10. Mariam


Das Mädchen, das sich als Mariam herausstellte, schien mir sympathisch. Sie erzählte mir, dass ihre Schwester das tote Mädchen war. Es brach mir das Herz, als ich daran dachte. Wie konnte Lucca so etwas nur tun?

Ich hoffte sehr, dass er eine Erklärung dafür hatte. Und wo der Typ so plötzlich verschwunden war, hätte ich auch gerne gewusst. Nach einer Weile schlief das kleine Mädchen mit dem Kopf auf meinem Schoß ein. Sie war wunderschön.

Vorsichtig versuchte ich, Mariam von meinem Schoß zu heben. Es gelang mir. Ich öffnete die Autotür und lief umher.

Der frische Wind wehte durch mein Haar, und für einen kurzen Moment war alles von angenehmer Stille umgeben. Keine quälenden Gedanken... Kein Lucca, der mich nervte.

"Scheiße, ich hasse Brennnesseln."

Eine tiefe Stimme durchbrach die Dunkelheit, und die Stille verschwand schneller als erhofft. Ob ich froh sein sollte, dass er endlich da war, wusste ich selbst nicht.

Kein Ton kam aus meinem Mund. Mein Herz raste. Die Sache mit Mariam und ihrer Schwester machte mir wieder klar, dass ich ständig mit einem Mörder unterwegs war.

"May, hast du kaltes Wasser?"

Wieder Stille.

Das leise Zirpen der Grillen war das Einzige, was zu hören war. Fassungslos starrte ich Lucca an. Er tat so, als wäre nie etwas passiert. Er schien völlig gleichgültig gegenüber dem, was er Mariams Schwester angetan hatte. Fassungslos starrte ich ihn an, sammelte meinen Kopf und sagte dann völlig emotionslos:

"Du kannst dich ja anpinkeln. Dann verschwindet es."

Ich war in diesem Moment selbst überfordert von dem, was ich sagte. Eigentlich sollte ich vor Angst davonlaufen, so weit wie möglich... nun ja, eigentlich.

"Außerdem hast du momentan nicht andere Probleme, als nh' scheiß Brennnessel?"

Verwirrt sah er mich an.

"Also mit dem Auto ist es so eine Sache. Ich habe vergessen, es vollzutank-."

"Hier geht es nicht um dein verfluchtes Auto! Warum hast du einfach so ein Mädchen umgebracht?"

"Wen soll ich umgebracht haben?"

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Das konnte er doch nicht ernst meinen. "Das Mädchen... im Wald? Klingelt es?" Meine Geduld drohte zu explodieren.

Verwirrt starrte er mich an.

"Kenne kein Mädchen im Wald", war seine einzige Antwort.

Das konnte er doch nicht ernst meinen!

Ohne ein weiteres Wort ging er zurück zu seinem Auto. Es dauerte nicht lange, bis die Stille wieder von seiner Stimme durchbrochen wurde.

"Warum ist dieses Brünette in meinem Auto?!"

Seine Stimme klang wütend, aggressiv. Sie hallte durch den Wald. Wenn es dort einen Clown gäbe, hätte er uns bestimmt schon entdeckt.

Mit schnellen Schritten ging er auf mich zu.

"Ich will eine Erklärung, jetzt!"

Wow, der Eisblock hatte also auch andere Gefühle.

"Hörst du mir überhaupt zu, Lucca?" Seinen Namen sprach ich mit Spott aus. "Das ist die Schwester des Mädchens, das du umgebracht hast!"

"Dio Mio. Hast du mir überhaupt zugehört? Ich habe diese Mädchen nicht umgebracht!" [Oh mein Gott, Fassungslosigkeit]

"Wer denn dann, huh?"

"Das Kind wird nicht mitfahren. Es kann hier sterben, mir egal", sagte er etwas ruhiger und ging wieder einmal nicht auf meine Frage ein. Dieser Eisblock dachte wohl, er hätte es nicht nötig.

"Das kannst du nicht machen, Lucca! Das arme Mädchen hat ihre Schwester verloren." Meine Verzweiflung war offensichtlich.

