Tag 1 - Abweichende Lebenswelten (1)

Peter

»Alle Ziele neutralisiert, Peter. Die Kollegen vor Ort übernehmen«, sagte der Einsatzleiter zum Abschluss mit gelassener Stimme. In dem Moment blinkten an verschiedenen Stellen vor dem Gelände rot-blaue Lichter auf und Polizeifahrzeuge näherten sich den fünf regungslosen Angreifern. »Mission erfolgreich abgeschlossen.«

»Merci beaucoup, Pascale. Hervorragende Arbeit. Debriefing morgen früh um zehn Uhr«, gab er zurück und beendete die Verbindung.

Endlich geschafft. Die wochenlange Observierung und detaillierte Vorbereitung hatten sich ausgezahlt. In der Welt gab es fünf Terroristen weniger und die Bevölkerung der ZEU, der Zentralen Europäischen Union, war dank seiner Hilfe einem weiteren Super-GAU entkommen. Er hatte mit seinen Kollegen einen hinterhältigen Anschlag auf eines der zweihundertfünfzig Kraftwerke auf dem europäischen Kontinent verhindert. Für diese Erfolgserlebnisse war er gerne bereit, ein paar Überstunden in Kauf zu nehmen.

Für heute war es genug. Mit einem kurzen Kommando loggte er sich aus. Die weichen Polster um seinen Körper zogen sich sanft zurück. Er stolperte und konnte sich nur mit Mühe am Metallgestell festhalten.

»Verruckte Maschin, verdammte!«, entfuhr es ihm. Beinahe wäre er aus seinem VR-Seat nach vorne gefallen. Das Ding hatte ihn nicht wie üblich senkrecht stehend entlassen, sondern in einem schrägen Winkel. Er musste dringend ein Ticket beim IT-Support aufmachen.

Die anderen fünf Kollegen der Spätschicht hingen eingebettet wie lebensgroße Marionetten in den Gestellen ihrer VR-Seats und waren in ihre jeweilige virtuelle Realität vertieft. Bis heute hatte er nicht verstanden, warum die Teile Seats hießen, obwohl man sich um dreihundertsechzig Grad in alle Richtungen freibewegen konnte. VR-Stands wäre passender – oder VR-fall-nach-vorne.

Als er Minuten später aus der Tür des zweihundertfünfzig Jahre alten, klimatisierten Gebäudes seiner Behörde am Odeonsplatz trat, schlug ihm brachiale Wärme entgegen. Es war erst der dritte Mai und die Temperaturen in München lagen am späten Abend über dreißig Grad. Ob Klimawandel oder Wetter, da waren sich die Kommentare in den News-Streams uneinig. Nicht anders als in den letzten hundert Jahren. Immerhin hatte die Regierung anerkannt, dass die rund fünf Meter gestiegenen Meeresspiegel tatsächlich ein Problem darstellten. Zumindest für den Teil der Einwohner der zentralen Europäischen Union, die nicht in einer Großstadt wie München wohnten, die fünfhundert Meter über dem Meer lag.

Zu beiden Seiten erstreckten sich vier- bis fünfstöckige Altbauten im romanischen Stil, die von unsichtbaren Strahlern erhellt wurden. Vor ihm breitete sich der kilometerlange, schmale Odeonspark mit seinen indirekt beleuchteten Büschen und Bäumen aus. Ein Café mit schicken Neon-Hologrammen und einzelne nächtliche Spaziergänger komplettierten das Bild. Nur das ewige Surren und Brummen der Lieferdrohnen und Flugtaxis über den Baumkronen störte die innerstädtische Idylle. Aber noch vor siebzig Jahren war das nicht mehr als eine viel befahrene Straße gewesen. Er wandte sich nach rechts in Richtung Feldherrnhalle. Die zentrale Statue unter deren Alkoven verkörperte einen erfolgreichen General nach der gewonnenen Schlacht.

