𝟞. 𝔸𝕟𝕘𝕖𝕜𝕠

Am Freitag erzählte ich Maike von Angeko, während wir Mittag aßen.

»Also, dieser Angeko ist fies zu dir. Er schreibt beleidigende Kommentare über dich und er hat nicht damit aufgehört, auch obwohl du ihn ignoriert hast«, fasste sie zusammen.

»Ja.«

»Dann wird er wohl nicht damit aufhören. Er wird weitermachen.«

»Oder ich ignoriere ihn einfach weiter.«

»Ich denke, es werden schon viel zu viele Menschen auf dieser Welt ignoriert. Wenn du ihm nicht schreibst, wird er dich runtermachen, er wird dich ganz langsam zerstören. Du musst dich wehren und für dich einstehen.«

»Denkst du wirklich?«

»Ja, ich helfe dir auch dabei.«

Maike versuchte, von ihrem Burger abzubeißen, wobei sie leider kleckerte. Und zwar auf mich. Sie hatte sich im Schneidersitz auf meinen Schoß gesetzt und mir das Gesicht zugewandt. Sie beeindruckte mich. Ich hatte lange Zeit nur die kleine Schwester von Michi in ihr gesehen, doch sie war so viel mehr als das. Sie entwickelte sich zu einem Menschen, der anderen half und der für sich selbst und seine Rechte einstand. Sie war stark, so viel stärker als ich. Und dabei hatten wir beide viel durchgemacht.

»Okay. Wenn du dir vorher angewöhnen könntest, ordentlich zu essen, wäre das sehr nett«, meinte ich.

»Warum denn? Ich esse super.« Sie machte noch einen riesigen Bissen, wobei die Hälfte des Belags aus ihrem Burger herausrutschte und rote Süß-Sauer-Sauce auf meine Hose tropfte. »Ups. Jetzt weiß ich, was du meinst.«

»Danke. Die Hose ist jetzt versaut.«

»Du meinst versauert.«

»Ich meine versüßsauert.«

Maike grinste und sammelte dann die Salatblätter und Gurkenscheiben ein und steckte sie wieder in das Brötchen.

»Hier, halt mal«, sagte sie und drückte mir ihren Burger in die Hand. Dann rieb sie mit ihrer Hand über meinen Oberschenkel, um die Soße wegzukriegen. Damit erzeugte sie ein Kribbeln in meinen Beinen und etwas zog sich in mir zusammen. In meinem Nacken bildete sich eine Gänsehaut. Sie rieb weiter, ohne zu merken, was in mir vorging.

»Ich denke, das reicht. Den Fleck kann ich rauswaschen.«

»Ich würde ja sagen, dass es mir leidtut, aber dann würde ich lügen. Ich habe immer Spaß daran, andere zu ärgern.« Maike grinste breit. Sie war ein Sonnenschein.

Ich brummte etwas.

»Würdest du mich jetzt lieber umarmen oder killen?«, fragte sie leichthin.

»Killen. Definitiv killen.«

»Weil ich deine Hose ruiniert habe?«

»Nein, weil du mich erregt hast.«

»Was?« Maike riss die Augen auf.

»Kleiner Scherz.« Ich schmunzelte über ihre Reaktion und doch, es war kein Scherz. Zum Glück hatte sie das nicht gemerkt.

»Dominik schreiben oder ihm nicht schreiben?«, fragte ich sie.

»Du stehst volle Kanne auf ihn. Schreib ihm!«

»Okay. Mal sehen.«

»Soll ich dir dabei auch helfen?«

Wäre nett, wenn sie mir vorher bei einem anderen Problemchen helfen könnte.

»Warum nicht?«

Wir aßen zu Ende und spielten eine Runde Entweder-Oder. Als wir fertig waren, machten wir uns wieder an die Arbeit. Wir sprachen nur kurz hinter der Theke.

»Was hältst du davon, wenn wir unsere Version ein bisschen erweitern?«, fragte sie.

»Wie denn erweitern?«

»Wir machen aus den Fragen Pflichten, so kleine Aufgaben und du darfst eine auswählen!«

»Zum Beispiel?«

»Also, entweder du flirtest mit dem Jungen da vorne oder du rufst Dominik an«, sagte Maike.

