thirtysix
-Anja-
Einen Moment sah ich ihm in die Augen, doch ich konnte seinem Blick nicht lange standhalten. Ich fühlte mich schuldig. Keiner von uns beiden sagte etwas. Es war das erste Mal, dass mir das Schweigen zwischen uns erdrückend und unbehaglich vorkam. Also machte ich den Mund auf um das Schweigen zu durchbrechen. „Was machst du hier?" Noch während ich die letzte Silbe der Frage sprach, hätte ich mich selbst ohrfeigen können.
Stille antwortete mir und als ich mich endlich traute einen Blick auf Sebastians Gesicht zu werfen, sah ich die harten Linien seines Gesichts und die deutlich sichtbare Anspannung. Wütend, fast schon mordlüstern, sah er zu mir und trotzdem war da etwas in seinen Augen, das mir verriet, dass ich ihn mit meinen Worten verletzt hatte. Genervt und wütend auf michselbst stöhnte ich innerlich und ließ mich erschöpft auf den Boden fallen. Meine Beine zum Schneidersitz überschlagen, stützte ich die Hände auf den Knien und ließ meinen Kopf nach vorn in meine Hände sinken. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal geschlafen hatte und das Tragen des Autos tat sein übriges. Zu gern hätte ich die Schuld für meine dämliche Ausdrucksweise auf den Schlafmangel geschoben, aber auch ohne Schlafmangel schien ich in Sebastians Gegenwart kein bisschen Feingefühl zu besitzen. Immerhin war das jetzt schon das zweite Mal, dass ich Bullshit bei ihm baute. Richtig großen Bullshit. „Es tut mir Leid, Sebastian. So habe ich meine Worte nicht gemeint." Damit er mir in die Augen schauen konnte und hoffentlich sah, dass ich es ernst meinte, hob ich den Kopf und suchte seinen Blick.
Sebastians Gesicht verriet mir nun nicht mehr viel. Er versteckte seine Emotionen hinter einer Maske der Gleichgültigkeit und das tat weh. „Was tut dir leid?", fragte er ruhig. Es war die Ruhe vor dem Sturm. „Dass du gelogen hast? Dass du abgehauen bist ohne ein Wort zu sagen? Dass ich dich gefunden habe? Oder dass du mich scheinbar nicht loswirst?", brach es auf einmal zornig aus ihm heraus. „Oder dass du vergessen hast mir zu sagen, dass du schon einen Lover hast? Vielleicht wäre ich dann nicht so aufdringlich gewesen?", schlug er vor. Seine Hände ballten sich immer wieder zu Fäusten und lockerten sich, seine Schultern waren angespannt. Seine Haltung hin und hergerissen. Sein Blick lag unablässig auf mir. Bohrend. Wütend. Verletzt. Enttäuscht.
Dieser Blick schnitt mir ebenso ins Herz wie seine Worte. Es schmerzte zu wissen, dass ich die Schuld trug. Dass ich diejenige war, die das verursacht hatte. Das er litt.Nur zu gut war mir bewusst, was ich alles falsch gemacht hatte. Andererseits wusste ich jedoch nicht, ob ich nicht vielleicht wieder so handeln würde. Woher hätte ich wissen sollen wie Sebastian reagieren würde? Was er machen würde? Hätte er mich abhalten wollen? Hätte er nähere Erklärungen verlangt oder mich begleiten wollen? Ich hatte geschworen die Walküren vor alles und jeden zu schützen. Auch wenn ich mich in den Lykae verliebt hatte, konnte ich dann einfach alle meine Grundsätze, denen ich über Jahrhunderten treu geblieben war, über den Haufen werfen? Ich war als ich einfach gegangen war hin und hergerissen und ich war es auch jetzt noch. Trotzdem gab es einen entscheidenden Gedanken, den ich zuvor immer verdrängt hatte, der jedoch bei meiner Entscheidungsfindung von enormer Bedeutung gewesen war. Ich hatte nicht nur die Walküren schützen wollen. Nein, dafür vertraute ich Sebastian mittlerweile zu sehr.
