> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟮

Nach ungefähr acht Stunden kommend wir endlich an dem Ortsschild von Belview vorbei.

„Willkommen in unserer neuen Heimat", verkündet Dad, woraufhin ich meinen Kopf hebe und ebenfalls aus dem Fenster gucke. Zu sehen sind Häuser mit ordentlichen Vorgärten. Eigentlich genauso wie in Hanford. Trotzdem fühlt es sich anders an, das hier zu sehen. Ich lege mein Buch zur Seite und frage Dad, ob wir noch lang fahren müssen.

„Nein. Nur noch ein paar Straße weiter und schon sind wir in unserem neuen Zuhause."
Ich glaube, Dad ist genau so froh wie ich, dass wir Handford endlich verlassen haben. Als ihm hier eine neue Stelle seiner Firma angeboten wurde, brauchte er nicht allzu viel Überzeugungskraft anzuwenden, denn ich war sofort mit einem Umzug einverstanden. Mom hatte zuerst gezögert, doch dann auch zugestimmt. Köche werden schließlich immer irgendwo gesucht und da Mom eine wirklich gute Köchin ist, wird sie es nicht schwer haben, ein gutes Restaurant zu finden, das sie einstellen wird. Nächste Woche hat sie sogar schon ihr erstes Vorstellungsgespräch. Also scheint alles perfekt zu laufen. Außer, dass Fio nicht dabei sein kann.

Als Dad das Auto in eine Einfahrt lenkt, bin ich die Erste, die aussteigt und unser neues Haus betrachtet. Es sieht genau so aus wie auf den Bildern, die er uns vor einigen Monaten gezeigt hat. Das zweistöckige Haus ist weiß und hat oben uns unten eine Reihe von relativ großen Fenstern. Das Dach ist dunkelgrau und sieht noch recht neu aus. Unsere Einfahrt ist groß genug, sodass locker zwei Autos in der Einfahrt parken können und der gepflasterte Weg zur Haustür ist von einer grünen Wiese umzäunt. Besonders gefällt mir unsere neue Veranda, die wir in Hanford nicht hatten. Sie verleiht dem Haus das gewisse Flair und gibt mir sofort ein gutes Gefühl.

„Und, gefällt es dir?", fragt Mom, als sie ebenfalls aus dem Wagen steigt.

„Ja, es ist wirklich schön."

Meine Eltern haben mich nie direkt gefragt, warum ich sofort Feuer und Flamme für unseren Umzug war. Sie haben immer wieder vorsichtig nachgefragt, aber ich habe es ihnen nie gesagt. Ob sie wussten, was damals passiert ist, weiß ich nicht, aber ich vermuten, sie wissen, dass irgendwas vorgefallen war. Doch sie haben mich nie auf die Sache angesprochen, was ich ihnen auch wirklich hoch anrechne. Das wäre mir unendlich peinlich gewesen.

Ich wende mich ab und gehe zum Kofferraum, um einen Teil meiner Sachen rauszunehmen.

„Du kannst das schon mal nach oben in dein Zimmer bringen. Es ist das letzte, am Ende des Flurs", sagte Dad und drückt mir den Hausschlüssel in die Hand, den ich gerade noch so halten kann.

„Okay, danke." Bepackt mit meinem Koffer und meinen Taschen betrete ich unser neues Haus. Von innen ist es genauso schön wie von außen. Der Flur kommt mir so groß vor, was wahrscheinlich aber nur daran liegt, dass er noch nicht eingerichtet ist und die Wände noch kahl und weiß sind. So wie ich Mom kenne, wird sich das aber schnellstmöglich ändern. Sie ist nämlich ein totaler Dekofreak und lebt nach dem Motto Je mehr, desto besser.

In unserem alten Haus waren Wohnzimmer, Flur, Küche und selbst das Badezimmer mit irgendwelchen Dekoartikeln vollgestellt. Zwar fand ich manches wirklich übertrieben, aber es war trotzdem irgendwie gemütlich. Es hatte etwas, das mich an Zuhause erinnerte, sodass man sich einfach wohlfühlen musste. Selbst meine beste Freundin begann sich irgendwann zwischen all diesem Kram wohlzufühlen.
Ich steige die Treppe hoch und gehe in das Zimmer, von dem Dad meinte, es sei meins, und stelle die Tasche und den Koffer ab. Einige unserer Möbel wurden bereits letzte Woche hergebracht, darunter mein Schrank, mein Bett und mein Schreibtisch und ich bin mehr als froh, heute Nacht endlich wieder in meinem Bett schlafen zu können und nicht auf dem steinharten Sofa in unserem alten Gästezimmer. Nach zwei Nächten hatten ich es darauf nicht mehr ausgehalten und habe mir meinen Schlafsack geschnappt und auf dem Boden übernachtete, der – nebenbei bemerkt – weicher als das Sofa war.

