Kapitel 1
Keno
Diese verfickte Drecksscheißkuh, denke ich, als ich im Flur beim Reinkommen sofort über neue Glasflaschen stolpere. Mehrere leere Flaschen, in denen einmal Alkohol gewesen ist, rollen über den Billigholzboden und verursachen beim Zusammenstoßen ein hohes Klirren.
Meine Wut steigt sprungartig an und ich spüre, wie sich mein Kiefer anspannt und meine Zähne unnormal fest zusammenbeißen. Ich kicke meine Schuhe wutentbrannt in eine Ecke, wo sich schon dunkle Spuren auf der billigen Raufasertapete abzeichnen und stürme dann in mein Zimmer. Es ist nicht das erste Mal, dass meine Schuhe ihren Weg gegen die Wand finden.
Mein Schulranzen, der mehr wie ein alter Turnbeutel aussieht, landet im hohen Bogen auf meinem Bett und ich reiße meine Schranktüren auf, um ganz unten zwischen verschiedenen Rucksäcken, Taschen und Beuteln nach dem Ausschau zu halten, der am größten sein müsste.
Ich habe die Schnauze voll von der falschen Schlange, die sich meine Mutter schimpft. Die Flaschen sind nur die Kirsche auf der Torte – auf der heutigen Torte wohlgemerkt. Denn beinahe jeder Tag endet mit einem Wutausbruch meinerseits und meistens mit Hausarrest, den ich eh nicht einhalte, was sie wiederum nicht stört, so lange ich sie am Abend nicht beim Saufen störe. Wie ich es hasse. Die Textnachricht von vorhin ist lediglich der Auslöser für meine heutige schlechte Laune.
Sorg dafür, dass du dich benimmst, Hamza kommt vorbei.
Als hätte ich nicht schon genug Probleme, denke ich, während ich einen großen schwarzen Rucksack mit Schäfchen-Aufdruck unter allem anderen hervorkrame. Der müsste passen, auch wenn mich das Schaf ein Stück weit stört. Das Erste, was im Rucksack landet, ist der moderne Laptop mit Monsterspeicher, den ich mir Anfang dieses Schuljahres erst von meinem eigenen Geld finanzieren konnte. Zusammen mit dem Ladekabel, meinem Portemonnaie und einem großen Paar Kopfhörer ist damit die Basis meines Vorhabens gelegt. Ich wende mich wieder meinem Schrank zu, um mich dem Thema Klamotten zu widmen.
Das einzig Gute daran, dass Hamza vorbeikommt, ist, dass meine Mutter heute wohl von größeren Beleidigungen oder Schlägen absehen wird, denn er ist ihr neuer Freund.
Seit einigen Wochen – oder schon Monaten? – geht sie mit diesem spiegelglatten Business-Man aus, von dem ich nicht mal weiß, wo sie ihn aufgeschnappt haben könnte. Er ist jünger als Mum, auch wenn man das nicht denken würde, wenn sie nebeneinanderstehen. Sie sah schon immer jünger aus als sie eigentlich ist, was wohl an den Genen liegt. Er dagegen ist groß und hat sonnengebräunte Haut. Mit einem breiten, freundlichen Lächeln wirkt er wie ein netter Mensch, aber meine Mutter wirkt auch so, als könne sie keiner Fliege etwas zu Leide tun.
Es ist nicht so, dass ich Hamza nicht mag, weil er irgendwie meinen Dad verdrängen könnte oder was auch immer. Meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt und der Krawattenträger ist auch immer nett und freundlich zu mir. Hat mir einmal sogar ein ganz cooles T-Shirt von einer Band mitgebracht, die gerade trended. Im Gegensatz zu all den Liebschaften, die meine Mum sonst so mitgebracht hat, hat sie mir ihn als ersten sogar vorgestellt. Aber ein Teil von mir möchte ihn einfach nicht mögen. Er ist erfolgreicher keine Ahnung was – auf jeden Fall was ganz Großartiges, da Mum meine Noten ständig mit seinem Erfolg vergleicht. Bestimmt irgendeine Bürogeschäftsscheiße. Das hat so gut wie jeder aus meiner Stufe vor zu studieren. Sogar Bene, obwohl er eigentlich ganz cool und wohl als mein bester Freund zu bezeichnen ist.
Nachdem ich einen Haufen ausgewählter Kleidung auf mein Bett hieve, hole ich mein Handy aus der Hosentasche, öffne die Messenger-App und gehe auf Benes Chat. Ich brauche eine Übernachtungsmöglichkeit, wenn ich ernsthaft vorhabe, hier rauszukommen. Als letztes hat er mir ein Video geschickt, auf das ich nicht reagiert habe. Schnell schaue ich den 30-Sekunden-Clip an, auf dem ein nackter Hund komische Fratzen zieht, weil er in Zeitlupe seinen Ball fängt und antworte mit drei lachenden Emojis und einem gehobenen Daumen. Schreibe dahinter: lol, wusste nicht, dass du Videos von dir postest.