„Mir tut eine ganze Menge leid, aber ich habe dich nicht angelogen.", fing ich dann an mich seinen Vorwürfen zu stellen.
„Ach, was ist dann dein Erstname? Vivien oder Anja?", spottete Sebastian ungewohnt gnadenlos. Mein Blick fiel auf den Boden. Verdammt. Ich hatte meine Überlebenstechniken so verinnerlicht, dass ich den anderen Namen gar nicht mehr als Lüge wahrnahm.
„Meine Mutter nannte mich Anja. Den Namen Vivien habe ich vor etwa dreihundert Jahren das erste Mal angenommen und seitdem immer wieder. Ich...", ich stoppte. Es war nicht meine Art mich zu verteidigen oder zu rechtfertigen und trotzdem verspürte ich das Bedürfnis ihm alles zu erklären. Ich wollte nicht, dass Sebastian mich mit diesen kalten Augen maß. Am liebsten wäre ich ihm in die Arme gesprungen und hätte ihn endlich geküsst, doch seine distanzierte Haltung hielt mich davon ab. „Ich habe nicht daran gedacht, Seb." Kurz sah ich zu ihm. Sein Blick lag noch immer aufmerksam auf mir. Presste er de Kiefer tatsächlich nicht mehr so fest aufeinander oder war es reines Wunschdenken? Ich sah wieder weg. Diese Kälte tat so unvorstellbar weh. Lieber wäre ich wieder auf ein Schlachtfeld gerannt und hätte mich den Blutsaugern gestellt oder wäre in den Traum eines Mörders gesprungen... Mir war alles lieber als diese Kluft zwischen Sebastian und mir. Mir war nicht bewusst gewesen wie nah ich ihn schon an michheran gelassen hatte, wie selbstverständlich ich den leichten, ja wärmenden Umgang zwischen uns fand. Wie sehr ich ihn brauchte. Um mich stand es schlimmer als gedacht.
Selbst dran Schuld, Anja. Da musst du jetzt durch, versuchte ich mich selbst zu stärken.
„Das ich einfach abgehauen bin...", wandte ich mich dem Nächsten zu, als er nichts erwiderte. Wieder warf ich einen Blick auf ihn. Gespannt sah er mich an und wartete darauf, dass ich fortfuhr. „Ich wusste nicht was ich dir erzählen sollte." Mehr hatte ich nicht dazu zu sagen. Es war die reine Wahrheit. Ich war gegangen, weil ich nicht wusste wie ich Sebastian mein plötzliches Verschwinden erklären sollte und weil ich ihn nicht von vorne bis hinten belügen wollte.
„Wie wäre es mit der Wahrheit gewesen?" Sebastians Stimme wirkte bei weitem nicht mehr so aufgebracht wie zuvor und als ich jetzt einen Blick zu ihm warf, sah ich wie er sich durch die Haare fuhr. Er wirkte dabei verzweifelt und erschöpft. Zögerlich streckte ich eine Hand nach ihm aus, doch die Angst vor einer Zurückweisung war so groß, dass ich sie wieder sinken ließ, bevor er die Geste überhaupt sehen konnte.
„Ich konnte nicht.", sagte ich schließlich. Meine Stimme klang beherrscht, als ich zu einer Erklärung ansetzte. „Ich würde dir jederzeit mein Leben anvertrauen, Sebastian." Eindringlich sah ich ihn an. Sah, dass seine Haltung sich tatsächlich etwas lockerte. „Aber ich konnte dir nicht von ihnen erzählen. Noch nicht." Ich war mir sicher, dass ich es irgendwann getan hätte. „Ich habe geschworen jede einzelne noch lebende Walküre mit meinen Leben zu beschützen und niemanden von uns zu erzählen."
