twentynine
-Anja-
"Und wo gehen wir jetzt als erstes hin?", fragte Gloria neugierig neben mir und wippte auf ihren Füßen aufgeregt vor und zurück. Ihr Tatendrang war nicht zu übersehen und ich tat mich schwer damit nicht erneut die Augen zu verdrehen. Wir hatten den Hauptbahnhof von Wien erreicht.
"Wie organisieren uns ein Zimmer", antwortete ich ihr kurzangebunden. Eigentlich hätte ich die Haare im Zug färben wollen, aber ich befürchtete, dass dies zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. Eine Toilette war kaputt gewesen. Eine zweite, die für mehr als eine halbe Stunde besetzt gewesen wäre, hätte zweifellos für Aufsehen gesorgt. Außerdem waren die Kabinen wirklich beengend und die Waschbecken zu klein. Deswegen trugen Gloria und ich nun beide Käppis. Ein goldfarbener Ring zierte meine Nase und ein aufwendiges Make-Up ließ meine Augen riesig erscheinen. Dazu trug ich eine ausgebleichte, zerrissene Jeans und ein Oversize-Shirt, welches einen Streifen meines braunen Bauches zeigte. Die roten Haare würden meinen Look vervollständigen. Ich wusste nicht wie dieser Look genannt wurde, aber jedes zweite Teenagermädchen schien so auszusehen und ich wollte schließlich in der Masse untertauchen.
Gloria... nun ja. Sie hatte sich ebenfalls in eine Jeans gezwängt. Wobei gezwängt das passende Wort war. Die Jeans saß wie eine zweite Haut und der dünne Pullover zeichnete sogar ihren Bauchnabel ab, so enganliegend war er. Die blonden Locken hatte ich ihr noch ein wenig wild geflochten, während sie einen fetten schwarzen Liedstrich gezogen hatte. So wie sie aussah, könnte sie genauso gut auf der Schulbank hocken und abends von einem Club zum Nächsten ziehen.
„Ich mag den Look!", hatte sie gesagt, kurz nachdem wir wieder an unseren Plätzen angekommen waren. „Steht mir, oder?" Skeptisch hatte ich sie betrachtet. Es sah schon auf gewisse Weise gut aus. Das Schminken machte mir genauso Spaß wie das Haare machen. Ich liebte es eine neue Person zu kreieren, besonders da wir immer gleichaussahen. Aber dieser Stil trifft nicht meinen Geschmack. Es war ein Mittel zum Zweck. „Geschmackssache.", hatte ich deshalb neutral erwidert.
Gloria hatte genervt geseufzt. „Wie alt bist du eigentlich?"
„Weiß ich nicht.", hatte ich verwirrt gemurmelt, überrascht von dem schlagartigen Themenwechsel.
„Wie du weißt es nicht?" Nun war sie genauso verwirrt gewesen wie ich. Ihre glatte Stirn hatte Falten gehabt und ihre Augen hatten in meinen nach dem Witz an meiner Aussage gesucht.
„Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen.", gestand ich ihr dann. Gloria schnappte sichtlich entsetzt nach Luft. Diese Aussage schien für sie unvorstellbar.
„Aber...", setzte sie an.
„Wir sind da!", hatte ich sie unterbrochen. Ich wollte nicht darüber nachdenken wie alt ich war. Darüber nachzudenken, ließ mich jedes Mal melancholisch werden. Es war nicht immer leicht so alt zu sein. Die Gesellschaft war stets im Wandeln und doch gleich. Die Technik blieb nicht stehen, die Grenzen dessen was Menschen möglich war, wurden immer geringer. Aber der Mensch als Person blieb gleich. Er schien nicht aus seinen Fehlern zulernen, keine Konsequenzen zu ziehen. Sein Gedächtnis war kurz und selbst die Bücher, in denen sie alles notierten, schienen nicht als Erinnerungsstützen zu reichen. Jeder Krieg hatte den gleichen Ursprung. Gier nach Macht, Ruhm und Anerkennung. Um der Liebe Willen oder auch aus Eifersucht. Aus einem Missverständnis heraus... es war ermüdend. Ebenso wie Jahr für Jahr Menschen zu verlieren, die einem am Herzen lagen. Die Verluste summierten sich mit der Zeit, ebenso wie die Tragödien und die Momente, die man eigentlich nie erleben wollte. Das Glück, all die positiven Sache rückten dann immer mehr in den Hintergrund. Das konnte ich gerade jetzt nicht gebrauchen. Auch sonst nicht, deswegen lebte ich die meiste Zeit im Moment, dachte nur wenig an morgen und so gut wie nie an die Vergangenheit. Aber jetzt konnte ich es noch viel weniger gebrauchen als sonst. Ich musste mich konzentrieren, damit ich Juliet nicht auch bald zu meinen Verlusten aufzählen konnte.
