thirtyseven

-Sebastian-

„Was machst du hier?" Ihre Frage war wie ein Schlag in meine Magengrube. Ein verdammt fester Schlag. Die Zähne so fest aufeinandergepresst, dass ich fast Angst hatte mein Kiefer würde unter dem Druck zerspringen, sah ich sie wortlos an. Wollte Anja mich wirklich nicht sehen? War da gar nichts zwischen uns? Nicht einmal Freundschaft? Hatte ich mir die Freude in ihrem Gesicht als sie mich heute Nacht das erste Mal sah nur eingebildet? War es reines Wunschdenken meinerseits? Ich wusste es nicht! Die Unsicherheit, die zuvor schon da war, wurde nun noch größer und die Bestie in mir heulte auf. Der Gedanke, dass ich für sie keine Bedeutung hatte, nichts anderes als ein lästiges Anhängsel war, machte mich nahezu rasend vor Wut. Ihre Frage hinterließ einen bitteren Geschmack der Enttäuschung und immer größer werdende Zweifel zurück.

Als Anja meinen Blick erwiderte, sah ich wie sie mich erschrocken und irgendwie wütend ansah. Kurz bevor sie de Kopf senkte, sah ich noch etwas mehr. Erschöpfung. Grenzlose Erschöpfung. Anja ließ sich elegant auf den Boden fallen und verknotete ihre Beine. Den Kopf ließ sie in ihre Hände sinken.

Ihr Anblick schmerzte und das nicht nur, weil ihre Frage deutlich machte, dass sie mich hier nicht haben wollte, sondern viel mehr, weil sie gebrochen aussah. So als hätte die Welt sie klein gemacht. Ihre Schultern hingen schlaf hinab, ihre ganze Haltung machte sich möglichst klein und suchte Schutz. Versuchte sich zu verstecken. Trotz ihrer Worte hätte ich sie am liebsten in meine Arme gezogen. Ihr versichert, dass wieder alles gut werden würde und sie in Sicherheit gebracht. An irgendeinen Ort, wo sie sich erholen und ich ihr Trost spenden konnte. Einen Ort, wo sie uns beiden eine Chance gab. Es juckte mich in den Fingern zu ihr zu gehen, doch ich hielt mich zurück und wartete ab. Wir hatten zu viel zu klären und Anja war bei weitem nicht so schwach wie sie vielleicht in diesem Moment wirkte. Also wartete ich mehr oder weniger geduldig ab und erinnerte mich daran, dass ich nicht jedes Mal klein beigeben konnte, nur weil ich es nicht ertrug meine Gefährtin so zu sehen. Dabei fiel es mir schwerer als alles andere jetzt auf Distanz zu bleiben.

