> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟭𝟬
Nach meinen nicht allzu langen Schultag gehe ich von der Bushaltestelle nach Hause. Zum Glück ist meine letzte Stunde Sozialwissenschaften ausgefallen, sodass ich einen früheren Bus nehmen konnte, der nicht so voll war wie sonst.
Heute ist ein schöner sonniger Tag und ich habe mir vorgenommen, mir einen entspannten Nachmittag zu machen. Nach den Hausaufgaben möchte ich mir ein schönes Buch nehmen und mich auf meine Liege in den Garten legen. Das klingt nach einem perfekten Plan und da Mom und Dad beide arbeiten sind, habe ich das Haus sogar für mich allein.
In meinem Rucksack krame ich nach dem Haustürschlüssel und ziehe ihn heraus, als ich in meinem Augenwinkel jemanden wahrnehme. Ich drehe meinen Kopf nach links und sehe Blakes kleinen Bruder Ashton auf seiner Veranda sitzen. Abwartend hat er seine Beine angewinkelt und das Kinn in seine Handflächen gestützt, während er seinen Blick auf die Straße heftet.
Warum sitzt er vor dem Haus und nicht drinnen? Wahrscheinlich ist niemand da, der ihm die Tür aufmacht und er hat seinen Schlüssel vergessen. Mitgefühl macht sich in mir breit und ich beschließe, ihn nicht länger da sitzen zu lassen. Wer weiß, wie lange er dort bereits wartet.
Ashton bemerkt mich und hebt den Kopf, als ich auf ihn zukomme. „Hey, ist alles okay?", frage ich vorsichtig und betrachte ihn prüfend.
Sein Gesichtsausdruck strahlt eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Langeweile aus.
Ashton sagt nichts, sondern nickt nur. „Ich warte auf Blake", fügt er kurz darauf hinzu.
Ob er nicht weiß, dass das Footballteam nach der Schule immer Training hat? Oder hat Blake ihn vielleicht vergessen? Wie auch immer, er kann jedenfalls nicht stundenlang hier vor dem Haus sitzen bleiben.
„Gut, ähm, wie wär's, wenn du solange mit zu uns kommst? Dann musst du nicht die ganze Zeit hier rumsitzen. Ich sage Blake Bescheid, dass du bei uns bist und er kann dich dann später abholen", schlage ich ihm vor.
Bisher habe ich noch gar nicht richtig mit ihm geredet, außer einer höflichen Begrüßung. Eigentlich entspricht das nicht meinem heutigen Plan, aber ich könnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, einen Drittklässler draußen sitzen zu lassen. Wenn irgendwas passiert... Nein. Das will ich mir gar nicht erst vorstellen.
Ashton lässt sich kurze Bedenkzeit, bevor er zustimmt. Er hebt seinen Rucksack auf und wir gehen gemeinsam in unser Haus.
„Möchtest du etwas trinken? Wir haben Saft und Wasser", biete ich Ashton an, während wir uns Esszimmer gehen, doch er lehnt ab. Er lässt sich auf einen Stuhl nieder und holt seine Hausaufgaben raus.
Als ich mich zu ihm setze, fällt mir auf, dass ich Blake gar nicht Bescheid geben kann, da ich seine Nummer überhaupt nicht habe. Und einen Zettel an die Tür zu hängen kommt mir auch irgendwie blöd vor. Wer kann schon mit Sicherheit sagen, dass dieser Zettel dort auch hängen bleibt? Da habe ich eine bessere Idee. Ich hole mein Handy aus der Jackentasche, entsperre es und suche nach Briannas Nummer. Nach nur wenigen Sekunden geht sie ran.
„Hey, Avery. Was gibt's?", begrüßt sie mich fröhlich.
„Hey, Bri. Ich brauche kurz deine Hilfe." Ich ziehe mich von Ashton, der gerade mit seinen Englischhausaufgaben beschäftigt ist, zurück und gehe in die Küche.
„Okay... um was geht's denn?", fragt sie mit leichter Besorgnis in der Stimme.
„Es ist nichts schlimmes", beruhige ich sie sofort. „Es gibt da etwas, das du weiterleiten müsstest. Ich habe Blakes Nummer nicht und ich dachte, du könntest Conor schreiben, dass er Blake bitte Bescheid geben möge, dass sein Bruder bei mir ist. Er soll sich nicht wundern, dass Ashton nicht Zuhause ist, wenn er zurückkommt."
Am anderen Ende herrschte kurz Stille.
„Brianna?"
„Ja, ich bin da. Sorry, ich musste das gerade erstmal klarbekommen. Ich rufe Conor jetzt gleich an. Und du erklärst mir morgen, wie du in diese Situation gekommen bist."
„Klar. Vielen Dank. Bis morgen." Wir verabschieden und voneinander. Bevor ich wieder ins Esszimmer gehe, nehme ich mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und trinke einen Schluck.
Ich setze mich wieder neben Ashton und hole ebenfalls meine Hausaufgaben aus der Tasche.
Einige Minuten arbeiten wir still vor uns hin, bis er die Stille unterbricht. „Avery, ich komme bei einer Aufgabe nicht weiter." Ich bin verblüfft. Es ist das erste Mal, dass er mich so direkt anspricht.
Ich lege meinen Stift zur Seite. „Zeig mal her."
Er schiebt mir sein Arbeitsblatt rüber und ich werfe einen Blick drauf. Mathe. Gerade sind sie beim Thema Division.