Und nun standen wir hier. Mitten auf dem Bahnhof, während die Menschen geschäftig um uns herum eilten. „Und dann?", hackte Gloria weiter nach.
„Dann färben wir unsere Haare.", murmelte ich abgelenkt, da ich mich nach dem richtigen Ausgang umschaute.
„Muss das sein? Uns erkennt doch so schon keiner mehr.", gab sie unwillig von sich.
„Das glaubst aber auch nur du.", erwiderte ich nebenbei und lief los.
„Bist du grundsätzlich so pessimistisch eingestellt oder hast du nur zu wenig geschlafen?" Ihre Worte brachten mich abrupt zum Stehen und ließen mich zu ihr herumfahren. „Das nennt sich Realismus, Grashüpfer. Gesunder, lebensrettender Realismus." Ich betonte jedes einzelne Wort damit sie es verinnerlichte. Ihre leichtfertige und manchmal auch respektlose Art raubten mir schon jetzt den letzten Nerv. War ich wirklich so alt und verstockt oder war sie einfach nur so naiv und unvorsichtig? „Und nur zu deiner Info, ich schlafe so gut wie nie. Ich brauche das nicht mehr." Vielleicht war es eine kleine Lüge, aber Gloria musste nicht wissen warum ich eine Nacht um die andere jeglichen Schlaf mied. Da sie mich begleitete, würde sie schnell bemerken, dass ich nicht viel schlief. So vermied ich jegliche Fragen und Vermutungen, die sie vielleicht zum richtigen Ergebnis führen würden.
Sie schnaubte als ich mich schon wieder zum Gehen wandte. „Ich bin mir sicher, du verwechselst da was.", meinte sie mit einer letzten Anspielung auf Realismus und Pessimismus. Eilig schloss sie zu mir auf und rückte ihre Kappe zurecht. „Außerdem nenn mich nicht so. Ich hasse diesen Namen. Vielleicht bin ich nicht so alt, dass ich meine eigenen Geburtstage nicht mehr zähle, aber ich bin weder jung noch naiv."
Nun war es an mir zu schnauben. „Dir fehlt es nicht nur an Realismus, sondern auch an einer gesunden Selbsteinschätzung. Aber wie soll ich dich nennen?", willigte ich trotzdem ein.
Die Antwort kam schnell und ohne jegliche Überlegung. „Glory.", und sie brachte mich damit zum Rasen. Ich fragte mich erneut, was Isabell sich dabei gedacht haben musste, mir gerade diese Walküre als Begleitung mit zu schicken.
„Das ist nicht dein verdammter Ernst!", verlangte ich knurrend von ihr. Wahrscheinlich hatte ich schon zu viel Zeit mit dem Lykae verbracht, dass ich nun schon genauso wie er anfing. Der Gedanke an ihn löste für einen Moment ein warmes Gefühl in mir aus und führte zu einem Zucken meiner Mundwinkel, aber nur bis die Schuldgefühle mich überwältigten. Wusste er schon von meiner Abwesenheit? War er zu Susie gegangen und hatte nach mir gefragt? Glaubte er ihr, wenn sie ihm verraten würde, dass ich kurzfristig für ein paar Wochen Urlaub genommen hatte? Ich hoffte es so sehr, wollte ich doch nichts anderes als ihn wieder zu sehen.
„Was denn?", fragte Gloria verständnislos und riss mich einmal mehr aus meinen Gedanken.
„Das ist dein Spitzname." Zumindest vermutete ich das und wahrscheinlich nutzte sie genau diesen, wo auch immer sie momentan wohnte. Manchmal war es einfach besser bestimmte Sachen nicht zu wissen, beschloss ich und fragte aus diesem Grund nicht näher nach. Verdrängung war keine Lösung, aber für kurze Zeit ein Weg um das Problem zu umgehen.
„Na und?", erwiderte Glory, „ist doch perfekt.", meinte sie.
Aber sie war weder jung noch naiv! Wenn sie so weiter machte, würde sie uns schneller entlarven als das ich „Bitte nicht!" schreien konnte.