„Es tut mir Leid, Sebastian. So habe ich meine Worte nicht gemeint.", erklärte sie mir und sah mir in die Augen. Auf ihrem Gesicht lag keine schützende Maske, die irgendetwas vor mir verborgen hätte. Sie bemühte sich nicht darum ihre Gesichtszüge zu kontrollieren oder ihre Gefühle zu verbergen, sondern präsentierte sie mir ganz offen. Anja wollte, dass ich sie sah. Und das tat ich. Das Prägnanteste war nach wie vor die Erschöpfung. Tatsächlich zierten ihr schönes Gesicht dunkle Schatten, Augenringe, die verrieten, dass sie tage- wenn nicht gar wochenlang nicht geschlafen haben mussten. Aber ich sah auch die Reue und die Ehrlichkeit. Die Frage war nun nur noch für was sie sich entschuldigte. Was sie diese Reue empfinden ließ? Gleichgültig versuchte ich auf sie hinab zu schauen, damit sie nicht die Hoffnung darin sah. Die Bitte, dass alles nur ein großes Missverständnis war. „Was tut dir leid?", fragte ich möglichst kühl. Doch mein Versuch scheiterte als ich mich an alles erinnerte, was zwischen uns vorgefallen war. „Das du gelogen hast? Das du abgehauen bist ohne ein Wort zu sagen? Das ich dich gefunden habe? Oder dass du mich scheinbar nicht loswirst?",Voller Zorn spuckte ich ihr die Worte nahezu entgegen. Was zur Hölle tat ihr denn nun leid? Alles oder nichts? Nur dieser beschissene Satz oder... „Oder, dass du vergessen hast mir zu sagen, dass du schon einen Lover hast? Vielleicht wäre ich dann nicht so aufdringlich gewesen?" Ich musste es wissen. Hatte Anja schon ihren Mann gefunden? Hatte ich gar keine Chance mehr bei ihr? War sie deshalb enttäuscht, dass ich da war und nicht er? In meiner Wut bemerkte ich gar nicht wie aggressiv ich mich vor ihr aufgebaut hatte. Um die unruhige Bestie in mir im Zaum zu halten, öffnete und schloss ich immer wieder meine Fäuste. Diese Geste hatte ich schon immer als kleiner Junge gehabt, wann immer die Bestie kurz vorm Ausbruch war. Und das war sie. So unruhig wie schon lange nicht mehr kratzte sie an ihrem Käfig und verlangte nachdem Blut ihres Konkurrenten, zugleich wollte sie unsere Gefährtin markieren. Nicht das ich das nicht auch wollte, jedoch blieb mir noch immer mein Verstand, der mir sagte, dass ich warten musste und das noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war. Ob dieser jemals kommen würde, war eine andere Frage. Ich konnte den Blick nicht von Anja nehmen. Hoffte eine Reaktion zu sehen. Meine Worte hatten ihr sichtbar wehgetan. Von der Genugtuung, die ich empfunden hatte als ich die Worte endlich aussprach, war nichts mehr übrig. Qualvolle Reue hatte ihren Platz eingenommen. Anja saß wie ein Häufchen Elend vor mir, meine Worte hatten sie verletzt.

Trotzdem äußerte sie sich nach einem kurzen Moment des Sammelns.

„Mir tut eine ganze Menge leid, aber ich habe dich nicht angelogen." Hatte sie nicht? Und was war mit ihren Namen? Die anderen Walküren? Stimmte die Geschichte von ihr, die sie mir erzählt hatte?

„Ach, was ist dann dein Erstname? Vivien oder Anja?" Meine Stimme klang härter als sie sollte. Der Spott darin ließ selbst mich zusammen zucken. Anja sah es nicht, ihr Blick fiel zuvor auf den Boden.

„Meine Mutter nannte mich Anja. Den Namen Vivien habe ich vor etwa dreihundert Jahren das erste Mal angenommen und seitdem immer wieder. Ich..." Anja stoppte und ich fragte mich, ob sie mir nun wieder etwas verheimlichen wollte. Dabei wirkte sie tatsächlich reuevoll. Ihr Blick war gequält. Diese Auseinandersetzung schien sie genauso sehr wie mir zu zusetzte. „Ich habe nicht daran gedacht, Seb." Dieser Kosename mit dem sie mich immer bedachte. Jedes Mal, wenn sie ihn verwendete flog ihr mein Herz noch ein kleines Stück mehr zu. Wusste sie, was sie damit in mir auslöste? Ihr Blick und die Aufrichtigkeit in ihrer Stimmen taten ihr übriges. Es war nicht ihre Absicht gewesen mich zu belügen. Anja sah wieder weg. Es schien fast so als wäre sie nicht in der Lage für länger als ein paar Sekunden zu mir zuschauen.

„Dass ich einfach abgehauen bin...", erinnerte sie mich an den nächsten meiner Anklagepunkte. Meine Haltung verspannte sich wieder etwas mehr. Ich musste wissen warum sie wortlos Verschwunden war. Dieser Vertrauensbruch nagte hart an meiner Seele und ließ die Bestie in mir unwillig knurren. Es war nicht akzeptabel, dass Anja vor mir davon lief. Und auch wenn es nicht dies war, was sie getan hatte, so hatte es sich dennoch danach angefühlt. „Ich wusste nicht was ich dir erzählen sollte." Ich wartete darauf, dass noch mehr kam. Doch es kam nichts. Sollte das alles gewesen sein?