Erleichtert lasse ich mich endlich auf mein Bett fallen und würde am liebsten gar nicht mehr aufstehen, doch dann höre ich meine Mom von unten nach mir rufen. Widerwillig stehe ich auf und gehe wieder nach unten. Ich höre, wie sich mit einer Frau unterhält, deren Stimme ich nicht kenne. Anscheinend ist sie eine neue Nachbarin.

„Ah, hier ist sie ja", sagt Mom mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, als ich näher auf sie zukomme. „Das ist unsere Tochter, Avery. Avery, das ist Mrs Davis, eine unserer neues Nachbarn", stellt sie uns vor. Ich strecke ihr die Hand hin und sie ergreift sie. Mrs Davis ist eine ältere Dame, mit einer Brille auf der Nase und grauen Haaren, die mich mit ihrem Auftreten und ihren Klamotten an meine Grandma erinnert, die leider vor einigen Jahren verstorben ist.

„Hallo, Avery. Willkommen in Belview! Ich wohne direkt neben euch", sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.

„Vielen Dank, Mrs Davis", erwidere ich ebenfalls freundlich. „Ist Ihr Haus dieses da?", frage ich und deute auf das rechte neben unserem.

„Nein, ich wohne links neben euch. Das Haus mit den ganzen Blumen im Vorgarten." Ich trete aus dem Türrahmen heraus und betrachte das besagte Haus. Ihr Vorgarten blüht wie ein Blumenbeet im Frühling.

„Wow, das sieht wirklich schön aus", merke ich an und sehe, wie ihre Augen beginnen zu strahlen. Die erste Nachbarin scheint uns wohl bereits zu mögen. Besser kann dieser Neustart doch kaum laufen.

„Vielen Dank, Schätzchen. Das ist auch wirklich viel Arbeit, die ich da reinstecke, aber es lohnt sich, wie man sieht."

„Ich glaube, das sind die letzten Tüten", kommt es von Dad, der gerade das Auto abschließt und auf uns zukommt.

„Oh, hallo." Er bemerkt Mrs Davis und stellt sich ihr vor. „Ich bin Peter Harrison." Sofort verwickelt er sie in ein Gespräch, was ich als Signal verstehe, dass ich mich wieder in mein Zimmer zurückziehen und mein Zimmer weiter einrichten kann.

Ein paar Stunden später habe ich meinen Schrank schon fertig eingeräumt und mein neues Bücherregal aufgebaut. Oder es zumindest versucht. Es scheint zwar recht stabil zu sein, aber es wäre ratsamer, Dad zu fragen, ob er nochmal die Schrauben nachzieht, bevor ich es einräume und plötzlich doch zusammenbricht.

Auf dem Weg nach unten höre ich die Stimmen von Mom und Dad in der Küche, also gehe ich ebenfalls dorthin. Die beiden scheinen mal wieder wegen der Einrichtung zu streiten, wie eigentlich die ganze Zeit schon.

„Nein, Peter, das passt doch gar nicht zu der Farbe der Küche", kommt es entsetzt von Mom. „Vielleicht solltest du doch mal einen Test machen. Ich glaube nämlich, du bist farbenblind." Oh je. Mom ist sauer. Ich glaube, wenn sie keine Köchin geworden wäre, wäre sie Innenausstatterin geworden. Sie hat immer so viele Ideen, wie man einen Raum einrichten und gestalten kann und ist immer mit vollstem Herz dabei, aber ihre Kochkünste sind deutlich besser als ihre Dekokünste.

„Meine Güte, Sally, was ist denn an einem leichten Orangeton jetzt wieder falsch? Letzte Woche meintest du noch, der wäre passend", gibt Dad genervt zurück.

„Ja, aber jetzt sehe ich das allen in Wirklichkeit und finde cremefarbige Tapete viel passender."

Dad seufzt laut auf und gibt sich schließlich geschlagen. Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Er ist viel zu sehr auf Moms Zufriedenheit aus, um sich um solche Kleinigkeiten mit ihr zu streiten.

Ich betrete die Küche und lenke die Aufmerksamkeit auf mich. „Wie wichtig die perfekte Tapete auch ist, ich wollte Dad fragen, ob er mir gleich mit meinem Bücherregal helfen kann."

„Ja, aber wir dachten, dass wir zuerst etwas essen gehen. Was hältst du davon?"

„Das wäre wirklich gut." Vor lauter auspacken und einrichten habe ich vollkommen vergessen, dass wir das letzte Mal etwas zum Frühstück gegessen haben.

