnte ich auf. „Lass mich bitte runter." Murmelte ich schwach. Ich würde ihm gleich sein gottverdammtes Shirt voll reihern.

„Du solltest sie wirklich runterlassen." Meinte der Typ hinter uns, während der andere klingelte. „Irgendwie sieht sie wirklich nicht gut aus."

Ungewöhnlich sanft fasste der Kerl, der mich getragen hatte, an den Hüften und stellte mich behutsam vor sich ab. Kritisch betrachtete er mein Gesicht, während ich noch immer um die Herrschaft über meinen Mageninhalt kämpfte.

„Oh verdammt." Murmelte Neandertaler Nummer eins, als auch er begriff, dass es mir tatsächlich nicht gut ging. „Kann...?"

Die Tür wurde aufgerissen und Rio stand mit verwuscheltem Haaren vor uns. „Hi." Grinste er breit ehe sein Blick auf mich fiel und sich sein gesamter Gesichtsausdruck verfinsterte.

„Was machst du hier drau..." mit einem Würgen beugte ich mich vor und kotzte ihn auf die Schuhe. Ups.

Wie sich wenige Minuten später herausstellte war Neandertaler Nummer eins Zacharias Montgomery. Sein Kumpel war Alex Pfister. Die beiden waren die von Logan versprochene Verstärkung und hatten meinen Fluchtversuch erfolgreich vereitelt. Während Ash mir einen Kräutertee brachte, entschuldigte sich Zacharias gefühlte tausend Mal dafür, dass er so grob war. Der zwei Meter große Kerl war halb am durchdrehen bis wir ihm erklärten, dass ich schwanger war. Danach war er komplett am durchdrehen und dachte, er hätte mir und dem Baby geschadet. Es dauerte einige Zeit bis wir ihm klar machten, dass die Kotzerei nicht gerade ungewöhnlich für schwangere Frauen war. Trotzdem entschuldigte er sich die ganze Zeit über und fragte, was er machen konnte damit es mir besser ging. Hätte ich mich nicht immer noch ein wenig schlapp gefühlt, hätte ich die Augen verdreht. Mochte ja sein, dass er nicht unschuldig an der Misere war, aber seit ich schwanger war, reagierte mein Magen einfach ein klein wenig überempfindlich.

„Zack." Unterbrach ihm Alex irgendwann.

„Was?" fragte dieser und musterte mich besorgt. „Wenn du dich noch einmal entschuldigst, schneidet sie dir wahrscheinlich die Zunge raus." Erklärte er seinem Kumpel.

„Die Idee ist gut." Stellte ich fest. „Ich dacht eigentlich an Klebeband, aber Zunge rausschneiden... ja, das dürfte effektiver sein." Frech zwinkerte ich den beiden zu. Alex lachte, während Zacharias mich ungläubig ansah und dann ebenfalls polternd zu lachen anfing.

„Ich glaub, du bist schwer in Ordnung." Stellte er fest.

„Kann ich dir irgendetwas Gutes tun?" fragte Zacharias.

Dieses Mal wollte ich wirklich die Augen gen Himmel drehen als mir tatsächlich etwas einfiel. „Ich möchte ab morgen wieder in die Uni gehen können." Erklärte ich den beiden. „Wäre das irgendwie möglich?"

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