Kapitel 34 - Übergeschnappt
Tamo lag unruhig in seinem Bett. Sein Schädel hielt einfach nicht die Fresse und schien alle Szenarien auf einmal durchspielen zu wollen. Doch als er sich dann selbst, mit Flügeln durch einen brennenden Himmel fliegen sah, zog er sich die Decke über den Kopf und stöhnte auf. Es würde wohl nicht mehr lange dauern und er saß sabbernd in der Ecke. Vielleicht sollte er mal mit Alice reden, sie kann sicher berechnen, wie lange es noch dauern würde, bis zur geistigen Apokalypse. Und zu allem Überfluss tat jeder Zentimeter seines Körpers weh. Auf seiner Brust zeichnete sich langsam ein Hämatom ab und sein Kreuz würde morgen wahrscheinlich nicht besser aussehen. Er rieb sich unter der Decke versteckt über das Gesicht und seufzte. Er hatte noch so viele Fragen, die würden für drei Leben reichen, aber er hatte Alice die Müdigkeit angesehen und er wollte ihre Gutmütigkeit, die sie ausnahmsweise, an den Tag gelegt hatte, nicht unnötig strapazieren. Also hatte er es dabei belassen und auch sie waren zu Bett gegangen.
Und da lag er nun, in einem Haus voller Menschen, die Fähigkeiten besaßen, von denen er nicht mal geträumt hatte. Natürlich war es alles unvorstellbar und doch hatte er es mit eigenen Augen gesehen. Er hatte sogar Antworten bekommen, doch je mehr die Licht, in die Dunkelheit brachten, desto verwirrender wurde alles. Das Einzige, was er mittlerweile mit Sicherheit wusste, war, dass Skàdi hier der Dreh- und Angelpunkt um alles war. Sie war die Lösung zu all den Geschehnissen und sie war die, die ihn scheinbar am wenigsten mochte.
Konnte er es verstehen? Schon irgendwie. Er hatte scheinbar etwas aufgerissen, was gut vernäht gewesen war. Die Wut und den Hass, welche er auf Frauen die letzten Jahre geschürt hatte, waren verschwunden. Denn er war entstanden, weil seine Jugendliebe ihn verarscht hatte. Sie hatte ihn belogen, betrogen und zum Schluss ziemlich übel abserviert. Damals glaubte er, dass niemand seinen Schmerz, den er ertragen musste, verstehen konnte, und so klammerte er sich daran. Jahre verbrachte er damit, sein ganzes Verhalten auf dieses eine Erlebnis zu schieben. Es war die Begründung für alles, was er tat und jetzt. Jetzt kam es ihm so belanglos vor. Die Narben, die Skàdi, Milano und Alice mit sich trugen, waren verheilt. Oberflächlich. Doch genau unter dieser schienen sie noch zu bluten und wahrscheinlich würde sich an dieser Tatsache nie etwas ändern. Er hatte bei jeden von ihnen den Schmerz gesehen, welcher immer noch in ihnen lebte. Er hatte die Angst gesehen, die sie ertragen mussten und wenn er an die 100 Bücher dachte, wurde ihm sofort wieder übel.
Die Schmerzen, die er erleiden musste in seinem Leben, waren ein Witz. Belanglos. Nicht mal erwähnenswert im Gegensatz zu dem, was sie ertragen mussten. Er schämte sich schon fast für sein Verhalten und würde ab dem morgigen Tag versuchen, etwas daran zu ändern. Alle hier in diesem Haus hatten sich schützend vor ihn und sein Leben gestellt. Ohne ihn zu kennen. Ohne zu wissen, was es mit ihm auf sich hatte. Nun und wenn er so darüber nachdachte, hatte noch nie jemand so etwas für ihn getan. All seine Kumpels würden ihn wahrscheinlich für den nächstbesten, reicheren Typen verkaufen. Und warum? Weil sie alle in einer heilen Welt lebten. Gut beschützt von der Abartigkeit, die durch die Welt wandelte.
Neuer Zorn stieg in ihm auf. Zorn auf sich. Zorn auf diese Idioten, die er bis vor kurzem noch, als seine Freunde ansah. Sollte er das Ganze hier überleben, würde sich etwas ändern müssen, und zwar ganz dringend.
Mit diesem Gedanken fand er letztlich doch in den Schlaf und als er am nächsten Morgen wach wurde, sprang er auf, verschwand unter die Dusche und war bereit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Haus lag in einer gespenstischen Stille und dennoch genoss er sie. Die letzten Tage waren laut und nervös gewesen. Die Ruhe gerade fühlte sich so friedlich an, auch wenn er wusste, dass es wohl nur die Ruhe vor dem Sturm sein würde.
Er ging in die Küche, schaltete die Musikanlage ein und achtete darauf, dass sie nicht zu laut war. Tja und dann begann er, Frühstück zuzubereiten. Vertieft in die Musik und das Rühren der Eier bemerkte er nicht, dass Skàdi bereits in dem Raum stand und ihn beobachtete. Als er gerade die Pfanne von dem Herd nahm und dabei den Blick hob, schreckte er zusammen, als sein Blick auf Skàdi fiel.
