ᴋᴀᴘɪᴛᴇʟ 4 - sᴛᴜᴅɪᴏ

Freya lief genervt zu dem Klassenzimmer zurück, warf ihren Rucksack an den Tisch und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Da war ihr doch direkt wieder bewusst geworden, warum sie andere Menschen hasste, und es vermied, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Sie lehnte sich zurück und ignorierte die Blicke, die ständig zu ihr huschten.

Sie fragte sich, ob ein, soll ich dir ein verdammtes Bild malen, den Typen aus der ersten Reihe davon abhalten würde, sie so dämlich anzuglotzen. Sie stöhnte über ihre eigenen Gedanken und nervte sich damit selbst. Normalerweise tat sie dumme Begegnungen mit Menschen einfach ab, aber irgendwas an Aarons Reaktion ging ihr so richtig gegen den Strich und das nervte sie noch viel mehr. Ein scheinbar nicht enden wollender Kreislauf, der Genervtheit, den sie leider nur zu gut kannte.

Freya fing an, zu hoffen, dass Aaron die Situation vielleicht genutzt hatte, um den Rest des Tages den Unterricht zu versäumen, als er durch die Tür getreten kam. Er würdigte ihr nicht mal einen Blick, setzte sich neben sie und schon lag sein Kopf wieder auf der Tischplatte. Freya sah ihn fassungslos an.

Auch gut, dachte sie sich, legte die Beine auf dem Tisch ab und wartete.

Der Rest vom Tag verging scheinbar noch viel langsamer. Ein Lehrer nach dem anderen kam in das Zimmer, rasselte seinen langweiligen Stoff herunter und verschwand wieder. Freya hatte keine Ahnung, wie sie das alles noch ein Jahr durchhalten sollte. Die letzte Stunde hatten sie erneut bei Herrn Bachmann, der sie schon beim Betreten des Klassenzimmers komisch ansah. Tja, da hatte wohl schon der Erste herausgefunden, wer sie war. Konnte ihr Ruhe oder jede Menge Ärger einbringen. Die Zeit würde es wohl zeigen, doch die Erfahrung tentierte zu Ärger und es sollte auch diesmal nicht anders sein.

»FREYA«, zerriss die schroffe Stimme von Bachmann die, bis eben herrschende, Stille.

Freya zuckte kurz zusammen, denn sie lag mittlerweile ebenfalls, wie Aaron, mit dem Kopf auf der Tischplatte und schlief.

»Wie wäre es mit aufpassen und mitschreiben? Ich dachte, du würdest Aaron animieren, besser mitzumachen, aber scheinbar färbt sein Verhalten auf dich ab«, raunte Bachmann weiter.

Freya zu wecken war nie eine gute Idee und so hob sie langsam den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo genau sie war. Doch als die Erkenntnis eintraf, war vorerst nur ein genervtes Stöhnen von ihr zu hören, bevor sie sich aufrichtete und den düsteren Blick von Bachmann erwiderte.

»Ich bin kein Animateur. Abfärben tut hier auch nichts, außer vielleicht die billige Haarfarbe der Rothaarigen da vorn und ich schreibe seit drei Jahren nicht mehr mit. Das ist die reinste Rohstoffverschwendung, denn das Einzige, was ich mit diesen Blättern mache, ist, sie abends beim Lagerfeuer zu verbrennen«, erwiderte sie, zog eine Braue nach oben und legte dann ihren Kopf wieder auf ihren Armen ab.

Augen zu und Stille genießen. Denn genau die herrschte wieder. Sie hatte das Aufstöhnen der Rothaarigen vernommen und auch das, nach Worte suchende, Luft schnappen von Bachmann. Beides ging ihr am Arsch vorbei. Ihr war sehr wohl bewusst, dass diese Art von Nörgelei, vonseiten der Lehrer, bald enden würde.

Freya litt unter dem Hyperthymestrischen Syndrom, mit anderen Worten, sie konnte nichts vergessen. Es reichte, dass sie etwas sah, hörte oder las und es wurde förmlich in ihr Gehirn eingebrannt. Sie konnte sich an jeden Tag in ihrem Leben erinnern und oftmals reichte es sogar aus, dass sie etwas im Halbschlaf vernahm, um es abzuspeichern. Für die Schule und ihre Noten war es eine der besten Gaben, die sie sich wohl wünschen konnte. Na ja, abgesehen davon, dass sie dadurch noch mehr Langeweile hatte als eh schon. Aber es gab Momente in ihrer Vergangenheit, die sie nur zu gern vergessen hätte. Erinnerungen, die sie immer und immer wieder quälten, die sie nachts nicht schlafen ließen und sie zu dem gemacht hatten, was sie war. Momente, in denen sie nichts außer Kälte und Hass empfand. Momente, in denen sie sich wünschte, niemals geboren worden zu sein.