„Wenn du mir dein Leben anvertrauen würdest, warum dann nicht, dass du nicht die einzige Walküre bist?", unverständig sah er mich an. Natürlich fand er die Schwachstelle in meiner Erklärung! Das Schicksal war noch nie allzu gnädig mit mir gewesen. Ich sah weg, presste die Lippen aufeinander.
„Anja! Rede!", herrschte Sebastian mich an und trat noch einen weiteren Schritt auf mich zu. Nicht einmal eine Armlänge trennte uns noch. Um ihn ansehen zu können, müsste ich den Kopf in den Nacken legen, da ich noch immer saß, während Sebastian stand. Nicht, dass ich das nicht gemusst hätte, wenn ich stehen würde. Sebastian war groß, um nicht zu sagen riesig, währen dich wohl eher als klein zählte. Noch immer sah ich nicht zu Sebastian. Tief luftholend, murmelte ich dann kaum verständlich die Antwort, die doch irgendwie keine war: „Ich habe gegen die Regeln verstoßen!"
Stille. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Wollte ihm nicht die Antwort geben, sollte er weiter nachfragen. „Ich verstehe nicht!", sagte er schließlich. Es war eine deutliche Aufforderung weiterzusprechen und es ihm zu erklären. Ich zögerte.
„Ich hätte dich töten sollen bei unserer ersten Begegnung!", murmelte ich und die Worte waren noch weniger zu hören als zuvor. Es wunderte mich, dass Sebastian nicht nachfragte. Demnach musste er mich verstanden haben. „Kein Unsterblicher darf von unserer Existenz wissen. Niemand.", erklärte ich ohne jeglichen Ausdruck in meiner Stimme.
„Aber du hast mich am Leben gelassen!", stellte Sebastian fest. Ich nickte, auch wenn es keine Frage war.
„Warum? Bist du zuvor schon einem Unsterblichen begegnet, den du töten musstest?" Sebastian war viel zu aufmerksam und intelligent. Natürlich entging ihm so ein Detail nicht. Ich nickte lediglich.
„Und hast du es getan?"
Ein erneutes Nicken, ehe ich mich dazu durchrang meine Taten mit Worten zu bekennen. Das war ein Punkt auf den ich nicht stolz war. Jemanden auf dem Schlachtfeld zu töten, war etwas ganz anderes als einen Unschuldigen, der einfach nur zu viel gesehen hatte. Die meisten waren zum Glück keine Unschuldslämmer. Das war ein Unsterblicher nie, rief ich mir in Erinnerung. Aber es gab wie überall die Guten und die Bösen. Ich hasste es die Guten zu töten, selbst wenn es dabei um die Sicherheit unserer Rasse ging. „Ja. Immer."
„Warum dann bei mir nicht? Du hast nicht einmal den Versuch begangen.",fragte Sebastian, seine Stimme wurde von einem Gefühl gefärbt, das ich nicht interpretieren konnte. Dafür hätte ich sein Gesicht sehen müssen, doch dafür schämte ich mich meiner in diesem Moment zu sehr.
„Ich... Ich weiß es nicht. Es..." ich stockte erneut. „Alles in mir hat sich dagegen gesträubt und dann hab ich dich kennengelernt und es gab keinen Grund mehr." Zum Glück. Gern würde ich mir einreden, dass ich es getan hätte. Aber ich war mir nicht sicher.
„Das erklärt noch immer nicht, warum du wortlos verschwunden bist.", meinte er nach einen Moment, in dem er nachzudenken schien.
Dieses Mal sah ich ihn an. Ich musste es einfach. „Wenn ich dir gesagt hätte, was ich vorhabe, hättest du darauf bestanden mitzukommen, oder?", fragte ich ihn.
„Selbstverständlich." Entschlossen sah er mich an. Für ihn schien diese Frage gar nicht zu bestehen. Das Lächeln, das ich ihm schenkte war traurig. Ich kannte ihn schon so gut, dass ich es vermutet hatte. Und ich wusste auch, was dies bedeutete. Sebastian würde auf meine Bitte hin nicht gehen und warten bis ich den Auftrag beendet hatte und zu ihm zurückkam.