In einer Nebenstraße lag sein Appartement, das er mit einem kurzen Fußmarsch durch sie frisch gereinigten Seitenstraßen erreichte. Es war für ihn nicht mehr als ein Ort zum Essen, Schlafen und die VR-Nutzung. Sowohl dienstlich als auch privat lebte er in der virtuellen Realität, der VR. Damit war er mit neunzig Prozent der europäischen Einwohner in guter Gesellschaft.

»Hallo, Peter. Das Gleiche wie immer?«, begrüßte ihn die Stimme von Jana, seiner virtuellen Assistenz, sobald er durch die Tür trat.

»Joa. Hauptsache schnell, ich will mich einloggen.«

»Kein Problem, Lasagne-Zero ist in acht Minuten fertig.«

Ihm war es egal, was es gab. Das Zeug aus dem Food-Printer lieferte die notwendigen Kalorien und Vitamine zum Leben. Von den fiesen CaramelMax-Riegeln war er nach seinem letzten Jobwechsel zum Glück weggekommen. Nur Sport hasste er auch jetzt noch wie die Pest. Sein Job stellte höchste Ansprüche an den Intellekt und brauchte keine Muskeln. Während er wartete, holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und checkte die News. Da er sein privates VR-Headset weiterhin trug, wurden sie ihm direkt in sein Gesichtsfeld projiziert. Wenn man sich nicht in der VR bewegte, wechselte das Gerät in den Augmented-Reality-Modus, kurz AR. Damit überlagerte es seine aktuelle Sicht mit 3-D-Projektionen, die sich in die Umgebung nahtlos einbetteten. Er kannte es nicht anders.

Eine adrette Nachrichtensprecherin, die mit geradem Rücken auf seinem Sofa saß, fasste die wichtigsten Neuigkeiten zusammen: »Hallo Peter, erneut sind im April Hunderte Flüchtlinge aus Nordafrika in Malta, Sizilien und an der spanischen Südküste bei Almería gelandet. Der ZEU-Grenzschutz scheint der Flut nicht Herr zu werden. Trotz des massiven Einsatzes teurer Drohnen und Marineschiffe, die die Menschen in ihre Heimatländer zurückbringen, schaffen es immer mehr an die europäische Küste...«

Er wischte weiter.

Neben ihm erschien ein Rentner in Lebensgröße, der zornig rief: »Wo soll das noch enden? Ein Wahnsinn! Baut den Wall wieder auf! Das sind alles Diebe, Mörder und Vergewaltiger! Gerade gestern haben sie in Malta eine junge Frau entführt und sind zu fünft über sie hergefallen... zu fünft!«

Er wischte weiter.

Auf seinem Wohnzimmertisch marschierte eine Menschenmasse mit Schildern mit Schriftzügen: »Baut den Wall wieder auf! – Auffanglager, JETZT! – Vergast sie! – Wer schützt UNS vor DENEN?«

Er wischte weiter.

Die andere Ecke des Zimmers verwandelte sich in ein paar verfallene Gebäude. Eine Stimme aus dem Off gab das Intro: »In den wilden Flüchtlingslagern an der spanischen Südküste greift das Verbrechen um sich! Unbescholtene ZEU-Bürger, die den mittellosen Flüchtlingen ehrenamtlich helfen, können sich ihrer Haut nicht mehr sicher sein. Sehen sie selbst! – Hinweis: Das Material ist für Minderjährige nicht geeignet.«

Auf der einen Seite der Straße spazierte ein Paar mit einem maximal vierjährigen Jungen auf den Schultern des Vaters. Und das sollten ehrenamtliche Helfer sein? Sie wirkten eher wie Einwohner des Städtchens. Auf der anderen Straßenseite saßen drei tätowierte halbstarke Kerle und ein dazu passendes Mädel.

»Hey, hey, wo will denn die junge Familie hin?«, rief die Frau mit einer Stimme, die vor Gehässigkeit troff.

Oh, man. Das gab sicher Ärger. Kurz darauf spielte sich eine Szene ab, wie er sie befürchtet hatte: Erst wurden die drei angepöbelt und von den Mitgliedern der Gang gestellt. Sie forderten Geld, das die Familie nicht hatte. Als der Vater mit seinem Sohn auf den Schultern verzweifelt versuchte zu fliehen, verfolgte ihn ein narbiger Kerl mit einem Messer.