„Wie wäre es mit der Wahrheit gewesen?", provozierte ich eine Antwort herauf.Ungläubig, nahezu verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare. Sie war verschwunden, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte? Lag es an dem Streit, den wir an dem Wochenende zuvor hatten? Dass sie sich nicht getraut hatte mit mir zu sprechen? Oder hatte sie mir gar nicht von ihrer Mission erzählen wollen? Ich war müde. Nicht unbedingt körperlich, aber geistig fühlte ich mich völlig erschöpft. Ausgelaugt. Keine Schlacht kam mir so schlimm fuhr wie diese Kluft zwischen Anja und mir. Dabei wollte ich sie einfach nur in meine Arme ziehen, ihre Nähe spüren, ihre Lippen mit meinen berühren und sie halten dürfen. Einen Moment schloss ich die Augen und versuchte Kraft zu sammeln.

„Ich konnte nicht.", erklärte Anja schließlich. Kurz überlegte ich, was ich überhaupt gefragt hatte. Ich hatte keine Lust mehr auf diese Diskussion. Keine Kraft. Ich wollte einfach nur noch, dass es wieder so war wie zuvor zwischen uns. Wir hatten zusammen gelacht, über alles Mögliche reden können. Das Verhältnis zwischen uns war entspannt und locker gewesen. Die Sehnsucht, das Knistern zwischen uns mit den Händen greifbar und die Nähe zueinander, wie ein wärmendes Feuer, das uns verband. Unbewusst hatte sie mich manchmal berührt, ohne zu zögern meine Berührungen zu gelassen. Ja, vielleicht sogar genossen. Auch wenn ich mehr wollte und immer wollen würde, so würde ich mich auch mit dem was wir zuvor hatten zufriedengeben. Vielleicht nicht für immer, denn ich wollte und brauchte mehr, aber für diesen Moment und den nächsten... Nur so wie es jetzt war... es war nicht auszuhalten. Es war ein Zustand, der unablässig an mir zerrte und scheinbar auch an Anja.

„Ich würde dir jederzeit mein Leben anvertrauen, Sebastian." Es war das erste Mal bei diesem Gespräch, dass Anja länger mit mir den Blickkontakt hielt und nicht sofort wieder wegsah. Ihre Worte waren Balsam für meine geschundene Seele und besänftigten die Bestie in mir besser als all die Worte, die ich mir zuvor einzureden versuchte. „Aber ich konnte dir nicht von ihnen erzählen. Noch nicht. Ich habe geschworen jede einzelne noch lebende Walküre mit meinen Leben zu beschützen und niemanden von uns zu erzählen.", erzählte sie mir. Die Bestie in mir muckte kurz auf, doch das ‚noch nicht' beruhigte sie wieder. Ihre Worte verrieten, dass sie es irgendwann getan hätte. Von sich aus. Trotzdem war ich verwirrt.

„Wenn du mir dein Leben anvertrauen würdest, warum dann nicht, dass du nicht die einzige Walküre bist?" Anja presste die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus. Ich hatte ein Thema angeschnitten über das sie nicht reden wollte. Kurz zögerte ich. Wollte ich sie jetzt dazu drängen? Wäre es nicht besser es auf später zu verschieben. Aber ich brauchte Antworten. Dringend. Sonst würde ich irgendwann noch durchdrehen.

„Anja! Rede!",verlangte ich deswegen und trat näher zu ihr heran. Die Distanz zwischen uns war viel zu groß. Sie sah noch immer zur Seite und musterte den dreckigen, fleckigen Boden. Einen Moment überlegte ich mich ihr gegenüber zu hocken, aber ich ließ es, da ich vermutete, dass sie die Distanz brauchte. Vielleicht auch wollte. Hätte sie sie sonst nicht schon längst überwunden? Sie war es, die mich zurückgestoßen hatte in der Küche. Die mich aufgehalten hatte. Also blieb ich wo ich war und sah abwartend zu ihr. Anja so zu sehen schmerzte wie ein Dolch im eigenen Fleisch. So leise, dass ich die Worte ohne das Gehör eines Lykae niemals vernommen hätte, murmelte sie: „Ich habe gegen die Regeln verstoßen!"

