❄︎ 𝟻 ❄︎
𝟻. 𝙳𝚎𝚣𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛
❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎
Die letzte Wohnungstür im Erdgeschoss, in dem es immer noch nach Plätzchen duftete, war mit einem hübschen Kranz geschmückt, in dessen Mitte sich die Zahl ›5‹ abhob. Darüber gab es ein Guckloch in der Tür und darunter zu Noëls Erstaunen einen altmodischen Türklopfer. Er fragte sich, wer wohl der Besitzer dieser Wohnung war. Besonders angesichts der doch ziemlich abgenutzt aussehenden Türmatte, deren Aufschrift unter den Unmengen an Tierhaaren kaum noch zu lesen war.
Woher hätte Noël auch wissen sollen, dass der Besitzer und der Bewohner in diesem Fall nicht dieselbe Person waren? Hätte er aber etwas genauer hingeschaut, hätte er gesehen, dass das Guckloch sich für einen kurzen Moment verdunkelt hatte. Denn wie immer, wenn Henriette Stahmann laute Stimmen und Schritte im Flur hörte, kam sie zur Tür, um zu schauen, wer das war.
Etwas enttäuscht, nur einen jungen Mann mit kurzgeschnittenen, schwarzen Haaren zu sehen, seufzte sie und beugte sich zu der Katze runter, die ihr schnurrend um die Beine strich. Susi war ein gutes Tier, aber auch schon alt. Es kam manchmal vor, dass sie gegen die Glastür lief, die in die Küche führte, weil sie sie einfach nicht sah.
Henriette strich Susi noch einmal durch das rot getigerte Fell, bevor ihr Rücken sich bemerkbar machte und sie zurück ins Wohnzimmer ging, wo ihr geliebter Sessel auf sie wartete. Ihr Sohn hatte sich darüber beschwert, dass sie ihn überhaupt in dieser neuen Wohnung haben wollte, aber da war sie stur geblieben. Den Sessel hatte ihr geliebter Jürgen ihr einst geschenkt und auch, wenn er jetzt schon tot war, sie würde diesen Sessel nie einfach so aufgeben.
„Wo habe ich nur meine Brille gelassen?", dachte Henriette laut nach und tastete über den kleinen Tisch neben ihrem Sessel. Darauf lagen nicht nur ihre Stricksachen, sondern dort stand auch das Bild ihrer Enkelin Sophia. Hübsch eingerahmt. Es war schon lange her, dass sie sie gesehen hatte. Henriette konnte sich noch genau daran erinnern, wie klein und süß Sophia damals gewesen war. Und jetzt war sie schon fünfzehn! Wie schnell die Zeit verging...
Endlich hatte Henriette ihre Brille gefunden, nahm ihre Stricksachen auf und machte sich daran, das letzte Stück der Socken zu Ende zu knüpfen. Dabei wurde sie von Susi und Peter beobachtet. Peter war jünger als Susi und hatte durch und durch schwarzes Fell bis auf eine weiße Vorderpfote. Er versuchte oft, mit Susi zu spielen, aber die Ältere ließ ihn meistens abblitzen. Vielleicht sollte ich ihn an einen der Nachbarn abgeben. Henriette hatte ihn einfach bei sich behalten, als er eines Tages einfach von der Terrassentür aus in ihre Wohnung gelaufen war. Aber sie fürchtete, dass er woanders wahrscheinlich besser aufgehoben wäre.
Auf einmal klingelte das Telefon.
„Ich komme!", rief Henriette, legte das Strickzeug beiseite und wuchtete sich mit etwas Mühe aus dem Sessel. Eine kurze Verschnaufpause, dann eilte sie, so schnell sie es mit ihrer künstlichen Hüfte vermochte, in die Küche, wo das Telefon hing. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die Nummer ihres Sohnes sah. Denkt er also doch noch ab und zu an mich.
„Hallo, mein Schatz!", begrüßte sie ihn, als sie abhob.
„Hallo, Mutti", ertönte die Stimme von Stefan. „Wie geht es dir? Ist bei dir alles gut?"