»Gutes Beispiel. Willst du anfangen?«

»Habe ich doch gerade.«

»Was? Nein.«

»Oh doch. Soll ich es noch mal wiederholen?«

»Nein, ich habe dich schon verstanden. Definitiv der Junge. Ich kann Dominik doch nicht anrufen. Welchen Jungen genau meinst du?«

»Der dort vorne. Er spricht mit dem Mädchen.«

»Das sieht mir verdächtig nach einem Date aus«, meinte ich, als ich sah, wie das Mädchen ihre Hand auf die des Jungen legte.

»Ich glaube, es ist auch eins.«

»Und das soll ich zerstören? Auf keinen Fall.«

»Dann musst du Dominik anrufen.«

»Kann ich dir vorher eine Aufgabe stellen?«

»Klar.«

»Okay, entweder du nimmst die Aufgabe zurück oder du musst heute und morgen alles abwischen.«

»Ich habe zu tun.«

»Warte, willst du ernsthaft alles alleine abwischen?«, fragte ich sie.

»Ja.«

»Echt? Du könntest es uns beiden so einfach machen!«

»Auf keinen Fall. Wir lieben doch beide Herausforderungen oder nicht?« Maike lächelte so sehr, dass ihre Augen fast zugekniffen waren.

»Aber nicht solche!«

»Wofür hast du dich nun entschieden?«

»Ich werde Dominik anrufen.«

»Prima. Dann läuft alles nach Plan.« Maike grinste.

»Welcher Plan?«

»Dich mit Dominik zu verkuppeln!«, rief Maike und verschwand in der Küche. Dieser Lockenkopf machte mich noch verrückt! Warum hatte ich nur eingewilligt, die neue Version mitzuspielen?

Nachdem ich das Geschirr von den Tischen geräumt hatte und meine Schicht beendet war, verkroch ich mich im Pausenraum. Maike hatte ich nicht mehr gesehen, seit sie in die Küche abgezogen war.

Ich zerrte an meinem T-Shirt, während ich auf die Nummer starrte. Mir war plötzlich so heiß, dass ich das Shirt von meinem Körper riss. Hierhin verirrte sich sowieso niemand, also würde auch niemand mich und meine Narben sehen. Ich atmete tief durch. Ich sollte es tun. Ich musste es tun. Ich wollte es tun. Und als kleinen Nebeneffekt hatte ich mich an unser neues Entweder-Oder-Spiel gehalten und nicht verloren.

Gerade als ich auf das Anrufsymbol klicken wollte, drückte jemand die Türklinke herunter und kam herein. Ich erschreckte so sehr, dass ich von dem Bürostuhl fiel und zu allem Unglück landete meine Hand auf meinem Handy und schon wählte es für Dominik. Entsetzt schaute ich zur Tür. Natürlich stand Maike im Türrahmen. Ich hätte es wissen müssen.

»Oh sorry, ich wollte nicht...« Sie ließ ihren Blick ein paar Sekunden über meine Brust und meinen Bauch wandern.

»Ich wusste nicht, dass du so freizügig telefonieren möchtest«, sagte sie mit einem Grinsen auf ihren roten, etwas rissigen Lippen. »Viel Spaß dabei.«

Sie verließ den Raum und schon hörte ich Dominiks Stimme aus meinem Handy heraus.

»Du telefonierst freizügig mit mir?«

»Was?« Geschockt lehnte ich mich vor und stieß mit meinem Kopf gegen den Stuhl. Ich unterdrückte einen Fluch.

»Ist noch jemand da?«

»Nein, ich bin allein«, antwortete ich.

»Und du willst jetzt Telefonsex mit mir?«, fragte Dominik nach.

»Was? Auf keinen Fall! Nein!« Wäre gar keine so schlechte Idee. »Das ist nur ein Missverständnis.«

»Was hast du denn an?«

»Warum willst du das wissen?«

»Vielleicht habe ich ja Interesse an Telefonsex.«

»Wirklich?«, fragte ich und zog meine Augenbrauen hoch, auch wenn ich wusste, dass er es nicht sehen konnte. »Weißt du überhaupt, wer dich gerade anruft?«

»Wir haben zwar lange nicht gesprochen, aber deine Nummer ist in meinem Handy trotzdem noch eingespechert«, versicherte er mir.

