²² / ᴘʟᴏ̈ᴛᴢʟɪᴄʜᴇʀ sᴄʜᴀᴜᴇʀ

𝚃𝚒𝚖𝚜 𝚂𝚒𝚌𝚑𝚝


Direkt nachdem Emilia das Haus verlassen hat, komme auch ich in die Realität zurück. Ehe ich mich versehe, hab ich mir schon die Autoschlüssel geschnappt und befinde mich auf dem Weg zu Jan.

Hoffentlich geht es ihm gut.
Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt, jetzt bei diesem Wetter und so spät noch zu ihm zu fahren, aber ich muss. Mein Unterbewusstsein gleitet mich den Weg entlang.
Wir müssen endlich miteinander reden.
Viel zu lange haben wir geschwiegen.

Das Treffen war doch für etwas gut: es hat mir die Augen geöffnet.
Und wie. Und nicht sanft.
Wobei ich mir schon die ganze Zeit sicher war. Ich habe nur etwas anderes gehofft, aber ich kann mich einfach nicht mehr selber anlügen.
Und Jan schon gar nicht.

Jetzt oder nie. Bevor ich es mir anders überlege.

Ausgerechnet jetzt beginnt es, in Strömen zu regnen, die ganze Frontscheibe wird von den festen Tropfen bearbeitet, die Scheibenwischer kommen schwer hinterher und ich kann kaum noch etwas sehen.

Ich klingle solange, da niemand die Tür öffnet, bis ich schließlich den Ersatzschlüssel aus meinem Portemonnaie hole und mit zittrigen Händen die Tür aufschließen.

Gar kein gutes Zeichen.
Das letzte Mal, als sich dieses Szenario abgespielt hat, lag Jan verkrampft mit einem blauen Auge in der Küche und hatte einen epileptischen Anfall.
Bitte nicht.

Ich gehe direkt in die Küche. Hier ist er nicht.
Im Wohnzimmer? Auch nicht
Im Bad? Kein Jan.
Also im Schlafzimmer. Hoffe ich. Sonst wüsste ich nicht, wo er so spät noch sein sollte.

Plötzlich fällt mir der junge Mann wieder ein, der einst aus Jans Tür spaziert ist.
Nachdem ich dachte, meine Welt wäre zusammengebrochen ist sie noch mehr zerstört worden. Dieser Anblick hat mich verrückt gemacht und durch die Erinnerung verschlimmert sich meine Gefühlslage und ein Tausendfaches.

Vielleicht sind sie gerade gemeinsam im Schlafzimmer. Jan geht es atemberaubend, viel besser als mit mir und ich mache mich gleich zum Affen.

Gisela ist auch nicht zuhören, also könnte die Tatsache, dass sie intim geworden sind, im Bereich des Möglichen liegen.

Ich hoffe, es bewahrheitet sich nicht, sobald ich den Raum betrete, das würde mein Herz nicht überleben und mein schlechtes Gewissen auf den Hochpunkt bringen.

Oder aber Jan ist zu ihm gefahren.
Egal, was es ist, ich würde es verstehen.

Es ist so nachvollziehbar, dass Jan mein Gefühlschaos nicht weiter aushalten konnte.
Es ist so nachvollziehbar, dass er weiterzieht.
Alles wäre nachvollziehbar, denn ich habe ihm genau das Gleiche angetan.

Ohne daran zu denken, vorher anzuklopfen, öffne ich vorsichtig die Tür.
Unter der Decke zeichnet sich der, mit dem Rücken zu mir liegende, Körper einer Person ab, die dort wie eingemummt liegt. Nur das leichte Licht der Nachttischlampe erhellt den Raum. Auf dem Boden liegen überall Klamotten und andere Haushaltsdinge. Sonst ist es doch nie so unordentlich bei ihm.
Es ist auf jeden Fall keine weitere Person hier.
Was ist hier vorgefallen?

Wie hypnotisiert bleibe ich am Türrahmen lehnend stehen, eine Hand noch immer am Griff, inspiziere den Boden, die Umgebung, das Bett, Jan.

Die ganze Zeit hatte ich ein Rauschen auf den Ohren, hab keine Geräusche mehr wahrgenommen, welches nun verschwindet.

Leise höre ich ein Schluchzen. Jan weint.

Ich wache aus meiner Hypnose auf und stürme schon fast auf ihn zu. Beinahe wäre ich noch über eine Hose von ihm gestolpert.

Neben ihn knie ich mich auf den Boden.
Er schaut mich aus seinen traurigen großen Augen, aus welchen immer noch vereinzelte Tränen laufen, an, seine Atmung ist etwas schneller.
Behutsam streiche ich mit einer Hand über seine Wange und somit eine Träne weg.
Dieser Moment ist so herzzerreißend.

„Jan", flüstere ich.

„Was machst du hier?", fragt er tränenerstickt, aber auch verwirrt, während er versucht, sich schnell aufzusetzen.

Ja, gute Frage. Was mache ich hier?

„Du hattest eine Panikattacke, oder?", frage ich ihn stattdessen flüsternd, nachdem er sich aufgesetzt hat und nun gegen die Bettlehne lehnt.

Leicht, fast nicht bemerkbar, nickt er.

Ich kann es nicht glauben, ich hab ihn schon wieder alleine gelassen. Was bin ich für ein schlechter Mensch?

Völlig unüberlegt klettere ich über ihn auf die andere Seite, während mein Arm unwillkürlich seinen streift, setze mich neben ihn und nehme ihn einfach nur in den Arm.

Als hätten wir uns zehn Jahre nicht gesehen, dreht er sich mit seinem vollen Körper zu mir und schlingt seine Arme und mich. Ich bin mir sicher, so fest hat er mich noch nie umarmt, ich bekomme fast keine Luft mehr.