Meine Brauen zogen sich zusammen. Verwirrt sah ich zu ihr herunter. Was meinte sie mit diesen Worten. „Ich verstehe nicht!"

Ich wollte schon weiter nachfragen als Anja endlich erklärte, was sie meinte. Und das was ich hörte, ließ mich erstarren. „Ich hätte dich töten sollen bei unserer ersten Begegnung!" Mich an unsere erste Begegnung zurück erinnerten, kniff ich die Augen zusammen. Auf dem Schlachtfeld hatte sie mich zu trösten versucht und war bei mir geblieben bis der Traum endete. Am Ende wollte sie zwar abhauen, aber sie hatte nicht einmal die Klinge gegen mich gehoben. In dem Friseursalon hatte sie zwar nach einer Waffe gegriffen, aber es war eine Geste gewesen, die Wachsamkeit für einen bevorstehenden Kampf verriet und nicht den Willen mich kaltblütig zu töten. Spätestens als sie mir die Haare schnitt, hätte sie mehr als genügend Gelegenheiten für einen Mordanschlag gehabt. „Kein Unsterblicher darf von unserer Existenz wissen. Niemand." Ihre Stimme klang hohl, sie schien mit den Gedanken wo anders zu sein. „Aber du hast mich am Leben gelassen!",hielt ich das Entscheidende fest und riss sie somit scheinbar aus ihren trübseligen Gedanken, denn Anja nickte.

„Warum? Bist du zuvor schon einem Unsterblichen begegnet, den du töten musstest?", hackte ich nach. Ich musste es wissen. War ich eine Ausnahme? oder hatte sie nicht nur mich verschont? Spürte sie die Verbindung zwischen uns auch? Hatte Anja sie vielleicht schon von Anfang an wahrgenommen? Vielleicht hatte sie gar keinen Mann und das Alles war nur ein Missverständnis. Ich wagte gar nicht zu Fragen, so groß war die Angst, dass meine Hoffnungen vergebens waren. Ich zwang mich dazu meine Gedanken auf den aktuellen Sachverhalt zu lenken. Mit dem anderen Thema würde ich mich danach befassen. Und dann kam mir ein schmerzhafter Gedanke: War Anja schon gezwungen gewesen Unschuldige zu töten? Der Stich, den mir dieser Gedanke versetzte, kam nicht wegen der Unsterblichen, sondern Anjas wegen. Sie war keine gnadenlose, skrupellose Killerin. Sollte sie dazu gezwungen gewesen sein, dann quälte es sie vermutlich noch heute.Anjas Antwort auf meine Frage war ein Nicken.

„Und hast du es getan?" Ich musste es wissen.

Wieder ein Nicken. „Ja. Immer." Auch wenn sie sich um eine neutrale Tonlage bemühte, hörte ich es ihrer Stimme an, dass sie mindestens an einem dieser Toten zu knabbern hatte. Aber ihre Antwort bedeutete noch viel mehr. Ja, sie ließ sogar mein Herz vor Aufregung rasen.

„Warum dann bei mir nicht? Du hast nicht einmal den Versuch begangen." Es war die pure Hoffnung, ein Hochgefühl, das mich schlagartig meine Erschöpfung vergessen ließ, welches meine Stimme erwärmte und in meinen Gesichtszügen deutlich zu sehen war. Es hätte Anja nicht entgehen können, doch zu meinem Glück sah sie nicht zu mir hoch. Ich war ihr von Anfang an nicht egal gewesen. Zwischen uns war etwas und das schon seit der ersten Begegnung. Es war keine Einbildung, dass auch Anja es spürte. Diese Gewissheit war wohltuender als jedes heiße Bad, jede Massage oder noch so gutes Essen. Und ihre Antwort, egal wie zögern sie kam, schenkte mir einen Frieden, den mir nichts so schnell nehmen konnte.

„Ich... Ich weiß es nicht. Es... Alles in mir hat sich dagegen gesträubt und dann hab ich dich kennengelernt und es gab keinen Grund mehr." Das Lächeln auf meinen Lippen konnte man nur als strahlend bezeichnen. Aber ich wusste immer noch nicht, was dieser Regelverstoß wie sie es nannte, mit ihrem Verschwinden zu tun hatte.