»Oh, ähm, das ist cool. Ähm.«

»Also? Was trägst du für Klamotten? Trägst überhaupt welche? Ah, deshalb lenkst du vom Thema ab. Du hast einfach gar nichts an!«

»Das stimmt nicht. Ich trage Shorts.«

»Also kein Oberteil? Dachte ich es mir doch. Sind deine Geschlechtsteile eigentlich echt?«

Ich hätte mir denken können, dass so etwas kommen würde. Ich fand das beleidigend, auch wenn er vielleicht aus Neugier fragte oder es als Scherz meinte. Ich hatte aufgelegt, bevor ich überhaupt fest beschlossen hatte, das Telefonat zu beenden. Dabei wollte ich doch Kontakt zu ihm. Warum musste er ausgerechnet so etwas sagen? Er hatte sich wohl nicht geändert. Konnte ich es schaffen, dass er sich meinetwegen änderte?

Nach ein paar Minuten rief Maike von draußen: »Telefonierst du noch, Levi? Kann ich reinkommen?«

»Nein und ja!«, gab ich zurück und schon stand Maike im Raum.

»Das klang nicht so toll. Ihr habt nicht lange geredet. Habt ihr euch sofort verabredet und danach aufgelegt?« Maike hatte noch Hoffnung, doch ich schüttelte den Kopf und entschied, mich einfach nach hinten zu fallen und mich auf dem Teppich breitzumachen.

»Habe ich eine Beule? Ungefähr hier?«, fragte ich. Ich deutete auf meine Stirn, die Kontakt mit dem Stuhl hatte.

Maike verneinte, was mich erleichterte.

»Du bist ja immer noch so freizügig unterwegs. Mit wem telefonierst du jetzt?«

»July«, meinte ich niedergeschlagen.

»Viel Spaß.« Schon verließ Maike wieder das Zimmer. Auch, wenn ich gerade nicht in der Laune war, entlockte sie mir damit ein Lachen.

Und tatsächlich rief ich July an. Zum Glück fragte sie nicht, was ich anhatte. July konnte nicht lange mit mir sprechen, weil sie gerade auf die Zwillinge aufpasste. Als wir aufgelegt hatten, rief ich Maike herein, die wohl noch immer an der Tür gestanden hatte.

»Und was hat Jules gesagt?«

»Ihr geht es gut. Sie hat sich gefreut, dass ich angerufen habe, weil ich ihr so selten schreibe, weil ich die ganze Zeit arbeite.«

»Das meinte ich gar nicht. Was hat sie zu deinem Aufzug gesagt?«

»Sie wusste gar nicht, dass ich nackt bin.«

»Ich wusste es auch nicht.«

»Halbnackt. Oberkörpernackt. Ich sollte mir echt mal etwas anziehen.«

»Soll ich ihr schnell ein Foto schicken?«

Maike war sofort an meiner Seite, hielt ihr Handy vor uns und schoss ein Foto, aber nicht von meinem Oberkörper, sondern von uns.

»Hey, du hast mich nicht vorgewarnt!«

»Doch, habe ich.«

»Aber nicht früh genug!«

»Na ja, egal.« Maike machte eine wegwerfende Geste. »So, wir haben Pläne.« Maike grinste süffisant.

»Welche denn?«, fragte ich verwirrt, leicht ängstlich und aufgeregt. Kamen wir diesmal der Lösung von meinem Problemchen von vorhin näher?

»Wir wollten Angeko schreiben. Ich habe versprochen, dir zu helfen.«

Maike krallte sich den Stuhl und ich blieb auf dem Boden sitzen, allerdings zog ich mir endlich ein T-Shirt an. Nicht mal Michi hatte mich so oft und so lange ohne Shirt gesehen.

»Okay, kriege ich dein Handy?«, fragte sie.