Nachdem Freya auch die letzte Stunde hinter sich gebracht hatte, schaffte sie ihre kompletten Schulsachen in den Spind, denn Hausaufgaben machte sie ebenso wenig, wie Mitschreiben und verließ das Schulgebäude so schnell wie nur möglich. Die Sache mit Aaron hatte sie bereits zur Seite geschoben und so nahm sie ihn auch gar nicht für voll, als sie sich an ihm vorbei nach draußen schob. Auch sein Blick, der ihr noch einige Minuten folgte, vernahm sie nicht und als sie auf ihr Bike stieg, war eh alles Vergessen. Es war schon seit Jahren so, dass sie sich in der Schule eingeengt fühlte. Es war, als würde sie den ganzen Tag eine Maske tragen, welche genau in dem Moment abfiel, wenn sie dieses Gebäude verließ und sich auf den Weg zu ihrer Familie machen konnte.

Heute führte der Weg allerdings erst mitten in die Stadt und Freya schnaubte schon wieder genervt unter ihrem Helm. So viele Menschen und so viele davon waren nicht in der Lage Auto zu fahren. Ein weiterer Grund, warum Freya ihrer Mutter schon seit einigen Wochen in den Ohren lag, dass es an der Zeit war, dass sie mit dem Studio umzogen. Natürlich war die Lage des Studios perfekt für Laufkundschaft, aber die brauchten sie nicht. Ihr Terminplan war immer ein Jahr im Vorraus ausgebucht. Außerdem war das Studio zu klein, zumindest würde das bald der Fall sein. Aktuell arbeitet Nora allein, doch sobald Freya ihren Abschluss in der Tasche hatte, würde sie mit in das Studio einsteigen. Sie hatte bereits seit zwei Jahren ihren eigenen Kundenstamm und arbeitete in den Ferien oder auch an manchen Tagen nach der Schule, so wie heute, einige Kunden ab.

Nachdem sie sich endlich durch den Verkehr gekämpft hatte und dabei das gesamte Arsenal ihrer Schimpfworte durch die Gegend gebrüllt hatte, parkte sie ihr Bike direkt vor dem Gebäude. Es war recht alt und wirkte von außen nicht sonderlich attraktiv. Die Fassade war sicherlich mal weiß gewesen, schimmerte jetzt aber eher in einem verbrauchten Grau. Über dem Studio befand sich eine Mietwohnung. Die Mieter jedoch bekamen sie so gut wie nie zu Gesicht. Da aber Nora auch keine Anstalten machte, es renovieren zu wollen, stieg in Freya immer mehr Hoffnung auf, dass sie sich tatsächlich nach etwas Neuen umsehen würde. Sie legte ihren Helm auf dem Bike ab, denn sie musste sich keine Sorgen darüber machen, dass er geklaut wurde. Jeder wusste hier, wer sie waren. Wessen Familie dieses Studio gehörte und dass man diese nur beklaute, wenn man einen dringenden Todeswunsch verspürte.

Freya schob die Glastür auf und sah die petrolfarbenen Haare hinter der kleinen Theke hervorragen.

»Hey Mum«, sagte Freya und sofort schoss Nora ihr Blick nach oben.

Ein breites, liebevolles Lächeln lag ihr im Gesicht, als sie ihre Tochter ansah.

»Na, ersten Schultag überstanden?«

Freya rollte genervt die Augen und nickte.

»Scheint so, oder?«, sagte sie und lehnte sich über die Theke.

Nora starrte in den Rechner und hatte die Stirn in Falten gelegt.

»Alles okay?«, fragte Freya.

Nora nickte vor sich hin und ließ den Stift, den sie eben noch durch ihre Finger rollte, langsam in ihren Dutt gleiten. Eine Macke von ihr, welche Freya aber zeigte, dass sie wirklich etwas beschäftigte und damit enden würde, dass ihre Mutter spätestens in einer halben Stunde nach dem Stift suchen würde.

»Mum?«, wiederholte Freya und endlich sah Nora auf.

Sie lächelte entschuldigend.

»Sorry. Ja, alles gut. Ich muss mich nur für eine Woche frei planen und versuche, gerade die Termine zu verschieben.«

Freya nickte.

»Wenn's hilft, schieb welche zu mir«, sagte sie und sah mit auf den Rechner.

Nora schüttelte den Kopf.

»Keine Chance. Das ist in den Herbstferien. Da bist du selbst schon völlig ausgelastet«, gab Nora zurück.

»Ach und deine Kundin kommt eine halbe Stunde später.«

Freya stöhnte. Sie hasste es, wenn Kunden es nicht schafften pünktlich zu kommen, aber sei es drum. Sie sah ihre Mum an.

»Zeit für Kaffee und Kippe?«, fragte sie.