„Das erklärt noch immer nicht, warum du wortlos verschwunden bist." Ich bemühte mich, mich wieder auf das wesentliche zu fokussieren. Sie riss ihren Kopf hoch und fixierte mich. „Wenn ich dir gesagt hätte, was ich vorhabe, hättest du darauf bestanden mitzukommen, oder?" In ihrer Stimme lag eine unterdrückte Herausforderung. Wir kannten die Antwort beide. Das wusste sie und ich würde sie nicht anlügen. „Selbstverständlich." Ein trauriges Lächeln erschien auf ihren erschöpften Zügen. Sie war nicht glücklich mit meiner Antwort. Aber da war noch mehr! War meine Anwesenheit trotzallem immer noch ein Problem? Was versuchte sie mir mit diesem Ausdruck in ihren schönen Augen zu sagen? Ihre nächsten Worte verrieten es mir.

„Gloria hat dich zwar nicht getötet, aber Juliet würde es ohne zu zögern tun. Ohne dass weder du noch ich sie stoppen könnten." Anja hatte Angst um mich! Es war die Sorge, die sie wortlos davon getrieben hatte und die sie auch jetzt noch davon abhielt mich hier mit offenen Armen willkommen zu heißen. Sie hatte Angst, dass eine der anderen Walküren mich töten würde. Ihre Sorge wärmte mein Herz und ließ mich ihr bedingungslos Vergeben. Zugleich machte sie mich skeptisch. Ich war ein Lykae und auch wenn Walküren nicht zu unterschätzen waren, so waren es noch immer kleine zierliche Frauen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine von ihnen mich so leicht töten konnte.

„Du hast mich vor deines Gleichen beschützen wollen?" Sicherheitshalber fragte ich noch einmal nach. Es war noch immer ein Unterschied, was der eine sagte und der andere Verstand.„Aber ihr..." Fast hätte ich gesagt: ‚seid doch nur Frauen', doch die Spannung die auf einmal in Anjas Haltung lag und dieser wachsame, katzenhaftangriffslustige Blick hielten mich zurück. Sie sah aus als wollte sie sich auf mich stürzen. Von ihrer Erschöpfung war nichts mehr zu sehen. Sie war die Jägerin und ich ihre Beute.

„Unterschätze uns nicht." Zielsicher war ich in Anjas Fettnäpfchen gesprungen. Mörderische Wut verzerrte ihre Stimme und ließ sie nahezu bedrohlich wirken. Dabei sah sie absolut hinreißend aus. Die Schultern durchgedrückt, ihren Busen schwellend in dem großzügig ausgeschnittenen Oberteil, die Hände zu Klauen gebogen, den Kopf hochmütig nach oben gereckt, die Lippen offen um ihre winzigen scharfen Reißzähne zu offenbaren und die Augen zu katzenhaften Schlitzen verzogen. Sollte ich nicht wollen, dass es tatsächlich zu einem Kampf kam, musste ich nun meine Gefühle unter Kontrolle kriegen, denn ihr Anblick ließ mich alles andere als kalt, und zurückrudern. Schleunigst.

„Nein, dass..." Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich konnte nicht sagen, dass sie mich falsch verstanden hatte, denn das hatte sie eben leider nicht. Also lenkte ich ab. „Steh auf! Ich mag es nicht, wenn du so vor mir auf den kalten Boden sitzt!" Das mochte ich tatsächlich nicht. Wenn sie so verletzlich aussah, wie zuvor die gesamte Zeit über war das Bedürfnis, sie vor der gesamten Welt zu beschützen und zu verstecken so erschreckend groß, dass ich mich kaum zusammen reißen konnte und nun, wenn sie so anbetungswürdig, gefährlich und heiß aussah, kamen Gedanken in mir auf, die in dieser Situation alles andere als angemessen waren. Um ihr aufzuhelfen streckte ich ihr meine Hand entgegen. Irritiert blinzelnd sah sie erst auf meine Hand, dann zu mir und wieder auf meine Hand. Fast hätte ich enttäuscht geknurrt, als sie meine Geste ablehnte, doch dann legte sie ihre Hand in meine und ließ sich doch noch von mir aufhelfen. Sie sah eindeutig verwirrt und überfordert von der Situation aus. Über ihr Gesicht huschte eine Vielzahl der Gefühle in so rascher Geschwindigkeit, dass ich gar nicht mithalten konnte.