Ich öffnete Instagram, klickte auf Angekos Profil und reichte es Maike.

»Angeko, du hast unter meinen Posts beleidigende und transfeindliche Kommentare hinterlassen und wenn du das nicht unterlässt, werde ich dich melden. Wie klingt das?«

»Sehr gut.«

Maike schickte die Nachricht ab. Kurz darauf erhielt ich eine Antwort.

»Traust du dich das echt, du verlogenes, falsches Mädchen? Du schaffst es ja nicht mal, dich mir in deinen Kommentaren zu stellen, weil du Angst hast, dass du eine Argumentation verlieren könntest. Außerdem darf ich doch meine eigene Meinung haben. Du hast ja auch deine eigene Meinung, eine sehr spezielle, die ich nur ein wenig kritisiere«, las Maike vor.

»Er kritisiert mich nicht, er verletzt mich!«

»Dann schreiben wir das.«

»Oh nein, damit mache ich mich ja noch mehr angreifbar«, sagte ich.

»Willst du etwa gar nichts weiter zurückschreiben?«, fragte Maike.

»Gerade nicht.«

∆∆∆

Am Wochenende traf ich mich mit July. Wir puzzelten weiter und sprachen über mein kleines Festival ALLE!, das ich im Herbst veranstalten würde. Es diente dazu, andere queere Personen zu treffen und ihnen Mut zu machen.

»Findet es wieder in deinem Garten statt?«, fragte July.

»Ja.« Ich hatte Glück, dass Dad erstens ein bisschen reich war, was für unser Leben nie eine große Rolle gespielt hatte, und zweitens mich unterstützen wollte. Um ihm zu zeigen, dass ich nicht komplett abhängig von ihm war, verdiente ich im Lustig mein eigenes Geld, doch bei dem jährlichen Festival brauchte ich seine ganze Unterstützung.

»Hast du schon Einladungen verschickt und Werbung gemacht?«, fragte July.

»Toni kümmert sich darum. Er hat Einladungsplakate beziehungsweise Flyer erstellt. Die können wir dann digital verbreiten und wenn wir möchten auch ausdrucken. Ich habe das Design noch nicht gesehen. Er wollte am Montag oder Dienstag damit fertig sein und es mir dann zeigen.«

»Beim Aufbau helfen bestimmt die üblichen Leute, oder?«

»Ja und jemand muss auch Getränke ausschenken und ein paar Snacks verkaufen.« So konnten wir diese kleinen Festivals finanzieren. Und Geld an Organisationen spenden, die die LGBTQ+-Community unterstützten.

»Ich glaube, das gehört zum Himmel.« July reichte mir ein Puzzlestück und als unsere Finger sich berührten, kribbelte meine ganze Hand und ich bekam Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich lehnte mich ein wenig nach vorne, um ihren süßlichen Geruch einzuatmen. Er stieg in meine Nase. Ich wollte mehr davon und beugte mich noch weiter nach vorne.

»Levi? Was machst du da?«, fragte July, kurz bevor ich umkippte und mein Kopf auf ihrem Bein landete. Ups. Seit ich verliebt war, passierten mir ständige kleine Missgeschicke.

Mein Arm, mit dem ich versucht hatte, mich aufzufangen und aufzustützen, lag auf einem schon gepuzzelten Stück.

»Sorry«, murmelte ich.

»Warte, ich helfe dir.« July hob vorsichtig meinen Kopf und dann meinen Arm nach oben und ich sank von alleine wieder zurück. Das war peinlich und unangenehm.

Ich lächelte July an und puzzelte dann das Puzzlestück an die richtige Stelle. Ich kümmerte mich um den oberen Rand mit Himmel und Wald, July um den unteren mit einer bildschönen Landschaft.

July strich sich ihre dunklen langen Haare hinters Ohr. Sie reichten bis zu ihrem Rückenende. Und wie durch Magie wurde mein Blick von diesen glänzenden Haaren und ihren langen Fingern, die da durchfuhren, angezogen. Ich wünschte mir, dass diese Finger mein Haar berührten.

»Was gefällt dir an deiner Arbeit am besten?«

»Maike. Sie lockert alles auf und mit ihr ist es gar nicht so langweilig«, antwortete ich.