„Gloria hat dich zwar nicht getötet, aber Juliet würde es ohne zu zögern tun. Ohne dass weder du noch ich sie stoppen könnten." Den letzten Satz betonte ich stärker, damit ihm klar war, dass ich nicht scherzte. Juliet war einmalig. Schnell, stark und absolut tödlich. Gnadenlos. Der Vampir, mit dem sie es aufgenommen hatte, musste ebenso geschickt sein. Skeptisch sah Sebastian mich an.
„Du hast mich vor deines Gleichen beschützen wollen?", hackte er dann ungläubig nach. „Aber ihr..."
Die Muskeln in meinen Körper spannten sich wie von selbst an, mit durchgedrückten Rücken und zu Schlitzen verformten Augen sah ich ihn warnend an. Die Hände zu Klauen gekrümmt, die Nägel zu krallen verbogen, lagen meine Hände auf den Jeansstoff meiner Hose. Alles an mir drückte Gefahr auf. Ein einzelner Satz würde ausreichen um hochzuspringen und Sebastian an die Kehle zu gehen. Wir Walküren waren so klein und zierlich wie tödlich.
„Unterschätze uns nicht." Mörderische Wut schwang in meiner Stimme mit als ich diese Worte fast fauchte. Ich hatte es noch nie leiden können für Schwach gehalten zu werden. Das nun gerade der Mann, dem ich gefallen wollte, in mir nicht mehr als eine schwache Frau zu sehen schien, verärgerte mich ungemein.
„Nein, dass..." nun kam Sebastian ins Stottern, wich jedoch nicht meinem Blick aus. „Steh auf! Ich mag es nicht, wenn du so vor mir auf den kalten Boden sitzt!" Auffordernd streckte er mir seine Hand entgegen. Blinzelnd sah ich erst ihn und dann seine Hand an. Dieser Themenwechsel kam so abrupt, dass selbst ich ins Schleudern geriet. Am liebsten wollte ich Sebastian an die Kehle springen, da dies ein eindeutiges Ausweichmanöver war. Andererseits würde ich mich nach wie vor in seine Arme werfen und ihn endlich küssen wollen. Auch wenn das ein Ausweichmanöver war, so war das besorgte Stirnrunzeln und der trotzigen, vorwurfsvollen Tonlage doch seine Sorge um mich anzuhören. Er war süß, selbst wenn er so dumm war und uns unterschätzte.
Er wollte gerade seine Hand zurückziehen, als ich meine endlich in seine legte und mich von ihm hochziehenließ.
„Dankeschön!" Ich merkte wie ich leicht schwankte und versuchte es zu überspielen in dem ich mir den Hosenboden abklopfte.
Sebastian war es trotzdem nicht entgangen. „Was ist mit dir?", fragte er und stützte mich an meiner Taille.
„Nichts." Erwiderte ich. Gleich darauf presste Sebastian die Lippen fest aufeinander und ich seufzte tonlos. Dumme Anja. Schon wieder eine Lüge. „Nichts außer die Erschöpfung.", korrigierte ich mich. Wenn Sebastian noch immer hier stand und nicht weggerannt war, musste ich wenigstens auch ein paar Schritte auf ihn zu machen. Sonst würde ich meinen Lykae noch ganz und gar verlieren, ohne dass seine Gefährtin auftauchen musste.
„Dann sollten wir jetzt reingehen, damit wir uns vielleicht, doch ein paar Stunden ausruhen können.", meinte er. Bestimmerisch legte er mir eine Hand auf den Rücken und führte mich zu der Tür, die in den Wohnbereich führte. Trotzdem wir nun miteinander gesprochen hatten,schien zwischen uns noch immer eine gewisse Spannung zu herrschen. Natürlich, den Vorfall in meiner Küche hatten wir mit keinem einzigen Wort erwähnt.
„Sebastian.", sagte ich leise und blieb stehen. Entschlossen drehte ich mich zu ihm um. So konnte das nicht zwischen uns bleiben.
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