Kapitel 29 - Nimm es weg
Tamo saß auf der Couch und mit jeder Zeile, die er mehr las, wurde der Drang, das Buch einfach zur Seite zu werfen, und aus dem Fenster zu springen immer größer.
Was zur Hölle war das? Wer war dieser Typ? Was suchte er und warum benötigte er dazu Menschen?
Genau zehn Seiten schaffte er noch, bis Skàdi recht behalten sollte. Er warf das Buch zur Seite, sprang auf und rannte in sein Bad. Er konnte seinen Würgereiz nicht mehr unterdrücken und als er endlich an dem Klo ankam, kotzte er sich die Seele aus dem Leib. Nachdem sein Magen leer war, ließ er sich nach hinten fallen und versuchte sich zu beruhigen.
Was hatte das alles mit ihm zu tun? Wie konnte er in so eine Scheiße hineingezogen werden?
Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Wieder tauchten seine Eltern vor ihm auf. Am Boden liegend in ihrem eignen Blut. Tot. Aber alles war so unscharf. Die Bilder ergaben keinen Sinn.
Was war geschehen, nachdem diese Blonde ihm die Spritze gesetzt hatte? Warum war er im Haus seiner Eltern gelandet?
Er stöhnte auf und rieb sich über das Gesicht. Langsam stand er auf. Der Tag war zu heftig und nur eins konnte ihm noch helfen. Alkohol.
Er putzte sich die Zähne und machte sich auf den Weg nach unten. Alice und Milano saßen immer noch auf der Terrasse. Silas war verschwunden und von Skàdi fehlte, wie eigentlich immer, jede Spur. Ohne Umschweife ging er zu den beiden, schnappte sich die Flasche Tequila und setzte sie an.
»Alter, das ist meiner«, fauchte Alice ihn mit fassungslosem Gesichtsausdruck an.
Er schnaubte nur, stellte die leere Flasche auf den Tisch und holte sich Nachschub aus der Küche. Milano beobachtete ihn und schüttelte nur den Kopf, als Tamo sich mit einer neuen Tequila-Flasche neben ihn fallen ließ.
Milano sah ihn fragend an.
»Hat sie dir so zugesetzt?«
Tamo lachte kalt auf und sah sie böse an.
»Fickt euch, am besten alle.«
Alice legte den Kopf schief und konnte sich ihr Grinsen nicht verkneifen.
»Orr, schau. Skàdi färbt schon auf ihn ab«, sagte sie.
Tamo knurrte nur und setzte wieder die Flasche an. Doch Milano schien das Ganze irgendwie nicht zu gefallen. Er griff nach der Flasche und nahm sie Tamo ab. Der funkelte ihn nur böse an.
»Gib mir die beschissene Bulle wieder, du Penner«, brüllte Tamo und fuchtelte nach der Flasche.
Milano spannte sich an und seinen Augen fingen leicht an zu glühen, was Tamo aber nur zum Aufstöhnen brachte.
»Ach komm schon, das macht mir keine Angst mehr. Töte mich oder hör auf mit der Kacke. Langsam wir es lächerlich.«
Auf Milanos Stirn bildete sich eine tiefe Zornesfalte und Alice pikste Tamo in die Rippe. Der fuhr herum und sah sie entsetzt an.
»Was soll das denn jetzt?«, fragte er garstig.
Alice zog ihre Brauen zusammen.
»Wollt nur sichergehen, dass du es bist. Was zum Teufel ist los mit dir?«
Tamo sah ihr direkt in die Augen und stöhnte.
»Sie hat mir die Bücher gezeigt und gesagt, ich soll sie lesen, wenn ich Antworten will.«
Alice biss sich auf die Lippe und Milano reichte ihm direkt wieder die Flasche.
»Na, wie weit bist du gekommen, bis du über dem Scheißhaus gehangen hast?«, fragte Milano.
Tamo ließ sich nach hinten fallen und seufzte.
»Seite fünfzehn, aber was bitte ist das für eine kranke Scheiße?«, fragte Tamo und rieb sich durch die Haare.
»Ah, er hat bei der Stelle, wo dem Objekt 1 die Nägel gezogen wurden, abgebrochen«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an.
Milano nickte und Tamo zog sich direkt wieder der Magen zusammen. Ja, genau das war die Stelle, an der er das Buch weggeworfen hatte. Fassungslos sah er die beiden an, als würden sie ihr über etwas Belangloses reden. Doch das war es nicht, in diesem fucking Buch wurde beschrieben, wie ein Mensch gequält wurde, und das sehr bildhaft.