Das Bild fror ein und ein Schriftzug erschien: »Hinweis: Die folgenden Ereignisse wurden aufgrund der bisherigen realen Begebenheit prognostiziert. Sie entsprechen NICHT der Realität - aber hätten genauso stattfinden können.«

Die Szene lief weiter: Der Vater rannte davon. Erfolglos. Der Angreifer rammte ihm sein Messer mehrfach in den Rücken. Keuchend fiel der arme Mann nach vorne. Der Junge knallte ungebremst auf die Pflastersteine und schrie wie am Spieß. Eine Blutlache sickerte unter der weißen Trainingsjacke des Vaters hervor und breitete sich aus. Im gleichen Moment stürzte die Mutter panisch zu ihrem Kind und ihrem schwer verletzten Ehemann. Der gruselige Kerl wendete sich lächelnd den beiden zu. Von seinem Messer tropfte das Blut des regungslos am Boden Liegenden...

»Jana, stopp. Das kann ich nicht anschauen.« Nicht jedes Übel dieser Welt musste seiner Ansicht nach im Detail gezeigt werden. Und es sich freiwillig ansehen, würde er erst recht nicht.

»Kein Problem, Peter. Benötigst du einen Termin beim Augenarzt?«

»Nein!« Verdammte KI. Sie nahm alles wörtlich, aber verfügte über keinen Funken emotionale Intelligenz. Dabei waren die Assistenzsysteme, die er im Dienst verwendete, perfekte Lügendetektoren. Das sollte einer verstehen.

Mit einer heftigen Wischbewegung leerte sich sein Wohnzimmer. Irgendwie fand er bedenklich, was seine persönliche KI an Nachrichten für ihn auswählte. Am meisten störte ihn diese animierte Prognose. Ereignisse, die in der Realität nicht eins-zu-eins stattgefunden hatten. Die KIs der Streams produzierten diese, falls ihre Drohnen zerstört wurden, um das restliche Geschehen zu zeigen. Oder besser: Zu erraten, wie es eventuell ausgegangen war.

Hm, ... nach einer Zerstörung der Mediendrohne sah es bis zum Zeitpunkt der gezeigten Voraussage nicht aus. Seltsam. In letzter Zeit kamen viele dieser Prognosen in den Nachrichtenstreams. Es war aber nicht anzunehmen, dass mehr Drohnen demoliert wurden als früher.

Das waren müßige Gedanken. Zügig schaufelte er die Reste seiner Lasagne in sich hinein und stellte seinen Teller in die Spülmaschine. Seine Freundin Kristina hatte ihn bereits virtuell angestupst und wartete auf ihn. Zeit, um sich mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen. Mit einem freudigen Lächeln warf er sich in seinen persönlichen VR-Seat und loggte sich ein.

Der von Papierwänden begrenzte Flur ihres im asiatischen Stil eingerichteten Hauses breitete sich vor ihm aus. Er roch Edelholz und Räucherstäbchen. Ihr gemeinsames Domizil – zumindest in der VR.

»Schatz! Ich bin wieder da!«, rief Peter, während er sich auf den Weg ins Wohnzimmer begab. Kristinas volles Lachen mischte sich mit dem hellen Quietschen seiner Tochter. Das Lächeln in seinen Mundwinkeln verbreiterte sich.

Als er den Wohnraum betrat, saßen die beiden auf dem Boden zwischen dem Futon und einem kniehohen Tisch. Die Wände waren mit Samuraischwertern und altertümlichen Bildern dekoriert. Der Avatar seiner Freundin bildete einen deutlichen Kontrast. Er war der einer nordischen Göttin nachempfunden, mit langen blonden Haaren und der kräftigen Figur einer Kriegerin. Sein eigener hatte asiatische Züge und entsprach einem japanischen Krieger.