Ein Grinsen huscht mir übers Gesicht, als Bene kurz darauf einen Mittelfinger als Antwort sendet. Die Frage, ob ich heute bei ihm übernachten könne, ist schon halb getippt, als mir plötzlich Zweifel kommen. Wie soll ich Benes Eltern die Situation erklären? Er selbst verstünde es sicher und würde es auch ohne nachzufragen akzeptieren, aber seine Eltern sind da ein bisschen skeptischer, besonders weil es Donnerstag ist und wir morgen eigentlich Schule haben. Der Online-Status von Beni Boy verblasst und auch ich schalte das Display aus.
Die spontane Wut von vorhin ist deutlich kleiner geworden, aber das allgemeine Unzufriedenheitslevel hat bei mir eine Schwelle erreicht, die mir jeden Tag immer wieder Gedanken zum Auszug ins Hirn flüstert. Wenn ich hier raus könnte, müsste ich mich keinen Tag länger mit meiner Mutter streiten. In der letzten Woche kann ich mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem wir nicht gestritten hätten. Ob es wegen meinen stinkenden Socken auf dem Fußboden, den zu hohen Stromkosten oder ihrer (regelmäßig den Flur behindernden) Alkoholflaschen ist, nie kann ich nach Hause kommen, ohne dass es am Ende im Streit mündet.
Mein Zimmer ist klein, aber ausreichend. Ich habe ein schmales Bett, einen unaufgeräumten Schreibtisch, sowie einen Kleiderschrank und hinter der Tür findet sich eine kleine Kommode. Viel mehr könnte ich mir mit den Einnahmen meines Mini-Jobs auch nicht finanzieren, würde ich irgendwie alleine klarkommen wollen. Wahrscheinlich könnte ich mir nicht mal die kleinste Wohnung in New Wyer leisten, würde ich sie selbst bezahlen wollen. Schule hat mich nie sonderlich interessiert, aber ich habe auch nicht die Ambition als Penner zu enden, also wäre ein Schulabbruch ohne Plan vermutlich doch etwas zu riskant. Scheiße.
Ich höre, wie sich ein Schlüssel in der Haustür dreht, sie sich mit dem vertrauten Geräusch aus Knarren und Quietschen öffnet und zwei sich unterhaltende Personen hereinkommen. Die lauten Schritte meiner Mutter, verursacht von ihren Highheels, könnte ich überall wiedererkennen. Ich schaue über die Schulter und da meine Zimmertür offen steht, treffe ich sofort auf Mums dunkle Augen. Mein Herz macht einen ertappten Hüpfer und fängt an zu rasen.
Ihr Blick springt von mir auf die umgekippten Glasflaschen und ihre Wangen unter dem Makeup werden eine Spur röter. Das hat sie jetzt aber verkackt. Es ist unmöglich die Menge an Flaschen zu übersehen, wenn man die Wohnung betritt. Ich bin so lange selbstgefällig, bis ich meinen Namen höre und sie mit langen Schritten auf mein Zimmer zu geht.
„Ich hab dir gesagt, dass ich nicht hinter dir und deinen Freunden her putze", sagt sie so laut, dass Hamza, der wohl irgendwo im Flur steht, es mithören muss.
„Ist das dein Ernst?", bringe ich fassungslos hervor und kann nicht verhindern, dass mir der Mund wegen diesem Ausmaß an Unverschämtheit offen stehen bleibt. Sie schiebt ihre Alkoholsucht allen Ernstes auf mich, nur damit ihr schicker Freund nichts Schlechtes über sie denkt?
„Wehe, du sagst was dazu", zischt die Frau, ohne sich näher in meinem Zimmer umgesehen zu haben. Nur um sich mit einem Lächeln wieder umzudrehen und Hamza entgegenzuflöten, dass sie das Essen schon vorbereitet hätte. Wie zu sehr erhitztes Öl entflammt meine Wut in einer Stichflamme, von der ich nicht weiß, in wieweit ich sie heute noch kontrollieren kann. Mein Kiefer verspannt sich erneut und ich stehe auf, um den Kleidungshaufen in meinen Rucksack zu quetschen. Die kann mich mal.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein Schatten an meiner Zimmertür vorbeigeht, stehenbleibt und der große, braungebrannte Mann seinen Kopf in mein Zimmer steckt.
„Na Keno, alles klar?", fragt Hamza mit einem breiten Lächeln, was wohl irgendwie ansteckend sein sollte. Ich würdige ihn keines weiteren Blickes, doch der Mann lässt sich nicht beeindrucken, setzt sogar noch einen drauf und fängt an zu lachen. „Sieht hier ja aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Willst du ausziehen oder wie?"
Bei diesen Worten muss meine Mutter hellhörig geworden sein.