Na ja und als Alice dann noch nach einer Chipstüte griff, war es aus. Tamo sprang auf und funkelte sie böse an.
»Was stimmt nicht mit euch? Wie könnt ihr das einfach so locker hinnehmen? Ihr seid doch nicht mehr ganz dicht!«
Alice rollte mit den Augen und stopfte die nächsten Chips in ihren Mund. Milano jedoch schien das Ganze mehr anzupissen, denn er stand auf und packte Tamo am Kragen.
»Wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, ist ja wohl unser Problem, nicht deins, oder?«, zischte er ihm dunkel entgegen.
Er stieß Tamo zurück, sodass er auf der Bank hinter sich einschlug.
Unsere Vergangenheit?
Tamos Gedanken rasten. 100 Bücher. Jeder Gast bekommt ein Buch und als er es verstand, stockte ihm der Atem. Er richtete sich auf und sah die beiden voller Mitleid an.
»Ihr ... ich meine ...«, stotterte er, aber bekam keinen klaren Satz zusammen.
Milano, der sich wieder neben Alice gesetzt hatte, nickte.
»Buch 99«, sagte er.
Tamo schluckte und sah zu Alice.
»Buch 100«, erwiderte sie schulterzuckend.
Sofort fiel sein Blick auf die Narben und ohne dass er was sagen musste, bekam er die Antwort.
»Ja, du hast den richtigen Schluss gezogen, die Narben stammen aus dieser Zeit«, erwiderte Milano.
Er musterte die Arme der beiden, die Narben waren unterschiedlich groß und lang. Es waren nicht wenige, aber auch lange nicht so viele, wie bei Skàdi. Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz. Er riss die Augen auf und sah Milano an.
»Skàdi«, kam es ihm über die Lippen.
Milano nickte und das erste Mal schwang so etwas wie Mitleid in seinem Blick.
»Buch 50«, sagte er leise.
Tamo wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. Er hatte nur wenige Seiten des Buches gelesen und es hatte ihm schon den Rest gegeben. Was mussten sie alles erlitten haben. Seine Kehle zog sich zusammen und er musste die nächsten Worte förmlich erzwingen.
»Wie ... wie lange wart ihr dort?«, fragte er und war sich nicht sicher, ob er die Antworten überhaupt haben wollte.
Milano sah zu Alice, die nur mit den Augen rollte.
»Was soll's, er wird eh alles erfahren. Scheinbar steckt er ja mittendrin«, sagte sie.
Milano atmete tief ein.
»Ich war acht Wochen dort.«
Tamo nickte und sah zu Alice.
»Drei Wochen«, sagte Alice und er sah, wie ihr der Schmerz in die Augen stieg.
Er sah die beiden an und war sich nicht sicher, ob er Antwort bekommen würde, aber er musste es versuchen.
»Und Skàdi?«
Milano und Alice sahen ihn schweigend an und plötzlich knallte es hinter ihm. Er schellte herum und sah in Skàdis grüne Augen, die ihm entgegen funkelten. Neben ihr stand Silas und zu seinen Füßen lag ein Typ, der den Boden mit seinem Blut einsaute.
Tamo hatte nicht mal bemerkt, dass sie sich genähert hatte.
Sie räusperte sich, ging an allen vorbei und griff nach der Flasche Tequila. Nachdem sie einen großen Schluck genommen hatte, sah sie wieder zu Tamo. Ihre Augen waren müde aber dennoch voller Kälte. Sie ließ sich neben Milano auf die Couch fallen und sah dann zu Tamo.
»365 Tage.«
Tamo klappte der Kinnladen auf. Hatte sie da gerade 365 Tage gesagt? Ein verdammtes Jahr? Bei diesem Irren? Ein abscheuliches Kribbeln zog sich durch seinen Körper und der bloße Gedanke daran, was sie erlebt haben musste, ließ ihm wieder Übelkeit aufsteigen. Aber so hart es auch war, die Wahrheit zu kennen, es ließ das Bild um sie klarer werden.
Silas war über den Typen, der immer noch auf dem Boden lag, gestiegen und setzte sich zu den anderen. Milano legte die Beine auf dem Tisch ab und nahm sich die Tüte mit Chips. Nur Alice drehte den Kopf und musterte das blutende Etwas am Boden. Sie verzog das Gesicht und beobachtete das Blut.
»Sag mal, lebt es noch?«, fragte sie und sah zu Skàdi.