„Alles gut! Ich habe gerade zu Mittag gegessen und treffe mich morgen mit den alten Damen aus der Seniorengruppe."
Natürlich war beides gelogen. Aber sie wollte nicht, dass ihr Sohn sich Sorgen machte. Wenn er herausfand, dass sie gestern einen Nachbarn darum gebeten hatte, ihr beim Einkaufen zu helfen, und dass sie für das Kochen der Suppe vier Stunden gebraucht hatte, weil sie nicht mehr so lange stehen konnte... Nein.
Es war schon so ein viel zu großer Umstand gewesen, in diese Wohnung umzuziehen. Ihre alte war im vierten Stock gewesen und wenn der Aufzug mal nicht funktioniert hatte, hatte sie sich die Treppen hochquälen müssen. Da war diese hier im Erdgeschoss schon viel besser.
„Dann ist ja gut", antwortete Stefan. „Wenn du etwas brauchst, dann ruf einfach an, ja?"
„Weiß ich doch."
„Nächstes Wochenende wollten Carolin und ich nach Hamburg fahren. Uns die Stadt etwas ansehen und so, du weißt schon. Sophia würde das nur langweilen und da wollte ich fragen, ob sie nächstes Wochenende zu dir kommen kann."
„Natürlich!" Henriette hätte beinahe aufgelacht. „Da musst du auch gar nicht fragen! Sie ist hier bestens aufgehoben! Ich werde uns was Schönes kochen und wir werden eine gemütliche Zeit miteinander haben!"
„Oma hat kein WLAN!", erklang im selben Moment eine gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Leitung.
Henriettes Lächeln war wie weggewischt.
„Warte einmal kurz, Mutti", sagte Stefan und sie hörte, wie er das Telefon anscheinend mit der Hand abdeckte. Trotzdem drang alles zu ihr hindurch. Zumal sie erst letzte Woche neue Hörgeräte bekommen hatte.
„Oma hat kein WLAN! Sie hat nicht mal Netflix! Was soll ich denn bei ihr machen? Das werden die langweiligsten zwei Tage ever!"
„Deine Oma wird sich freuen, dich endlich wieder zu sehen!", sagte Stefan streng.
„Ich war schon die letzten Ferien bei ihr und bin fast gestorben vor Langeweile!"
„Hast du nicht gesagt, dass es dir da gefallen hat? Und dass ihre Reibekuchen viel besser sind als die von Mama?"
„Und ich habe den Ticketverkauf vom BTS-Konzert verpasst! Lea hat mir mindestens zwanzig Nachrichten geschrieben und ich habe sie erst gesehen, als ich wieder hier war! Jetzt gehen alle hin, nur ich nicht!"
„Sophia! Ich dachte, wir hätten das geklärt!"
„Ich will aber nicht zu Oma! Kann ich nicht bei Lea übernachten?"
„Nein."
„Warum nicht? Letztes Mal durfte ich das auch!"
„Und jetzt nicht mehr. Du weißt genau, warum."
Eine weitere gedämpfte Stimme schaltete sich dazu.
„Carolin, rede du mit ihr", seufzte Stefan, bevor er seine Hand wieder vom Telefon nahm. „Tut mir leid. Sophia ist gerade etwas schwierig."
„Nicht schlimm. Ich hab nichts gehört." Henriette lächelte gequält.
„In letzter Zeit ist sie nur noch hinter Jungs her und hat angefangen, sich zu schminken. Sie zieht so kurze Sachen an! Man sieht..." Stefan räusperte sich. „Jedenfalls würde es ihr wirklich guttun, mal für ein Wochenende bei dir zu sein. Mit ihrer Oma wird sie bestimmt nicht so reden wie mit uns."
Henriette lächelte traurig. Sie konnte verstehen, dass Kinder in der Pubertät manchmal dumme Sachen sagten und machten, aber es kam ihr vor, als würde das mit jeder Generation schlimmer werden. Wenn sie sich auch nur an die vielleicht Zwölfjährigen erinnerte, die sich irgendwann abends auf der Straße direkt hinter ihrem Garten ausgekotzt hatten...