Sie lächelte ihn an und hob die Hände.
»Ich komme in Frieden«, sagte sie leise.
Tamo sah sie mit aufgerissenen Augen an. Hatte sie gerade gelächelt. Nein. Sie lächelte sogar noch und was für ein Lächeln das war. Ein Lächeln, was zwar ihren Mund fest im Griff hatte, aber ihre Augen nicht im Ansatz erreichte. Ein Mensch, der lächelte, ohne wirklich zu lachen. Tamo fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, nichts zu fühlen und dabei bemerkte er die Ironie in diesem Satz. Er hatte sich mittlerweile zusammengereimt, dass etwas mit Skàdi und ihren Gefühlen nicht stimmen konnte, aber was sagte das über sie? Doch bevor er sich weiter in seinen eigenen Gedanken verstricken konnte, holte Skàdi ihn zurück.
»Alles okay, da oben?«, fragte sie und sah ihn komisch an.
Tamo nickte und schob die Pfanne beiseite.
»Ja ... alles okay ... habe mich nur erschrocken«, stammelte er.
Sie warf ihm einen letzten komischen Blick zu, ging an ihm vorbei und lief zu der Kaffeemaschine. Sie hatte die nette Geste von ihm wohl bemerkt. Er machte Frühstück, für alle. Während sie auf ihren Kaffee starrte, der langsam in die Tasse lief, räusperte sie sich.
»Riecht gut, was du das zusammen gerührt hast.«
Tamo legte die Stirn in Falten und sah sie an.
»Sollte ich dich lieber fragen, ob alles okay ist?«, fragte er, denn tatsächlich schickte diese Freundlichkeit ein sehr komisches Gefühl durch seinen Körper.
Skàdi nahm ihre Tasse und sah ihn irritiert an.
»Warum?«
Immer noch fassungslos stellte er die Teller auf den Tisch und zeigte mit einer Gabel auf Skàdi.
»Du bist nett. Das scheint nicht normal zu sein.«
Skàdi rollte genervt die Augen, was Tamo nicken ließ.
»Jap, das ist es, was man von dir erwartet, wenn du den Raum betrittst«, sagte er und musste schmunzeln, als er sah, wie sie die Augen erneut rollte und sich mit dem Mittelfinger über die Stirn rieb.
Tamo grinste und auch Skàdi, ihr Mund grinste erneut.
»Kippe?«, fragte sie ihn und sah zu Tamo, der zwar erneut vom Glauben abzufallen schien, aber nickte.
Zusammen gingen sie auf die Terrasse und nachdem sie sich beide eine Zigarette angezündet hatten, sah Tamo zu Skàdi. Wurde Zeit für sein Vorhaben.
»Tut mir leid, dass ich für so viel Ärger gesorgt habe. Ich meine, ich weiß zwar immer noch nicht wie und warum. Aber es ist offensichtlich, dass ich eurer Leben gerade aus den Bahnen geworfen habe, und das wollte ich nicht.«
Skàdi schwieg einen Moment und sah ihn dann an.
»Passt schon, du kannst ja eigentlich nicht wirklich was dafür.«
Tamo haute es fast die letzte Sicherung raus. Was war los mit ihr? Seine Verwunderung konnte er nicht verbergen und natürlich viel das Ganze auch Skàdi auf. Sie schüttelte den Kopf, als sie seinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah.
»Arsch. Ja, ich kann nett, wenn ich will und ja, ich will es fast nie. Denn Menschen haben es nicht verdient, dass man nett zu ihnen ist.«
Tamo nickte, denn nach allem, was er erfahren hatte, konnte er sie mehr als verstehen, dass sie keinen Wert mehr auf jemanden anderen außer sich selbst legte. Er fragte sich dennoch, wo der Sinneswandel herkam. Das Gespräch mit Duke schien etwas verändert zu haben. Apropos Duke. Tamo sah sie an.
»Lebt Duke noch?«, fragte er und sah sie hoffnungsvoll an.
»Tut er, aber wir haben ein echtes Problem«, sagte sie und wieder runzelte Tamo die Stirn und sah fragend zu Skàdi.
Sie nahm einen Schluck ihres Kaffees und fing an, Tamo alles zu erzählen. Nachdem sie geendet hatte, saß Tamo neben ihr, starrte in die Leere und wirkte, als wäre er von einem Zug überrollt worden. Er setzte mehrfach an, stoppte aber wieder, bis er letztlich doch einen Satz zusammen bekam.
»Also habe ich meine Eltern wirklich nicht getötet?«, fragte er nach.
Sie nickte nur und ein riesiger Felsen fiel ihm von der Brust. Er hatte wahrscheinlich zwar auch noch nicht wirklich realisiert, dass sie tot waren, aber er war zumindest kein Mörder. Er legte sein Kinn auf seinen Fingern ab und atmete tief ein.
»Also muss es irgendeine Verbindung zwischen uns geben?«, fragte er.
»Ja und ich habe keine Ahnung, welche das sein soll«, gab sie zu.