Die zuckte nur mit den Schultern. Alice sah zurück auf den Fußboden, nahm sich ein neues Bier und legte die Beine ebenfalls auf den Tisch.
»Na wie auch immer, aber die Blutflecken bekommen wir wieder monatelang nicht weg«, raunte Alice.
Tamo sah sie fragend an. Das klang, als wäre es schön öfter vorgekommen. Doch Alice ignorierte seinen Blick und sah zu Skàdi. Diese schnaubte, nahm ihr das Bier weg und sah sie giftig an.
»Und das interessiert jetzt hier, wen? Die Scherben von meinen zerstörten Glastischen, liegen ja auch noch rum, wie am ersten Tag.«
Ihr Blick ging zu Tamo, der direkt den Kopf senkte. Ja, mittlerweile hatte er zwei Tische auf dem Gewissen. Milano lachte vor sich hin und sah dann zu Silas, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und mit geschlossenen Augen einfach nur da saß.
»Wer ist das?«, fragte Milano die beiden.
Skàdi gähnte. Silas stöhnte und Milano schnaubte genervt.
»Fragen benötigen für gewöhnlich Antworten«, erklärte Milano genervt.
Tamo sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und lachte.
»Ja sicher, vor allem hier in der Runde«, raunte er, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
Erstaunlich, wie schnell die allgemeine Gleichgültigkeit der Situation auch ihn erfasst hatte.
»Duke«, hallte es plötzlich von Silas.
Milano und Alice erfassten sofort den leblosen Körper. Alice sprang auf und rannte zu ihm. Sie drehte ihn auf den Rücken und fühlte seinen Puls. Schwach, aber vorhanden.
»Er lebt. Was soll die Scheiße, rette ihn, Skàdi!«, fauchte sie.
Silas schnaubte und schüttelte den Kopf.
»Vergiss es, die Diskussion hatte ich dem Rückweg.«
»Was soll das? Du hast ihn doch gesucht und jetzt lässt du ihn hier verrecken?«, mischte sich Milano ein, während Alice Verbandmaterial holte.
Skàdi grinste ihn nur kalt an.
»Rette ihn. Mir egal, aber heilen und von seinen Schmerzen erlösen, werde ich diesen Bastard nicht.«
Milano schüttelte ungläubig den Kopf und ging zu Alice. Sie hatte bereits damit begonnen, die Wunde abzupressen, um irgendwie die Blutung zu stillen. Milano sah wieder zu Silas.
»Was ist passiert? Hat er noch was gesagt?«
Silas drehte sich zu den beiden und schüttelte den Kopf.
»Er war mit einem Ast in der Schulter an einen Baum gepinnt. Denke, er ist in Skàdis Druckwelle geraten und nein, kein Ton. Er war schon so durch, als wir ihn gefunden haben.«
Tamo setzte sich auf und sah für einen Moment den beiden zu, dann sah er zu Skàdi und schließlich wieder zurück zu Milano und Alice. Er suchte nach dem Namen Duke und als es ihm kam, riss er die Augen auf und sah fassungslos um sich.
»Wartet mal, das ist einer dieser Typen. Aus dem Buch«, stammelte Tamo.
Er zeigte wild mit dem Finger wedelnd in Richtung Duke. Skadi hob den Blick und grinste Tamo an.
»Wie weit bist du gekommen?«, fragte sie.
Tamo sah sie mit irritiertem Gesichtsausdruck an.
»Was?«
Sie rollte genervt die Augen.
»Buch. Wie viele Seiten?«, wiederholte sie sich.
Er schüttelte den Kopf.
»Fünfzehn ... aber«, Skàdi unterbrach in.
»Ah ... Ja ... die gezogenen Nägel ...«, sagte sie seufzend.
Tamo schnaubte schon vor Wut.
»Ja ... Ja ... Fingernägel, die von einem Verrückten einem armen Obdachlosen gezogen wurden. Hätte in keinen Horrorfilm detaillierter beschrieben werden können«, wieder zeigte er auf Duke.
»Aber habe ich es jetzt richtig verstanden, dass der da, dessen rechte Hand ist ... wahr ... oder wie auch immer?«, fragte er.
Skàdi setzte gerade wieder die Tequila-Flasche an und nickte.
»Richtig erkannt, Sherlock.«
Tamo nickte und man sah, wie er scheinbar langsam den Verstand verlor.
Er drehte sich zu Alice und Milano. Die beiden kleben mittlerweile voller Blut und hatten Duke schon das Shirt vom Körper gerissen, um besser an die Wunde zu kommen.