„Ich kann das nicht", fügt er noch hinzu.
„Ach, was. Ich kann dir einen Trick zeigen, der dir hilft, die Aufgabe zu lösen. Dann fallen dir diese Aufgaben auch nicht mehr so schwer", erwidere ich mit einem ermutigenden Lächeln.
Ashton wirft mir nur einen misstrauischen Blick zu.
*
Irgendwann im Laufen des Nachmittags klingelt es an der Haustür und ein erschöpfter Blake steht davor. „Hi. Sorry, dass ich erst so spät hier bin, aber das Training hat sich heute gezogen und wir haben Briannas Nachricht erst vor 10 Minuten gesehen", sagt er ganz außer Atem. Wüsste ich nicht, dass er immer mit dem Auto fährt, würde ich sagen, er wäre den ganzen Weg von der Schule bis hierher gerannt.
„Hey", unterbreche ich ihn, „es ist doch alles gut. Komm erstmal rein und setz dich hin. Du wirkst so, als würdest du jeden Moment umfallen."
Er folgt mir ins Esszimmer, wo Ashton gerade das Sandwich isst, das ich ihm vorhin gemacht habe.
„Hey, Ash. Tut mir leid, dass ich heute so spät bin", entschuldigt sich Blake sofort bei seinem Bruder und setzt sich neben ihn. Ihm ist seiner Miene abzulesen, wie ernst ihm diese Entschuldigung und wie unangenehm ihm die ganze Situation ist.
„Blake." Ein Lächeln huscht über die Lippen seines Bruders, ehe er sich wieder seinem Sandwich zuwendet. „Da bist du ja."
„Ja, Großer. Wenn du fertig gegessen hast, können wir rübergehen. Mom wird in einer Stunde sicher auch nach Hause kommen." Blake erwidert Ashtons Lächeln.
Es ist schon komisch mitanzusehen, wie Blake mit seinem Bruder umgeht. Man merkt ihm an, dass er viel Verantwortung für ihn übernimmt. Klar, Blake Parker ist auch nur ein Mensch und kein Roboter, aber es überrascht mich trotzdem, ihn so liebevoll zu sehen und nicht wie den typisch beliebten Jungen zu sehen, wie man ihn aus der Schule kennt.
Ich habe gar nicht bemerkt, dass Blake mit mir redet, bis er mit seiner Hand vor meinem Gesicht rumwedelt. Mit heißen Wangen schaue ich ihm in die Augen. „Wie bitte?"
„Ich habe mich bedankt, dass du auf Ash aufgepasst hast, Avery." Sein kleines Lächeln lässt kurz meinen Verstand aussetzen. Es ist das erste Mal, dass er meinen Namen richtig ausgesprochen hat. Zum Glück komme ich schnell wieder auf den Boden der Tatsache zurück.
„Oh, ach, das ist doch kein Problem. Ich hätte ihn ja schlecht vor dem Haus sitzenlassen können", gebe ich mit einer wegwerfenden Handbewegung zurück, als wäre es keine große Sache. Was es ja auch nicht ist. Sowas macht man doch als gute Nachbarin, oder etwa nicht?
„Trotzdem. Sowas ist noch nie passiert, aber unsere Planung war heute irgendwie durcheinander, dann hat Coach Grant noch ziemlich überzogen und ich habe nicht mehr auf die Zeit geachtet. Als Conor mir dann gesagt hat, dass du Brianna wegen Ashton angerufen hast, bin ich so schnell es ging hergefahren."
„Schon okay. Ich habe deine Nummer ja nicht, sonst hätte ich dich selbst angerufen." Oh Gott. Habe ich ihn gerade allen Ernstes indirekt nach seiner Nummer gefragt? Erneut spüre ich Wärme in meine Wangen steigen. Mann, ich muss echt versuchen, meine körperlichen Reaktionen unter Kontrolle zu kriegen.
Ich rechne schon mit einem blöden Spruch, doch Blake lächelt nur. „Na, das lässt sich doch schnell ändern. Gib mir dein Handy und ich speichere meine Nummer ein."
Geistesgegenwärtig hole ich es aus meiner Tasche, entsperre es und gebe es ihm. Er tippt seine Nummer ein und gibt es mir wieder zurück.
„Falls es nochmal passieren sollte, was ich nicht hoffe, kannst du mich direkt anrufen."
„Ja, mache ich." Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, wechsel ich das Thema. „Aber wir haben unsere Zeit gut genug. Ashton hat schon seine Hausaufgaben gemacht."
„Mathe?", fragt Blake.
„Und Englisch, ja. Ich habe ihm ein bisschen geholfen, aber ich denke, er hat es verstanden."
Kurze Verblüffung huscht über sein Gesicht. Doch genauso schnell wie diese kam, ist sie auch wieder verschwunden.
„Toll. Danke." Zum gefühlten hundertsten Mal bedankt er wieder sich bei mir
So viel wie heute haben wir noch nie miteinander geredet und das ist mir irgendwie unangenehm.
Da Ashton mittlerweile sein Sandwich aufgegessen hat, nimmt er seinen Rucksack und geht mit Blake zur Tür.
„Tschüss, Avery", ruft Ashton mir zu. Bevor die beiden hinausgehen, dreht Blake sich noch einmal um und schmeißt mir ein letztes Lächeln voller Dankbarkeit zu.
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