Und so versanken sie und gingen Stück für Stück alles durch. Wo sie geboren waren, wo sie gelebt hatten, wo sie auf der Schule waren. Lieblingsbars, Kneipen, Freunde, Supermärkte und so weiter. Und sie kamen zu dem Entschluss, dass sie sich noch nie in ihren Leben über den Weg gelaufen sein konnten.
Tamo rieb sich genervt über das Gesicht und stöhnte.
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
Skàdi sah genauso frustriert aus, wie Tamo sich anhörte, denn sie hatte wirklich die Hoffnung gehabt, dass Tamo vielleicht etwas wusste, was sie vergessen haben konnte, aber nichts.
Rein gar nichts.
So schwiegen sie eine Weile und durchwühlten ihre Erinnerungen, als langsam Leben in die Bude kam. Einer nach dem anderen war aus seinem Schönheitsschlaf erwacht und so saßen sie bald alle an dem Tisch und frühstückten gemeinsam. Tamo ließ seinen Blick schweifen und irgendwie, war es ein seltsames Bild. So alle an dem Tisch. Gemeinsam ohne das sich irgendwer anmaulte.
Nachdem sie alle fertig waren und gemeinsam auf der Terrasse standen, war es Milano, der in die Runde sah.
»Also, wie geht es weiter?«
Skàdi gab allen eine kurze Zusammenfassung und sah dann wieder zu Milano.
»Wir müssen also dringend herausfinden, was Tamo und mich verbindet«, sagte sie.
»Er will dich also echt töten«, sagte Alice kopfschüttelnd.
»Es scheint so«, erwiderte Skàdi.
»Arschloch. Elendiges«, murmelte Alice vor sich hin.
»Wie schaut es denn aus, bekommst du es heute vielleicht hin, deine Glasscherben wegzuräumen?«, fragte Skàdi und sah dabei zu Tamo.
Sein Blick ging zu dem zerbrochenen Tisch und nein, da hatte er ja mal gar kein Bock drauf, aber er wusste, dass er wohl nicht aus dieser Nummer rauskommen würde. Also nickte er. Milano sah ihn an und zwinkerte ihm zu.
»Ich helfe dir«, sagte er und Skàdi sah ihn an.
»Sehr gut und bei der Gelegenheit, kannst du dich direkt mal um eine neue Scheibe kümmern«, sagte sie frech grinsend.
Milano rollte die Augen, nickte dann aber und schon verschwanden er und Tamo. Silas sah den beiden mit offenem Mund nach.
»Okay. Was ist hier los? Stehen die Planeten komisch? Milano war gerade hilfsbereit«, sagte er fassungslos.
Skàdi lachte auf und zuckte dann mit den Schultern.
»Unser Ende steht vor der Tür, vielleicht versucht er noch was für sein Karma Konto zu tun«, sagte sie und verschwand ebenfalls ins Haus.
Sie lief gerade an Tamo und Milano vorbei, welche die Scherben mühselig zusammen sammelten, als ihr plötzlich etwas in ihrer Fußsohle stach. Sie stöhnte auf.
»Was für eine verfluchte Scheiße!«
Sie hob ihren Fuß und sah den kleinen Glassplitter darin stecken. Sie stöhnte und ließ sich auf die Couch fallen, als Tamo schon vor ihr hockte und sie anlächelte.
»Komm her. Ich ziehe ihn«, sagte er und griff nach ihrem Fuß.
Widerwillig ließ sie es zu und als er den Splitter herausgezogen hatte, hielt er ihr das kaum sichtbare Fragment vor die Nase.
»Danke«, sagte sie.
Tamo nickte, aber als er sie anlächelte und so von unten herab ansah, blitzte es vor ihrem inneren Auge. Erinnerungsfetzen kamen in ihr zum Vorschein. Dieses Lächeln. Diese Augen. Sie wurde weiß und ihr Puls schoss in die Höhe. Tamo und Milano sahen sie merkwürdig an.
»Skàdi?«, sprach er sie an und lehnte sich zu ihr.
Auch Duke, Silas und Alice bekamen mit, dass etwas nicht stimmte, und kamen sofort ins Haus gerannt. Alice ging ebenfalls vor Skàdi in die Knie und sah sie an. Diese starrte völlig abwesend vor sich hin. Ihr Mund bewegte sich und sie schien tonlos vor sich hinzumurmeln.
»Skàdi? Alles okay?«, fragte sie besorgt.
Silas runzelte die Stirn.
»Ist sie jetzt endlich übergeschnappt?«, fragte er und fing sich sofort einen bösen Blick von Alice ein.
»Skàdi? Komm schon«, sagte Alice erneut und legte ihre Hände auf ihre Arme.
Endlich fixierte Skàdi ihren Blick wieder und sah Alice an. Aber nur für einen kurzen Moment, denn ihr Kopf drehte sich weiter zu Tamo. Sie schluckte und mit zittriger Stimme fing sie an zu sprechen.
»Nein, nichts ist okay. Ich weiß, jetzt, was die Verbindung zwischen uns ist. Ich weiß, wann wir uns schon mal begegnet sind.«
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