Nora, die scheinbar schon nach ihrem Stift suchte, reagierte nicht. Freya rollte die Augen, griff nach dem Stift und hielt ihn Nora vor die Nase. Sie sah in das fragende Gesicht ihrer Tochter.

»Upps«, sagte sie und grinste.

Freya schüttelte den Kopf.

»Los, Kaffee. Du brauchst dringend eine Pause«, wiederholte Freya und lief schon um die Ecke zu der kleinen Küchenzeile.

Nora folgte ihr und nachdem der frische Duft von Kaffee durch das Studio gekrochen war, setzten sich beide nach draußen auf eine kleine Holzbank. Sie stand am Rand des Studios, die Aussicht war eher langweilig, außer man mochte es auf Backsteinwände in abgenutzten rot-gelb zu starren. Freya zündete sich eine Zigarette an und ließ sich neben ihre Mum auf die Bank fallen. Nora sah sie an und grinste.

»Was?«, fragte Freya.

Ihre Mum rollte die Augen.

»Na, ich will hören, wie dein erster Tag war«, sagte Nora und sah sie mit einem breiten Grinsen an.

Freya ließ sich tiefer in die Bank sinken und stöhnte auf. Doch nach einem weiteren Zug an ihrer Zigarette fing sie an zu erzählen.

»Das Übliche halt. Viele Blicke, Getuschel, nervige Lehrer, noch nervigere Schüler, aber es gibt ein verdammt gutes Café um die Ecke.«

Nora lachte auf und schüttelte den Kopf.

»Klar, Hauptsache, du hast was, wo du dich vollstopfen kannst.«

Diesmal lachte Freya auf.

»Na irgendwas Positives muss es doch bei all der Scheiße geben«, sagte Freya und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.

Nora nickte und legte den Kopf schief, während sie ihre Tochter musterte. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Aber nicht die unangenehme Art, sondern es hatte eher etwas Friedliches. Zwei Personen, die einfach nur nebeneinandersitzen konnten und nichts taten. Etwas sehr Seltenes, in der heutigen Zeit.

»Ich bin echt stolz auf dich«, sagte Nora plötzlich und beendete damit die Stille.

Freya runzelte die Stirn.

»Warum?«, fragte sie und sah etwas irritiert zu ihrer Mum.

Die zuckte nur mit den Schultern.

»Wegen allem. Kannst stolz auf dich sein!«, wiederholte sie.

Freya lächelte sie an.

»Danke und jetzt hör auf mit der Scheiße. Du bist noch nicht alt genug für diesen sentimentalen Müll«, sagte Freya und schon schlug Nora ihr gegen den Oberarm.

»Arsch«, erwiderte sie und stand auf, als sie die Glocke der Tür hörte.

Die nächsten zwei Stunden verbrachte Freya damit, ihrer Kundin, die zum Glück mehr schwieg, als jammerte, eine Ansammlung von Blumen unter die Haut zu bringen. Nicht das Motiv, was Freya gern stach, aber der Kunde war König. Zumindest meistens. Nachdem Freya fertig war und die Kundin glücklich das Studio verlassen hatte, machte Freya noch ihren Arbeitsplatz sauber. Mehr als eine Arbeit schaffte Freya nicht nach der Schule. Ihre Konzentration ließ einfach zu schnell nach und so machte sie kurz vor 18 Uhr Feierabend.

Sie trat gähnend zu der Theke, an der Nora schon wieder am Rechner saß, und versuchte Kunden zu verschieben.

»Ich habs und mach mich auf den Weg nach Hause. Weißt du, wann du heute kommst?«, fragte Freya.

Nora sah sie an und seufzte.

»Ich will die Arbeit heute fertig bekommen. Wenn mein Kunde es durchhält, wird es sicher erst gegen 10. Sag auch bitte Jaxon Bescheid, falls du ihn siehst. Er ist vorhin nicht ans Handy gegangen«, sagte Nora.

Freya runzelte die Stirn. Es war eher selten, dass ihr Dad nicht ans Telefon ging und wenn es doch mal vorkam, dann war die Kacke meistens so richtig am Dampfen. Nora schien ihre Gedanken erahnen zu können und so hob sie schnell die Hände.

»Ich weiß nichts und ich will es nicht wissen«, sagte sie, als erneut die Tür aufging und Nora den jungen Mann anlächelte.

Freya seufzte.

»Alles klar. Dann bis später. Hab dich lieb«, sagte Freya und machte sich auf den Weg zur Tür.

»Ich dich auch«, erwiderte Nora und schon hatte Freya das Studio verlassen.

Sie stieg, mit einem komischen Gefühl im Bauch, auf ihr Bike und machte sich auf den Weg nach Hause. Freya und ihre Bauchgefühle. Etwas, was man lieber nicht ignorieren sollte.

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