-~2~- Es ist schon kurz nach elf!
Die Zugfahrt dauerte schon über eineinhalb Stunden. Die Sonne versank hinter dem Horizont und Sherlock ordnete die Informationen, die er bis jetzt erhalten hatte, in seinem Gedächtnispalast. Dabei blendete er Johns Versuche, per Telefon ein Zimmer in einem der wenigen Hotels der Stadt zu bekommen, fast vollständig aus.
John dagegen beobachtete seinen besten Freund, während er darauf wartete, dass sein vierter Anruf angenommen wurde.
Er fragte sich, wie weit er ihn wohl wirklich durchschauen konnte und was nur Fassade war. An Tagen, an denen er an sich zweifelte, fragte er sich sogar manchmal, inwiefern er mitbekommen würde, wenn Sherlock aus dem Rahmen des Legalen heraussprang. Es hatte immer mal gefährliche Situationen gegeben, aber wie weit würde der Detektiv gehen, wenn er in die Enge getrieben werden würde? Das letzte mal hatte er sich umgebracht, vor den Augen der Presse und aller seiner Bekannten - Bis auf Molly natürlich und Mycroft. Und seine Eltern. Und- Ach, letztendlich war John der einzige Gewesen, der wirklich gedacht hatte, er sei tot. Ein Gefühl des Ärgernisses machte sich in seinem Bauchraum breit.
So ruhig, wie sein Freund jetzt dort gegenüber von ihm auf der roten Sitzgelegenheit saß, sah man ihm gar nicht an, was in ihm steckte. Einige dunkle Locken hingen in sein Gesicht, seine Hände ruhten in seiner typischen Denkposition vor seinem Mund. Seine Pupillen waren erweitert und sein Blick starr auf einen Punkt weit hinter John gerichtet. Wenn man ihn nicht kannte, würde man wohl denken, dass er unaufmerksam war, aber irgendwie schaffte er trotzdem immer präsent zu sein. Sein Unterbewusstsein war wirklich ein Wunder der Natur.
Erst jetzt erwachte der Arzt wieder aus seinen Gedanken und die fragende Stimme der Frau auf der anderen Seite der Leitung klang in seinem Ohr.
Er räusperte sich und begann mit ihr zu sprechen.
______
Als er wieder auflegte, klang John zufrieden, beinahe euphorisch: ,,Wir haben ein Zimmer im Norden der Stadt."
,,Sie schlafen auf dem Sofa", legte Sherlock kurzerhand fest, ohne eine Miene zu verziehen, worauf er von seinem Freund missbilligende Blicke erntete.
,,Ich weiß nicht mal, ob es in dem Zimmer überhaupt eins gibt."
,,Hoffen Sie es", erwiderte Sherlock emotionslos und vertiefte sich danach wieder in seinen Gedanken.
______
Nach einer weiteren halben Stunde wachte der Detektiv aus seinem Trance-ähnlichen Zustand wieder auf und beobachtete John, wie er eher desinteressiert in einer Zeitung blätterte.
,,Was meinten Sie vorhin damit, dass ich mich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen sollte?", begann er dann das Gespräch.
John seufzte und legte die Zeitung neben sich auf die rot gepolsterte Bank.
,,Ich meinte, dass das hier mein Leben ist und ich es gerne selbst organisieren würde."
Sherlock schwieg kurz, bevor er weiter redete: ,,Aber hier ging es nicht um Ihr Leben, sondern um das einer unschuldigen-"
,,Oh kommen Sie mir jetzt nicht so!", unterbrach ihn John.
,,Wie denn?"
John rollte mit den Augen. ,,Mir ein schlechtes Gewissen zu machen, damit ich nicht mehr auf Sie sauer sein kann."
,,Sind Sie denn sauer?", fragte Sherlock. Er sah ihn intensiv an. Der Blick seiner petrol-grünen Augen bohrte sich in Johns Antlitz wie Speere.
,,Nein", antwortete der Arzt dann und erwiderte seinen Blick.
,,Gut", sagte der Detektiv.
,,Ja, gut", wiederholte John, während er nickte und wieder zu seiner Zeitung griff.
Doch auf die Artikel darin konnte er sich jetzt nicht mehr konzentrieren. Hatte der Detektiv, den er kurioserweise seinen Freund nannte, gerade sein Ziel erreicht? Er sah unauffällig zu ihm herüber und bemerkte ein schmales Lächeln auf seinen Lippen. So ein Mist, dachte er und ärgerte sich, dass er darauf reingefallen war.