„Ich schicke dich gleich wieder zurück!", drohte ich ihr und meinte es todernst. Wahrscheinlich sollte ich das so und so tun. Wusste der Teufel, was Isabell wieder gesehen hatte. So hilfreich konnte Gloria gar nicht sein, dass es den Schaden Wert war, den sie voraussichtlich verursachen würde.
Gloria seufzte. „Bist du immer so ernst? Hast du jemals im Leben Spaß?", fragte sie. Für die Frechheit dieser Frage schenkte ich ihr lediglich einen grimmigen Blick von der Seite. Die letzten Wochen hatte ich verdammt viel Spaß gehabt und das Leben genossen. Der Lykae hatte tatsächlich mein Leben bereichert und mir wieder mehr Lebensfreude geschenkt, dabei hatte ich nicht einmal gemerkt, dass sie mir nach und nach abhandengekommen war. „Wann hattest du das letzte Mal Sex?", rief Gloria auf einmal aus, so laut, dass die Leute sich in unserer Nähe zu uns umdrehten. Ohhh, ich würde das Gör eigenhändig umbringen. „Wir gehen gleich in eine Bar und dann finden wir ein oder zwei heiße Männer für dich." Irgendwo knurrte ein Hund so laut und drohend, dass es mich für einen Moment ablenkte und ich mich suchend nach dem Ungeheuer umsah. Einige Passanten taten es mir gleich, doch in dem Gewühl war wenig zu erkennen. Mit einem finsteren Blick sah ich wieder zu Gloria, doch sie ignorierte meine Mimik oder bemerkte sie in ihrem Enthusiasmus gar nicht. Womöglich wurde mein Gesichtsausdruck, deswegen noch grimmiger.
„Du träumst wohl schlecht!", fuhr ich sie an. Sie sah mich doch tatsächlich mit einem verletzten Gesichtsausdruck an. „Aber der Sex würde dir sicherlich helfen, dich zu entspannen!", beteuerte sie von ihrer Idee überzeugt. Ein Schlag in ihr Gesicht, ein paar gebrochene Knochen und selbstverständlicher Weise ein wenig Blut von ihr, das floss, würden mit großer Sicherheit ebenso zu meiner Entspannung beitragen. Wenn zwei sich prügelnde Frauen auf offener Straße nicht solche Aufmerksamkeit erregen würde, wäre dies tatsächlich eine Idee, deren Umsetzung zu überlegen wäre. Das würde die Fronten zwischen uns klären, unsere streitsüchtigen Seelen besänftigen und eine Verbundenheit schaffen, die wir für die uns bevorstehende Aufgabe gut gebrauchen konnten. Die Verletzungen würden binnen weniger Stunden geheilt sein. Leider war dies nur keine Option.
„Ich bin entspannt!", fauchte ich absolut angespannt. Wenn ich an Sex dachte, sah ich nur noch einen Mann vor mir. Einen Mann, der nie mir gehören könnte und nachdem ich mich schon so verzehrte.
„Du hast einen Liebhaber zurückgelassen", stellte Gloria erstaunt fest und ich riss meine Augen wieder auf. War ich so nachlässig, dass sie mir meine Gedanken an Sebastian aus dem Gesicht lesen konnte. „Wir suchen dir einfach einen anderen und dann vergisst du ihn schnell wieder.", meinte sie nun wieder deutlich lockerer und legte einen Arm um meine Schultern. Es musste komisch aussehen, da sie ja doch einiges kleiner als ich war.
„Nein!", fauchte ich unverständig, ungläubig. Verwirrt musterte Gloria mich,dann riss sie die Augen auf. „Oh nein! Du hast dich verliebt." Das letzte Wort sprach sie wie eine Krankheit aus.
Ich presste die Lippen aufeinander und blieb stumm. „Oh mein Gott. Es ist wirklich der eine für dich.", hauchte sie ungläubig und schlug sich aufgeregt die Hände vor den Mund.
„Können wir das Thema wechseln?", bat ich bevor sie mir mehr Fragen zu dem Lykae stellen konnte. Ich wollte mit ihr nicht über Sebastian reden. Ich wollte ihn mit niemanden teilen. Und dass er ein Lykae war, durfte sie erst recht nicht herausfinden.
Ausnahmsweise stimmte Gloria einmal sofort zu. Schweigend liefen wir die Fußgängerzone entlang.
„Sorcha.", sagte Gloria plötzlich, nachdem wir einige Zeit geschwiegen hatten und ohne den prunkvollen Gebäuden größere Beachtung zu schenken, durch die Stadt liefen.