Tamo rieb sich über die Stirn.
»Okay, könnt ihr mir dann bitte erklären, warum, zum Teufel, ihr gerade versucht sein Leben zu retten?«
Milano, der gerade eine vollgesaugte Kompresse zur Seite warf, sah zu Tamo auf und knurrte.
»Frag lieber, warum Skàdi ihn nicht retten will«, raunte er zurück.
Tamo sah ihn an.
»Was? NEIN, VERFLUCHT. ICH HABE EURE SCHEIßE SATT«, brüllte Tamo los.
Milano knurrte, wodurch er von der Wunde rutschte und wieder neues Blut aus ihr quoll.
»Willst du mich verarschen? Halt jetzt deine Pfoten still«, knurrte ihn Alice an.
Voller Wut rückte Alice seine Hände wieder an die richtige Stelle und machte sich weiter an die Versorgung seiner Wunde.
Tamo bebte vor Wut. Was Skàdi nicht beeindruckte, sondern direkt wieder die Flasche ansetzen ließ. Silas sah zu Tamo.
»Es ist kompliziert. Ja, eigentlich gehört Duke zu den Bösen, aber er hat den Dreien bei der Flucht geholfen und sie nachträglich mit Informationen versorgt, was ihn dann ja irgendwie auch wieder zu den Guten gehören lässt«, erklärte Silas ihm.
Okay, das war logisch. Nein, eigentlich nicht, aber Logik gab es in Tamos Welt ja nun schon seit Tagen, Wochen ... zur Hölle, wie lange war er eigentlich schon hier ... nicht mehr.
Tamo versuchte sich und vor allem seine Gedanken zu sammeln. Er raufte, sich durch die Haare und stand auf. Er lief auf der Terrasse auf und ab, bis er plötzlich stehen blieb und Skàdi ansah.
»Okay ... was will er hier?«
Sie lachte auf.
»Frag ihn doch am besten.«
Tamo sah zu ihr und äffte sie nach, was dazu führte, dass ihre Augen sofort zu schmalen Schlitzen wurden.
»Mach das noch mal«, forderte sie ihn auf.
Doch Tamo winkte ab, denn sie machte ihm jetzt gerade mal keine Angst.
»Leck mich. Sag uns lieber, warum du ihm nicht hilfst, wenn keiner weiß, was er hier will. Wäre es dann nicht sinnvoller, ihn zu retten, um ihn zu befragen?«
Alice sah zu ihm und nickte.
»Danke, ganz meine Meinung«, sagte sie, während sie immer noch auf die blutende Wunde drückte.
Duke wurde immer schwächer und er würde wohl nicht mehr lange durchhalten. Milano sah zu Skàdi, so wie auch der Rest. Alle Blicke lagen auf ihr, doch sie tat nichts, außer Schluck, um Schluck die Flasche zu leeren.
Alice kannte Skàdi und das ziemlich gut, aber das Verhalten von eben war selbst für sie unerklärlich. Sie hatte ihn noch vor wenigen Tagen gesucht und jetzt war er hier und sie, stellte sich an wie ein bockiges Kind. Was war hier los? Sie ließ von Duke ab. Sie würden es sowieso nicht schaffen, ihn zu retten. Nur Skàdi konnte ihm noch helfen.
»Was soll das? Was ist passiert? Erst suchst du ihn. Bringst einen Priester um und jetzt? Was zur Hölle hat sich verändert?«, fragte Alice schon fast flehend.
Skàdis Mundwinkel zuckte und etwas Dunkles breitete sich in ihren Augen aus. Wieder war da diese Kälte zu spüren, die von ihr aus ging. Alle hoben die Köpfe. Skàdi war also sauer und das so richtig. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Langsam ließ Skàdi ihre Hand in ihre Hosentasche gleiten und zog einen kleinen Gegenstand heraus und hielt in die Luft.
Alice und Milano wich sofort die Farbe aus den Gesichtern. Panisch stolperten sie zurück, um Abstand zwischen sich und den Gegenstand in Skàdis Hand zu bringen.
Diese legte den Kopf schief und grinste die beiden kalt an.
»Ja genau und jetzt sagt mir, was hatte er wohl damit vor?«
Alice schluckte und Tamo sah, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Milano, der scheinbar selbst vor lauter Angst nicht atmen konnte, griff nach Alice und zog sie schützend in seine Arme. Milanos ganzer Körper bebte und sein Kiefer zuckte. Flehend sah er zu Skàdi.
»Bitte, nimm es weg von uns.«
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