______
Tatsächlich war John froh, als er gegenüber der Tür des kleinen Hotelzimmers das braune, lederne Sofa erblickte, auf dem er sich sogar vollständig ausstrecken konnte. Sofort legte er sich darauf und schlief auch schnell ein, schließlich war es schon spät und die Anreise war anstrengend gewesen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte ihn jemand mit einer dunkelroten Decke zugedeckt und als er sich im Zimmer umschaute, stellte er fest, dass Sherlock bereits wach war. Ungeduldig lief der Detektiv im Raum auf und ab. ,,Worauf warten Sie?", fragte John, immer noch müde.
,,Auf Sie! Es ist schon kurz nach elf!", erwiderte Sherlock aufgebracht und warf seine Hände in die Luft. John erblickte die Unordnung auf Sherlocks großzügigen Bett. Überall darauf lagen Fotos und Notizen herum, offenbar alle zu dem bevorstehenden Fall.
,,Sie hätten mich doch wecken können", sagte er irritiert, stand aber auf und ging ins Badezimmer in dem Wissen, dass Sherlock ihm darauf keine Antwort geben würde.
______
Nur wenig später standen die beiden vor der hölzernen Haustür eines kleinen weißen Hauses und warteten darauf, reingelassen zu werden. John musste, dank Sherlock, auf ein Frühstück verzichten und sich mit einem überteuerten Riegel aus der Minibar zufrieden geben.
Ungeduldig drückte Sherlock noch einmal auf die Klingel, deren Aufschrift, Grayson & Brook, schon kaum noch zu lesen war, da sie schon durch die Sonne ausgeblichen wurde.
Hinter der Tür waren hektische Schritte und das Klappern eines Schlüsselbundes zu hören, dann wurde sie von einem jungen, braunhaarigen Mann geöffnet, der die beiden Männer schüchtern anlächelte. ,,Hallo, wer sind Sie?", fragte er sofort.
,,Ich bin Sherlock Holmes und das ist John Watson. Dürfen wir reinkommen?", erwiderte Sherlock und zwängte sich, ohne auf eine Antwort zu warten, an dem Braunhaarigen vorbei, in das Haus.
,,Sherlock Holmes? Ich habe von Ihnen gelesen. Sie sind dieser Privatdetektiv", sagte der Mann überrascht und trat einen Schritt zur Seite, um auch John hereinzulassen. ,,Geht es um Rose? Hat Sie ihr Vater geschickt?"
,,Sie haben die Polizei kontaktiert, Mr. Brook", stellte Sherlock fest, als er von dem schmalen aber dafür langen Flur aus, das Wohnzimmer skeptisch musterte, dessen offenstehende Tür mit neongelben Absperrband abgesperrt war.
,,Ja, natürlich habe ich das. Ich kam gerade von einer Geschäftsreise wieder, als ich es bemerkte", erwiderte der Angesprochene verwirrt.
,,Sie haben furchtbare Arbeit geleistet", beschwerte sich Sherlock und kletterte durch die Absperrung. Mr. Brook und John stellten sich vor das Absperrband und beobachteten, wie er begann, das Wohnzimmer genauer zu inspizieren.
Auf dem Kaminsims, der sich direkt neben Sherlock befand, standen einige Fotos. Sie waren bewegt worden, den Abdrücken im Staub zu Folge, aber alle waren noch da. In einer Ecke des Raumes stand eine Stehlampe, deren Lampenschirm aus weißem Reispapier bestand und an einer Stelle zerrissen war. In der Mitte des Raumes lag ein Stuhl, dem ein Bein fehlte. Sherlock suchte danach, doch wurde im Wohnzimmer nicht fündig.
,,Mr. Brook, wer führt die Ermittlungen?", fragte er dann.
,,Das müsste D.I. Alec Miller sein. Und nennen Sie mich doch bitte Richard." Sherlock hielt sofort inne, und auch John starrte nun den Mann neben sich an.
,,Sie heißen Richard Brook?", fragte dieser.
,,Ja? Stimmt etwas damit nicht?", fragte Richard irritiert und sah die beiden abwechselnd an.
,,Kennen Sie einen James Moriarty?", fragte Sherlock und kam dem jungen Mann, trotz des Absperrbandes, aufdringlich nahe.
,,Nein?", antwortete der Gefragte, wobei man ihm ansah, dass ihm die plötzliche Nähe unangenehm war, da er sich auffällig nach hinten lehnte.
,,Jim?", fragte Sherlock weiter. Das gelbe Band drohte langsam zu reißen und Richard trat einen Schritt zurück.
,,Nein." Erst jetzt rückte Sherlock von ihm ab.
,,Warum glaube ich Ihnen?"
,,Weil es die Wahrheit ist?", erwiderte Richard fragend.