»Und was magst du am wenigsten?«

Ich unterdrückte mein Lachen, als ich »das Abwaschen« sagte. Dabei musste ich nämlich an Maikes Aufgabe denken. Ich hoffte, dass sie irgendwann so genervt vom Abwaschen gewesen war, dass sie ausgerastet war. Immerhin hatte sie mich durch ihre Aufgabe auch an meine Grenzen gebracht. Na gut, ich verdankte ihr, dass ich Dominik angerufen hatte und dadurch hatte ich verstanden, dass ich meine Hoffnung aufgeben konnte.

»Freust du dich auf dein Studium?«, fragte ich.

»Es gibt Sachen, die würde ich lieber machen, aber an sich ja. Ich freue mich vor allem darauf, meine Freunde wiederzusehen.«

»Gibt es da vielleicht eine Person, die dir sehr gut gefällt?« Ich wackelte mit meinen Augenbrauen.

July schaute ernst drein. »Nein, leider nicht.«

Nicht die beste Antwort. Ich spürte, wie mein Herz blutete. Sie hatte nicht angedeutet, dass es jemanden gab, den sie mochte und zum Beispiel ganz zufällig Levi Andree hieß.

Als wir uns an der Tür verabschiedeten, entschloss ich, mutig zu sein. Vielleicht musste ich sie einfach noch mal nüchtern küssen, damit wir beide checkten, dass etwas zwischen uns war und damit July erkannte, dass ich auf sie stand.

»Kommst du morgen wieder, damit wir weiterpuzzeln können?«, fragte sie.

»Das werden wir gleich erfahren«, sagte ich geheimnisvoll. Sie stand so nah vor mir. Wir schauten uns an und mein Blick wanderte von ihren großen Augen über ihre gerade Nase zu ihren vollen Lippen. Dann beugte ich mich vor und flüsterte »Sorry«, bevor ich meinen Mund auf ihren senkte und sie küsste. Es war ein flüchtiger Kuss. Wilde Schmetterlinge tanzten in meinem ganzen Bauch und meine Haut kribbelte überall. Ich gab ihr keine Zeit, mich zurückzuküssen, weil ich Angst hatte, dass sie es nicht tun würde. Dann sprang ich zurück, warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und rannte davon. Ich wollte ihr Zeit geben, damit sie nicht voreilig etwas sagte, was sie gar nicht meinte.

»Levi!«, rief sie. »Levi, bleib stehen!«

Ich verlor ein wenig Zeit, als ich auf mein Moped stieg und die Maschine zum Laufen brachte, doch sobald ich losgefahren war, hatte sie keine Chance, mich einzuholen. Ich hörte, wie sie meinen Namen wiederholte, sie schrie in meinem Kopf weiter und ihr Bild schwebte in meinem Kopf herum. Ihr überraschter Ausdruck, nachdem ich sie geküsst hatte, ließ mich die ganze Rückfahrt nicht los. Hatte es ihr gefallen? War sie entsetzt? Würde sie jemals wieder ein Wort mit mir reden?

Nun hatten wir uns schon dreimal geküsst.

Den einen Kuss bereuten wir beide. Wir hatten uns nur als Freunde gesehen und es war außerdem kein absichtlicher Kuss, sondern ein Versehen. Ich war in der Zeit auch noch stark in Dominik verliebt.
An den zweiten Kuss, den wir betrunken beide wollten, erinnerte sie sich nicht.
Und beim dritten Kuss wusste ich nicht, was sie davon dachte.
Sollte ich umdrehen und sie sofort fragen? Nein, ich wollte ihr Zeit geben. Ich unterdrückte den Drang, anzuhalten und umzudrehen.

Geradeaus fahren. Nicht an July denken, befahl ich mir selbst.

Zu Hause schrieb ich Michi. Ich wünschte, du wärst hier und wir könnten reden.

Früher hatten wir viel öfter geredet. Wir hatten uns fast täglich gesehen. Leider hatte ich da immer das Gefühl gehabt, dass July und Toni ihm um Welten wichtiger waren als ich. Ich wünschte, ich hätte auch so einen besten Freund oder eine beste Freundin.