„Dankeschön!", meinte sie dann. Ihre Stimme klang zögerlich. Kurz hob sich ihre Hand als sie meine losließ, dann beugte sie sich schnell vor und klopfte sich die Hose sauber. Trotzdem hatte ich gesehen, wie sie leicht schwankte.

„Was ist mit dir?" Stützend griff ich nach ihrer Taille und musterte ihre zierliche Gestalt genauer. Ich sah keine Verletzung, aber dank ihrer schwarzen Kleidung war das auch nicht so leicht. Ich roch keinen Geruch von Blut an ihr, doch dies konnte genauso gut an der Kette um ihren Hals liegen.

„Nichts.", wehrte Anja sofort ab. Missbilligend sah ich sie an. Es war mein Recht zu wissen wie es ihr ging immerhin war ich ihr Gefährte. Dass sie das nicht wusste, spielte keine Rolle. Selbst als ein Freundsollte es doch nicht zu viel verlangt sein, wenn sie mir die Wahrheit über ihren gesundheitlichen Zustand sagte. Anja schien den Grund meines Missmuts zu verstehen und gab nach. „Nichts außer die Erschöpfung.", erklärte sie mir. Ich glaubte ihr. Die ganze Zeit über hatte ich gesehen, dass sie erschöpft war und dringend den Schlaf benötigte, den sie zuvor verwehrt hatte. Tat sie dies regelmäßig? Ich hatte mitbekommen, dass sie wenig schlief. Selbst für eine Unsterbliche schien sie unverhältnismäßig wenig zu schlafen. Oder brauchten Walküren noch weniger schlaf als die Lykae? Ich wusste es nicht. Ich würde Anja fragen müssen, aber vorher würde ich dafür sorgen, dass sie den fehlenden Schlaf nach holte.

„Dann sollten wir jetzt reingehen, damit wir uns vielleicht, doch ein paar Stunden ausruhen können.", schlug ich ihr vor. Entschlossen legte ich ihr eine Hand in den Rücken, sie ließ es tatsächlich ohne weiteres zu und schob sie sanft in Richtung der Eingangstür zu Wills Wohnung. Wir hatten längst noch nicht alles besprochen. Sie hatte sich noch nicht zu meiner letzten Frage geäußert und unser Streit in der Küche war noch immer ungeklärt. Ich wusste nicht, ob sich die Gelegenheit bieten würde später darüber zu reden. Aber ihr Zustand machte mir zu sehr sorgen, als dass ich sie jetzt immer noch weiter gedrängt hätte. Wir hatten vorerst das Wichtigste geklärt. Nicht dass das andere nicht wichtig wäre, aber im Moment musste es warten. Anjas Wohlergehen ging vor. Und immerhin waren wir soweit, dass sie sich wieder berühren ließ und mit mir sprach.

„Sebastian." Die Art wie sie meinen Namen aussprach ließ mich innehalten. Auch Anja stoppte und drehte sich zu mir um.

„Ja?" erwartungsvoll sah ich sie an.

„Ich freue mich, dass du hier bist und ich will dich nicht loswerden." Ihre Augen starrten hoffnungsvoll in meine und ich brachte es nicht übers Herz sie erneut zurückzuweisen. Ich wollte und konnte es gar nicht. Ihre Worte waren schlicht und klangen etwas unbeholfen, doch die Aussage dahinter war entscheidend. Deshalb öffnete ich meine Arme und sie warf sich hinein.

„Ich hab dich vermisst.", murmelte sie. Fest presste sie mich an sich, als wollte sie mich nie mehr loslassen. Ich erwiderte ihre Geste mit einem erleichterten Grinsen und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf den Scheitel. Endlich hatte ich sie wieder. Meine Gefährtin. Meine Anja. „Ich hab dich auch vermisst."

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