„Was machst du da?", schreit im nächsten Moment die weibliche Stimme mit einer Lautstärke, die man einem so kleinen Körper nicht zutrauen würde, während ich unter Anstrengungen versuche den Reisverschluss zuzuziehen. Sie hat das „Was zur Hölle" vergessen, aber schließlich steht ihr Freund neben ihr. Fast schon entgeistert blickt sie sich in meinem Zimmer um – vielleicht habe ich einige Klamotten bei der Auswahl auf den Boden befördert, aber eigentlich hat sie das auch nicht zu interessieren. „Bist du durchgedreht? Räum deine Sachen wieder rein!"
Am Arsch, denke ich, verkneife mir allerdings den Kommentar. Mit einem heftigen Ruck schaffe ich es den Rucksack zu schließen und drehe mich dann zur Tür. Meine Mutter steht zwischen den Türrahmen, hat Hamza wie es aussieht in den Flur verbannt und schaut mir mit einer solch wutentstellten Grimasse entgegen, die ich so nur in ihren schlimmsten – alkoholisierten – Phasen zu Gesicht bekomme. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.
„Was denkst du, was du hier tust?" Sie kommt einen Schritt auf mich zu und ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Inneres nicht nur vor Wut bebt. Bei dieser Frau kann man nie wissen, was als nächstes kommt. Ich bin mir sicher, dass meine Stimme zittern würde, würde ich etwas erwidern, also ziehe ich mir die Jeansjacke an, die ich immer anhabe und nehme den Rucksack in die Hand. „Leg deine Sachen zurück und komm in die Küche. Es gibt Essen."
Es klingt mehr wie eine Drohung als alles andere. Komm in die Küche. Es gibt Essen. Für eine Millisekunde will ich ihren Forderungen nachgeben, dann schließt sich mein Griff fester um den Rucksack.
„Nein", sage ich mit der bestimmtesten Stimme, die ich gerade aufwenden kann. Ihre Augen werden groß und ihre Schultern sacken ein kleines Stück nach unten. Fest entschlossen gehe ich auf sie zu und bevor ich in sie hineinlaufe, weicht sie zur Seite. Wow. Etwas in mir entspannt sich. Das ist das erste Mal, dass ich mich derartig durchsetzen kann, denke ich, als mich eine Hand mit eisernem Griff am Arm packt.
„Was glaubst du, wie ich dastehe, wenn du jetzt abhaust? Hast du mal daran gedacht, dass er uns ein besseres Leben ermöglichen kann?", zischt Mum leise. Ist das also ihre Intention, Hamza zu daten? Ekelhaft.
„Ist mir egal." Mit einem Ruck reiße ich mich los. Im Flur stürme ich am überraschten Hamza vorbei auf meine Schuhe zu. Jetzt muss es schnell gehen, sonst rastet die aus.
„Du undankbares Kind!", grellt im nächsten Moment der Schrei durch die Wohnung. „Wie kannst du so frech sein, wenn ich immer für dich gesorgt habe?"
„Am Arsch gesorgt", murmele ich, als ich in meinen zweiten Schuh schlüpfe und wage einen Seitenblick. Hamza schirmt mich von der Schreckschraube ab und hat ihre Hände sanft in seine genommen.
„Mei Schatz, bitte beruhige dich. Es gibt sicher zivilisiertere Wege, das zu klären", höre ich ihn brummen, doch vor diese Flut kann man keinen Riegel mehr schieben, das weiß ich genau. Ich reiße die Tür auf und sehe plötzlich die Hand meiner Mutter neben mir in die Höhe schnellen. Meine Muskeln verkrampfen sich und ich zucke so heftig zusammen, dass ich gehen die Tür pralle, doch der Schlag kommt nicht. Als ich aufsehe, schaue ich in tobende Augen, doch die Hand meiner Mutter hat sie selbst aufgehalten. Wegen Hamza. Sie kann mich jetzt nicht schlagen, das weiß sie genau. Dann hätte ich nämlich jeden Grund zur Polizei zu gehen und sie anzuzeigen – und dass sogar mit Zeuge.
Mit neuem Mut richte ich mich wieder auf. „Schlag mich doch."
Ihre dunklen Augenbrauen ziehen sich gefährlich zusammen. Sie kann nicht tun. „Keno, du widerlicher Scheißbengel. Wie kannst du es wagen, deine Mutter so zu behandeln?"
„Fick dich", spucke ich die Worte aus, die ich ihr schon immer mal an den Kopf werfen wollte. Ihre Augen weiten sich und sie macht einen Satz vorwärts. Schneller als ich denken kann, tragen mich meine Beine aus der Wohnung und ich haste die Stufen des Wohnblocks hinunter.
„Lass dich hier nie wieder blicken!", schreit Mum mir hinterher und dieses Mal ist mir ihr Wunsch aus aller tiefstem Herzen Befehl.
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