"Ja, und? Ich habe auch schon einige verloren. Glaubst du, das hat jemanden interessiert?"

Ich hätte gerne gewusst, was ihm passiert war. Schließlich wurde er nicht grundlos zum Mörder.

"Wenn du weißt, wie es sich anfühlt, warum gibst du ihr dann dasselbe Schicksal?! Komm schon, Lucca."

Er starrte mir in die Augen. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, und ich fühlte mich wie gelähmt.

"Bitte?", fragte ich so lieb es ging und er schien zu überlegen.

"Du kümmerst dich um das Biest! Ich will nicht ungewollt frühzeitig Vater werden."

Ich begann zu lächeln.
"Oh mein Gott!"

Ich jubelte.
"Ja!"

Und umarmte ihn...
"Dankeschön."

Er verkrampfte bei der Berührung und blieb starr stehen. Mag der kalte Lucca etwa keine Berührungen? Mein Lächeln wurde breiter.

"Fertig?" Kalt und präsent. So, wie man ihn kannte.

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Die Sonne strahlte mir ins Gesicht. Alles, was in der Nacht so beängstigend und gleichzeitig elegant ausgesehen hatte, wurde jetzt von den Sonnenstrahlen geweckt. Mariam und ich hatten es uns so bequem wie möglich im Auto gemacht.

Nackenschmerzen? Definitiv.

Lucca meinte, ich solle den Mund halten und mich um mich selbst kümmern, statt zu fragen, wo er die Nacht verbringen würde. Mir war es recht. Soll er verrecken, dachte ich in diesem Moment.

Er erklärte auch, dass er vergessen hatte, das Auto zu betanken. Was für ein Idiot.

Anscheinend würden wir eine Weile hier bleiben müssen. Ein wenig Strom hatten wir im Auto, aber im Grunde war es ein reines Überleben, was in den nächsten Tagen auf uns wartete.

Nennt mich verrückt, aber mir gefiel es - das Überleben in der Wildnis. Das hatte mir schon immer gefallen... Auch wenn nicht unbedingt mit einem Mörder.

Oft war ich mit meinem Papa campen gegangen. Gute Zeiten. Bis sie vorbei waren und sie sich trennten. Der Grund? Meine Mutter.

Sie war von der Sucht nach Macht und Geld, die er ihr immer gegeben hatte, besessen. Leider wurde ich nach der Trennung bei meiner Mutter gelassen, statt zu meinem Papa zu gehen. Sie war schon immer gut darin, sich als Opfer darzustellen.

Ich fühlte nichts mehr, als Leere und Einsamkeit. Der Nebel des Frustest umhüllte mich und ich fiel in ein riesen Loch.

Ein schlimmes Jahr, aber das Leben geht weiter.

In Gedanken versunken schlich ich leise aus dem Auto und suchte den Eisblock. Ich brauchte nicht allzulange und fand ihn.

Er war an einem kleinen Fluss und wusch sich sein T-Shirt. Es wurde anscheinend dreckig bei seiner Erkundungstour im Wald... Lustig, dass er sich dort nicht verlaufen hatte. Zutrauen könnte ich es ihm.

Also gut gebaut ist er! Und seine Oberarme... Wow. So gut trainiert.

May, hör auf an sowas zu denken!

Ich erkannte eine große Narbe am Rücken. Also mysteriös war er definitiv, das musste man ihm lassen. Nicht nur im Gesicht eine Narbe, sondern auch am Rücken... Attraktiv und so geheimnisvoll.

"Ist da jemand verliebt?"

Ich erschrak. Eine zierliche Stimme kam zum Vorschein. Definitiv die von Mariam.

"Man muss einen Anderen nicht direkt lieben, nur weil man ihn ansieh-" Wollte ich erklären, doch sie unterbrach mich.

"Ja, ja, ja. Ein Ehepaar, dass seh ich doch!"

Klein, süß und unerfahren... Das war sie, das kleine Mädchen aus dem Wald. Sie würde niemals jemanden weh tun... So wie Lucca.

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