»Hallo, Schatz«, wiederholte er, setzte sich neben Kristina und gab ihr einen Kuss. Den spürte er nicht, dafür hätten sie vorab die Sexualerweiterungen ihrer Seats aktivieren müssen, aber es war ihr tägliches Ritual. Den kräuterartigen Duft ihres Haares simulierte die VR perfekt.

Hedda schaute ihn aus kindlichen blauen Augen an und kam direkt zu ihm gekrabbelt. Laufen konnte sie noch nicht. »Dada, Dada...«

Lachend hob er sie auf seine Arme. Durch das Feedback seiner Handschuhe und des Seats nahm er ihr Gewicht und die Wärme ihres Körpers wahr. Sie jauchzte.

Diese Erfahrung faszinierte ihn jeden Tag aufs Neue. Hedda war ihr leibliches Kind. In der Realität, nicht nur in der VR. Kristina wohnte auf dem Land in Schweden und er in der Innenstadt von München. Sie hatten sich vor knapp zwei Jahren entschieden, Nachwuchs zu zeugen, obwohl ihre Beziehung rein virtuell war. In der Real-Welt hatten sie sich nie getroffen und planten nicht, das zu ändern. Ihre Eizelle wurde mit seinem Sperma künstlich befruchtet. Der Embryo wuchs in einem speziellen Gebärtank neun Monate lang heran. Das war eine Erfahrung, die er nicht missen wollte. Sie schauten dem Baby beim Wachsen live zu, wie es träumte und sich bewegte. Kurz nach der Geburt brachte man Hedda in Kristinas Haus, damit das Kind bei seiner leiblichen Mutter aufwuchs.

»Da da«, wiederholte die Kleine, während sie versuchte, ihm in das Gesicht zu fassen.

Was er aktuell sah, war seine reale Tochter, die physisch neben ihrer Mutter in ihrem gemeinsamen Heim saß. Peters Körper repräsentierte vor Ort ein Roboter, der es ihm ermöglichte, mit den beiden zu spielen und sie anzufassen. Kristina sah anstelle der Maschine ebenfalls seinen Avatar dank des AR-Modus ihrer Brille. Für Hedda war das nicht möglich, aber sie kannte es nicht anders.

Während sie mit ihrer Tochter spielten und sich darüber austauschten, was sie den Tag über erlebt hatten, nagte etwas in seinem Hinterkopf. Irgendwas hatte er heute gesehen, auf das sein Unterbewusstsein ihn aufmerksam machen wollte. Ein beständiges, geistiges Zupfen.

Dann kam es ihm: Hedda ... der arme Junge im letzten News-Stream ... die Eltern, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren ...

Verdammt! Die Erinnerungen schlugen wie eine eiskalte Welle in seine Gedanken. Er kannte die beiden, obwohl sie im Stream die meiste Zeit nur von hinten zu sehen waren. Das war das Flüchtlingspärchen, das vor vier Jahren Diego Morales und seiner Hacker-Gruppe geholfen hatte. Die Truppe, die die Grenzanlage im Mittelmeer, den Wall, mit einer massiven Cyber-Attacke zerstört hatte! Er hatte sie damals aufgespürt, den Mann verhört und später mit seiner Frau im Krankenhaus gesprochen. Am Ende stellte man die Ermittlungen aus politischen Gründen ein und schob sie nach Algerien ab.

Er erinnerte sich an einen Namen: Jacques Morau. Ohne dessen Mithilfe wäre der Wall nicht zerstört worden – und die ZEU hätte nicht das heutige, massive Flüchtlingsproblem.

Falls die animierte Prognose stimmte, wäre das eine Art biblische Gerechtigkeit. Durch seine Mitschuld sind damals Dutzende Unschuldiger teils grausam gestorben. Die Folgen seiner Machenschaften hatten ihn jetzt eingeholt. Welch Ironie. Nur für den Jungen tat es ihm leid. Wäre das seine kleine Hedda gewesen ...

Er würde sich morgen schlaumachen, was bei dem gezeigten Ereignis in der Realität passiert war. Als Beamter beim Verfassungsschutz hatte er dafür die Mittel und Befugnisse.

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