July war zwar meine beste Freundin, aber sie mochte Michi wahrscheinlich auch lieber als mich. Warum dachte ich ausgerechnet darüber nach? Ich seufzte und schnappte mir etwas aus der Küche.

Du kannst immer anrufen. Außerdem komme ich bald, um euch alle zu besuchen. Maike vermisst mich bestimmt.

Ich lächelte. Du vermisst wohl eher sie. Maike hat mich, da braucht sie keinen älteren Bruder mehr ;).

Dann schrieb ich July. Können wir uns morgen treffen?

Sie antwortete sofort, als hätte sie auf meine Nachricht gewartet. Ja. Bei dir?

Ja.

∆∆∆

July hatte mir vor ein paar Minuten geschrieben, dass sie losfahren würde. Ich saß wie auf heißen Kohlen. Ich wollte das Gespräch mit ihr schnell hinter mich bringen. Dad und Tara wollten den Sonntag nutzen, um einen kleinen Ausflug zu machen. Also war ich alleine. Ich stand auf und lief im Raum umher. Ich wollte mich beschäftigen, doch ich wusste nicht, womit. Als es klingelte, schreckte ich zusammen und rannte zur Tür. July stand davor. Eine sanfte Brise wehte durch ihr Haar, welches wie immer schön glänzte.

»Hi«, sagte ich.

»Hi.«

Kurz standen wir da und bewegten uns nicht. Wir sprachen auch nicht, bis ich sie mit einer Geste hineinbat. Sie zog ihre Schuhe aus, was ich als gutes Zeichen wertete. Dann folgte sie mir in die Küche. Ich stellte zwei Gläser auf den Tisch und schenkte uns Orangensaft ein.

»Es tut mir leid, dass ich dich gestern ohne Vorwarnung geküsst habe«, sagte ich.

»Es sollte dir eher leidtun, dass du danach wie ein Feigling abgehauen bist.«

»Das tut mir weniger leid. Ich wollte dir Zeit geben, damit du darüber nachdenken konntest. Verstehst du?« Ich ließ mich auf einem Stuhl nieder.

»Ja«, gab July zu.

»Aber ich musste es tun. Dich küssen, meine ich. Ich wollte es auch. Du erinnerst dich zwar nicht daran, aber wir haben uns auf der Hochzeit geküsst. Auf der von Gavin und Jenny. Da wolltest du mich auch küssen. Es hat dir gefallen. Aber am nächsten Tag fandest du die Vorstellung, wir könnten uns näher gekommen sein, ekelhaft.«

»Nein, ich fand die Vorstellung, dass wir miteinander geschlafen haben könnten, beängstigend, weil ich noch nie mit jemanden geschlafen habe«, protestierte July.

»Ich doch auch nicht. Aber so sah es nicht aus.«

»Levi.« July stand auf und kam zu mir. »Ich möchte mich an mein erstes Mal erinnern können.«

»Und willst du dein erstes Mal mit mir haben?«

Nun machte July ein bedrücktes Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich will. Für mich gab es eine Zeit lang niemanden, weißt du? Und dann hast du mich geküsst und der Kuss hat mir gefallen. Ich glaube, ich muss mir meiner Gefühle erst klar werden. Kannst du warten?«

»Auf dich? Es wird mir schwerfallen, aber ja. Ich werde ähm -« Ich beendete den Satz nicht. Ich wusste sowieso nicht, was ich noch sagen wollte. Es würde mir schwerfallen, sie nicht zu berühren, aber ich hatte es bisher auch gut durchgehalten.

»Danke.« July legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte mich an.

Ich lächelte schwach zurück, während ich die Schmetterlinge, die sich bei ihrer Berührung in meinem Bauch regten, ignorierte.

»Das heißt, wir bleiben erst mal Freunde, bis du herausgefunden hast, was und wie du fühlst?«, fasste ich zusammen.

»Ja. Wollen wir einen Film schauen?«

»Klar.« Ich hoffte, sie hörte nicht, dass ich etwas genervt klang.

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