„Sie kann immer jederzeit kommen", versicherte Henriette. „Du brauchst nur einen Tag vorher anzurufen, damit ich das Bett beziehen kann." Und Staubsaugen und Staubwischen kann. Und die Fenster putzen kann. Und die Katzenhaare vom Sofa und Sessel entfernen kann.
„Vielen, wirklich vielen, vielen Dank, Mutti!", sagte Stefan. „Ich bringe sie dann nächsten Freitag so um fünf vorbei."
„Alles klar. Dann weiß ich Bescheid."
„Möchtest du noch kurz mit Sophia reden? Ich geb ihr jetzt das Telefon."
Ein kurzes Rauschen, ein leises Zischen, das Henriette nicht verstand. Dann die klare, junge Stimme von Sophia.
Ja?", fragte ihre Enkelin leicht gedehnt.
„Hallo, meine Maus!", begrüßte Henriette ihr geliebtes, kleines Mädchen. „Ich freue mich, wieder deine Stimme zu hören!"
„Hm."
„Was gibt es denn Neues bei dir?"
„Nichts."
Henriette merkte, dass Sophia eigentlich gar keine Lust darauf hatte, mit ihr zu reden, aber sie hatte ihre Stimme wirklich lange nicht mehr gehört. Waren es zwei oder drei Monate? Sie rief nie von sich aus an. Wahrscheinlich hat sie auch viel mit der Schule zu tun.
„In welcher Klasse bist du jetzt nochmal?"
Sophia am anderen Ende der Leitung seufzte. „In der neunten."
Natürlich wusste Henriette das, aber sie stellte diese Frage immer, wenn sie nicht wusste, worüber sie sonst mit einer Enkelin reden sollte, die offenbar keine Lust auf sie hatte.
„Dann hast du ja nur noch drei Jahre vor dir."
„Man ist jetzt dreizehn Jahre in der Schule, Oma."
„Ah, richtig." Henriette zwang sich zu einem Lachen. „Du hast bestimmt viel zu erzählen. Ich freue mich schon auf dich."
„Hm."
„Weißt du denn schon, was du gerne essen möchtest?"
„Nein", kam prompt die Antwort. „Und ich muss jetzt auch Schluss machen. Hausaufgaben."
„Ah, natürlich." Henriette lächelte wieder gequält. „Hausaufgaben sind wichtig. Du bist ein richtig schlaues Mädchen."
„Hm."
„Hab dich lieb. Wir sehen uns nächstes Wochenende. Tschüss, meine Maus!"
„Tschüss!" Mit einem Mal klang Sophia viel fröhlicher und im nächsten Moment war der Anruf auch schon beendet.
Henriette hängte das Telefon mit einem Seufzen zurück in die Halterung. Sie wusste, dass sie eigentlich enttäuscht über die abweisende Haltung ihrer Enkelin sein sollte, aber Sophia war die einzige Enkelin, die sie hatte.
„Dann machen wir uns mal an die Arbeit", murmelte sie und strich Peter über das schwarze Fell, der während des Anrufs auf die Küchentheke gesprungen war. Henriette öffnete die Schranktür, hinter der der Putzeimer und alle dazugehörigen Utensilien standen.
Sie musste die Wohnung wirklich blitzblank putzen. Nicht nur, damit Sophia sich wohl fühlte. Wenn Stefan hierherkam und Anzeichen davon sah, dass sie nicht alleine zurechtkam... Sie hatte zu viele Freundinnen, die von ihren eigenen Kindern ins Altersheim gesteckt worden waren. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
Vielleicht sollte ich einen der Nachbarn fragen, wie man dieses WLAN bekommt, überlegte sie, während sie den Eimer mit Wasser füllte. Würde Sophia dann häufiger hierherkommen?
Von den Sorgen der alten Frau bekam Noël auf dem Flur nichts mit. Er bewunderte nur für einige Augenblicke die kleinen Figuren und künstlichen Blumen, mit denen der Kranz an der Tür geschmückt war, bevor er sich der Treppe zuwandte, die in den ersten Stock hoch führte. Was wohl noch alles geschehen würde?
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