,,Mmh..." Sherlock machte sich nun wieder auf Spurensuche. Ihm fiel in einem Regal ein Cricketschläger auf. ,,Wie haben Sie Rose kennengelernt?"
,,Durch Freunde", antwortete Richard knapp.
,,Ich muss mit diesem Miller reden."
Damit verließ Sherlock das Wohnzimmer wieder auf umständliche Art und Weise und steuerte auf die Haustür zu. ,,Wir melden uns wieder, wenn wir den Fall gelöst haben, oder eher, Mr. Richard Brook", sagte er noch und verließ dann das Haus mit schnellen Schritten, gefolgt von John, der Richard entschuldigend anlächelte.
______
,,Wie bekommt man in diesem Zeltlager nur ein Taxi?", fragte Sherlock genervt, als er die Straße in Richtung Innenstadt entlanglief.
,,So klein ist die Stadt gar nicht. Sie hat immerhin zweitausend Einwohner", erwiderte John sarkastisch, amüsiert von dem Großstadtkind, das vor ihm lief. Sherlock stöhnte nur genervt auf und hielt an einer Bushaltestelle an, an der, seiner Auffassung nach, in den nächsten Minuten ein Bus kommen müsste, der sie zur Polizeistation bringen würde.
,,Ich habe mir die Busfahrpläne auf der Herfahrt angeschaut. Der Bus hätte schon vor vier Minuten hier sein müssen", sagte er nach einer Weile.
,,Er kommt schon noch. Auf dem Land ist alles ein bisschen anders. Sehen Sie, da ist er schon", erwiderte John und deutete auf den ungewohnt kleinen weißen Bus, der sich der Haltestelle näherte.
Nach einer kurzen Fahrt, die Sherlock als nervenaufreibend beschrieben hatte, kamen die beiden bei der Polizeistation an. Sie stiegen aus und begannen die Treppen zu dem verhältnismäßig hohen Gebäude hochzugehen. Auch John hatte eine ähnliche Auffassung von der Fahrt gehabt, allerdings lag ihr Ursprung, im Gegensatz zu dem seines Freundes, in dem Detektiv neben ihm, der sich ununterbrochen über die Fahrweise des Fahrers aufgeregt hatte.
Beide waren also froh, endlich an ihrem Ziel angekommen zu sein, doch Sherlocks Gedanken kreisten gegenwärtig weniger um die Entführung, um die er sich hätte kümmern sollen, sondern eher um ein Lied, das er im Bus gehört hatte. Er blieb auf den Treppen zur Polizeistation abrupt stehen und sah John an. ,,Was ist, wenn Moriarty noch am Leben ist?", fragte er absolut ohne Kontext, worauf er von seinem Freund nur verwirrte Blicke zurückbekam.
Nun blieb John auch stehen und sah ihn streng an, aber in seiner Stimme schwang Besorgnis mit: ,,Sherlock, hatten wir nicht schon mal darüber gesprochen? Er hat sich in den Kopf geschossen, vor Ihren Augen." Er machte sich Sorgen, dass Sherlock davon vielleicht mehr psychischen Schaden davongetragen hatte, als er zeigte.
,,Ja, aber warum sollte er das tun? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!", rief der Detektiv aus.
,,Es ist - war - Moriarty. Was hat bei ihm schon Sinn ergeben?", erwiderte John und wollte gerade weitergehen, als er augenrollend mitbekam, dass Sherlock sich wohl nicht weiter bewegen würde.
,,Richtig! Bei ihm war alles Sinnvoll!", schlussfolgerte dieser aus Johns Aussage. ,,Alles war und ist immer noch perfekt durchdacht." Er schaute euphorisch zu John hoch. In seinen Augen schien ein Feuer entfacht worden zu sein. ,,Stayin' Alive."
,,Wie bitte?", fragte John verwirrt.
,,Das Lied von den Bee Gees! Stayin' Alive", erwiderte Sherlock und sah John erwartungsvoll an.
,,Sie meinen, Moriarty hat Ihnen mit diesem Lied einen Hinweis gegeben?", fragte John skeptisch. ,,In einem Bus im Niemandsland, auf dem Weg zur Polizei?" Er machte eine Pause und fuhr dann fort: ,,Kommen Sie jetzt, oder soll ich den Fall allein lösen?"
,,Könnten Sie das?", fragte Sherlock bittend und John erschrak darüber, dass er einen Toten über eine, vermutlich noch lebende, junge Frau stellte, die wohl gerade die schlimmste Zeit ihres Lebens durchmachen musste.
Er seufzte. ,,Kommen Sie jetzt?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top