„Wie?", fragte ich und schreckte aus meinen Gedanken auf. In meinem Kopf erstellte ich gerade eine To-Do-Liste. Sehr zu meiner eigenen Enttäuschung war diese Liste noch nicht lang. Ich konnte nur hoffen, dass wir an dem Wagen Spuren finden würden, die hilfreich waren.
„Du wolltest einen anderen Namen für mich: Sorcha.", erklärte sie.
Innerlich schlug ich mir die Hand gegen den Kopf. „Etwas Unauffälligeres ist dir nicht eingefallen?", hakte ich nach und versuchte meine Stimme möglichst neutral zu halten. Sorcha war schließlich dann doch besser als Glory.
Glorias Blick ließ mich jeden weiteren Einwand herunterschlucken. Wenn wir nicht eine ordentliche Portion Glück und ein Heer aufmerksamer Schutzengel haben sollten, würde dieser Auftrag sowas von schief gehen. Das wusste ich schon jetzt. Ich war wirklich versucht noch ein weiteres Mal Isabells Nummer zu wählen und mich zu versichern, dass ich ihre Worte nicht missverstanden hatte. Aber erst einmal brauchte ich dafür ein neues Handy, erinnerte ich mich.
„Wir müssen hier kurz rein.", stoppte ich Gloria, an einem Laden in dem wir Handys und eine Prepaid Karte bekommen sollten. Zehn Minuten später kam ich mit besagten Sachen aus dem Laden. „Warum nimmst du nicht dein Altes?"
„Ich hab Joe versucht zu erreichen und hatte eine Polizistin dran. Sie hat jetzt diese Nummer, also kann ich das Alte nicht mehr nutzen.", erklärte ich ihr und hoffte, dass sie jetzt ein bisschen mein misstrauisches und vorsichtiges Verhalten verstehen würde.
„Verdammt.", murmelte Gloria. „Wie schlimm ist es wirklich?" Anscheinend fing sie erst jetzt den Ernst der Lage an zu begreifen.
„Sie ist seit fast einem Monat verschwunden. Ihre Arbeitskollegen haben gesagt, als sie gegangen ist war alles wie immer.", erzählte ich, was ich wusste.
„Warum suchen wir erst jetzt nach ihr?", fragte Gloria unverständig und ich stimmte ihr zu. Diese Frage war berechtigt.
„Joe wollte umziehen. Es war ihr letzter Arbeitstag. Ihre Wohnung hatte sie gekündigt und leer geräumt. Sie hat etwas mehr als acht Jahre hier gelebt. Sie wollte weiterziehen, in diesen Zeitraum hat sie sich manchmal nicht sofort gemeldet. Deswegen ist es uns erst so spät aufgefallen."
„Wo wollte sie hin?"
„Ich habe keine Ahnung.", gab ich zu. „Ich bezweifle, dass Joe das schon wusste."
„Da siehst du, was eure Paranoia anrichtet." Schon wieder war ein deutlicher Vorwurf Glorias Stimme zu entnehmen.
Nicht allzu sanft packte ich sie am Arm und zwang sie zum Stehen bleiben. Mit zusammengepressten Lippen sah sie mich an und wartete darauf, dass ich etwas sagte. „Mag sein, dass dies vielleicht daran liegt, dass wir so Paranoid sind, wie du sagst. Aber kannst du mir beweisen, dass heute noch immer so viele von uns leben würden, wenn wir inKoven gelebt hätten? Gejagt von den Vampiren und Dämonen, im Krieg mit der halben Hexenschaft!", forderte ich sie heraus.
„Die Hexen kann man kaum noch als solche bezeichnen. Dämonen wagen sich so gut wie gar nicht mehr her und die Vampire sind nicht so schlecht wie du sie machst.", verteidigte Gloria ihre Ansichten. Erbost über ihre erneute Verteidigung dieser blutsaugenden Monster kniff ich die Augen zu Schlitzen zusammen. „Außerdem ist es ihnen per Gesetzt verboten uns zu jagen."
„Denkst du, dass interessiert die?", höhnte ich. „Hat es deine heißgeliebten Vampire interessiert, als sie hinter Dani und dir hinterherwaren? Oder hinter dir und Florence?" Gloria blieb stumm, wandte den Blickab.
„Lässt du mich los?", fragte sie, ihre Miene verschlossen. „Wir müssen los, bevor wir noch mehr wertvolle Zeit verschwenden." Diese Spitze saß. Besonders, da ich wusste, dass ich einiges an Zeit verloren hatte, da ich mich mehr mit Sebastian als Juliets Verschwinden beschäftigt hatte.
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