„Super. Mrs Davis hat mir vorhin von einem tollen Restaurant erzählt. Also, was haltet ihr von italienischer Küche?" Fragend sieht Mom von Dad zu mir. Sofort bekommen ihre Augen dieses typische Funkeln, wie immer, wenn sie über internationale Küche spricht. „Avery, du magst doch Spaghetti Carbonara und du, Peter, du..."

„Ist ja gut, Schatz. Wir gehen in dieses Restaurant", unterbricht Dad sie schmunzelnd.

Manchmal wünsche ich mir auch, eine Leidenschaft für etwas Cooles und auch Nützliches zu haben, so wie Mom.

Eine halbe Stunde später stehen wir umgezogen vor dem besagten Restaurant und betreten es. Sofort steigt mir der Geruch von Nudeln und Pizza in die Nase.

*

Um halb acht kommen wir wieder zurück und ich bin froh, wenn ich erstmal in Ruhe mit Fiona reden kann. Mom hat auf der ganzen Rückfahrt und während des Essens darüber geredet, wie toll das Essen doch sei. Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie nicht noch den Koch zu uns an den Tisch kommen lassen wollte, um ihm das selbst zu sagen. Was Essen angeht, ist Mom sehr kritisch. Ich glaube, sie kann ihre innere Köchin in sich einfach nicht abschalten; dafür ist das Kochen eine zu große Leidenschaft von ihr.

Wieder in meinem Zimmer, nehme ich mein Handy und rufe Fiona an.

„Hey, ich hab schon auf deinen Anruf gewartet. Wie ist die neue Stadt so? Hast du schon eure Nachbarn kennengelernt?", bombadiert sie mich sofort mit allerlei Fragen.

„Hi. Ich war bis jetzt noch mit einrichten beschäftigt. Vorhin waren wir in einem italienischen Restaurant essen und sind gerade eben wiedergekommen", erzähle ich ihr und gehe zu meinem Fenster herüber, um nach draußen zu schauen. Die Gegend ist eigentlich ganz schön. Die Nachbarschaft scheint bisher auch ganz nett zu sein und ich glaube, dass ich mich hier sogar recht wohlfühlen werde. Das Einzige etwas ungewöhnliche ist, dass ich von meinem Zimmer direkt zum Nachbarhaus gucken kann. Unsere ehemaligen Nachbarn hatten keinen grünen Daumen und haben ihre Hecke so hochwachsen lassen, dass ich irgendwann nichts anderes durch mein Fenster sehen konnte, als grün. Aber jetzt sehe ich schon mehr als ich vielleicht sollte. Ich kann nämlich direkt in das gegenüberliegende Fenster gucken und kann nur hoffen, dass diese Leute, niemals aus diesem Fenster schauen. Aber wahrscheinlich wohnt da ebenfalls ein älteres Ehepaar, das gerade eine Seefahrt macht oder so, da die Rollos ganz unten sind und ich mitbekommen habe, dass sie wohl im Urlaub seien.

„Oh Mann, war das die Idee deiner Mom?", fragt Fio und ich muss lächeln. Sie kennt meine Familie einfach zu gut.

„Ja und wie immer, musste sie das Essen natürlich loben und uns alles in Einzelheiten erzählen." Am anderen Ende der Leitung höre ich ein Kichern. „Bisher haben wir erst eine Nachbarin getroffen, aber sie ist nett. Zwar älter, aber sie macht einen netten Eindruck. Die anderen haben wir noch nicht kennengelernt, aber die werden bestimmt auch so sein. Die Stadt ist bisher auch ganz in Ordnung. Zwar habe ich noch nicht viel gesehen, aber das werde ich in den nächsten Tagen ändern." Da der Schulstart noch ein paar Tage hin ist, habe ich noch genug Zeit, mich in der Stadt genauer umzusehen und mein neues Zuhause besser kennenzulernen.

„Amy gibt nächstes Wochenende schon eine Back-To-School-Party."

Ich stoße ein verächtliches Schnauben aus. Natürlich tut sie das. „Wen will sie denn dieses Mal um den Finger wickeln?" Amy McHaron ist die größte Zicke an der Hanford High, meiner alten Schule. Sie schmeißt immer wieder Partys, um Aufmerksamkeit zu bekommen und irgendwelche Typen angraben zu können. Da sie einen Jahrgang über uns ist, war sie damals auch öfter mal mit Blake zu sehen. Offensichtlich stand sie auf ihn, denn sie hat sich ständig in der Mensa an ihn rangeschmissen, was ich alles andere als toll fand. Ich kann sie nicht leiden.

„Ich glaube, diesmal ist es David Moor", gibt sie zurück. Ich kann das Augenrollen förmlich in ihrer Stimme hören.

„Ach ja, mit dem hatte sie ja noch nichts."
Wir reden noch weiter über die Party, den Umzug und wie sehr wir uns darauf freuen, uns bald wiederzusehen.

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