Er vergräbt seinen Kopf in meiner Halsbeuge, was ich ihm gleichtue.

Es scheint, als würde eine riesige Last von ihm abfallen, denn nun beginnt er, so sehr zu weinen, dass ich mich zusammenreißen muss, nicht auch eine Träne zu verdrücken.

Mit langsamen Bewegungen streiche ich über seinen Rücken, halte ihn fest.

„Alles wird gut", flüstere ich in sein Ohr. „Ich verspreche es dir. Diesmal wirklich. Ich lasse dich nie wieder alleine."

Ohne zu wissen, ob er mir überhaupt zuhört, rede ich weiter.

„Ich war ein schrecklicher bester Freund, ich habe dich gar nicht verdient, du hast mich nicht verdient, sondern jemand viel besseren. Du hattest mit allem Recht, ich war so blind. Ich habe nicht einmal gesehen, dass es dir immer schlechter ging, hab es ignoriert, dich ignoriert. Ich wünschte, ich könnte die letzte Zeit zurückdrehen.
Obwohl - nein, eigentlich wünsche ich mir das nicht, denn sonst wären wir uns vielleicht nicht näher gekommen und das will ich echt nicht mehr missen."

Den letzten Satz sage ich eher zu mir selbst, aber trotzdem ist es mir egal, sollte Jan es auch gehört haben.

„Willst du mir sagen, was die Panikattacke ausgelöst haben könnte? Und die letzten auch?"

Erst reagiert er nicht und ich denke, er will nicht antworten, doch nach einiger Zeit spüre ich, wie er nickt und sich aus der Umarmung löst.

Seine Hände platziert er dafür kurz auf meinem Oberkörper. Alleine in diesen paar Sekunden bekomme ich einen unglaublichen Adrenalinschub. Hoffentlich bemerkt er mein schneller schlagendes Herz nicht.

Kurz fährt er sich übers Gesicht, um es zu trocknen, bevor er seine Hände auf meinen Beinen ablegt. Er sieht unglaublich fertig aus.

„Du musst nicht, wenn du nicht bereit dazu bist."
Mein Blick ist auf Jans Händen, dessen Daumen sanft mein Bein streicheln, fixiert

„Doch Tim, ich will es dir sagen, du solltest wissen, was in mir vorgeht."

Ich schaue wieder zu ihm hoch.
Ich merke, wie er mit sich ringt, nicht wieder zu weinen, mir alles zu sagen.

„Ich - ich hatte einfach Angst, dass ich dich erneut verliere, dass Emilia es ein weiteres Mal schafft, dich um den Finger zu wickeln, ich hätt's ihr auch nicht verübeln können, wenn sie es geschafft hätte, du bist immer noch unglaublich verliebt und-"

„Nein, Jan, nein, bin ich nicht, ich - ich war die ganze Zeit einfach nur unfassbar feige und hatte Angst."
Eigentlich hab ich mir vorgenommen, ihn nicht zu unterbrechen, aber ich muss ihm einfach meine neue Entdeckung mitteilen, meine Gefühle mitteilen.

„Angst wovor?", krächzt er.

„Vor meinen Gefühlen für dich."
Ich weiß nicht, woher ich plötzlich diesen Mut nehme, es ihm so direkt zu sagen, aber unsere Lage, wie wir hier auf Jans Bett sitzen, kaum eine Lichtquelle, außer das kleine Nachtlicht, welches genau in Jans Auge scheint, dessen Braun wundervoll erleuchtet aussieht, mich in seinen Bann zieht, seine Hände auf meinen Beinen abgelegt, meine Hände auf seinen Unterarmen, gibt mir Mut, Jan gibt mir Mut.

Wie gerne würde ich ihn jetzt an seinem Gesicht zu mir ziehen und ihn küssen, aber ich muss mich beherrschen, ich würde seine emotionale Lage viel zu sehr ausnutzen.

Aber es fällt mir unglaublich schwer.
Vor allem, weil Jan nicht auf die Idee kommt, seinen Blick abzuwenden. Sie suchen in meinen nach einer Lüge, doch sie werden keine finden.

Jedoch will ich auch gar nicht, dass diese Situation jemals endet.

Nun beginnt er bis über beide Ohren zu grinsen.

Schneller als ich gucken kann, drückt er mich zur Seite nach hinten und legt sich mit seinem Kopf auf meine Brust. Seine Arme um meinen Oberkörper, meine Arme auf seinem Rücken, die ihn noch mehr an mich pressen. Wie sehe hab ich solch eine Nähe vermisst.

Mit einer Hand greife ich nach der Bettdecke, um sie über uns zu legen.

Und jetzt, wo Jan in meinen Armen liegt, friedlich schläft, mein Herz bis zum Mond schlägt und ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass er nie wieder so leiden muss wie heute, als dass jede Nacht so gefühlvoll wird, muss ich mir eingestehen: ich habe mich in ihn verliebt.

Nun muss ich das nur noch irgendwie Jan beichten. Ich hab keine Ahnung, wie ich das machen soll, keine Ahnung, wie er reagieren wird.
Was ist, wenn unsere Freundschaft dann zerstört ist? Für immer?

Ich hab ihm gesagt, dass mir meine Gefühle für ihn Angst machen, aber ihm zu sagen, dass ich mich in ihn verliebt habe, ist etwas ganz anderes.











{ nachdem mir die letzten Kapitel wie hingerotzt vorkamen, bin ich mit diesen mal wieder zufrieden :)
was sagt ihr?
und wollt ihr, dass es nächstes Mal direkt weitergeht oder das Kapitel noch einmal bloß aus Jans Sicht? }

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