Kapitel 3 - Ignoranz
Maren drückte seufzend die Tür hinter sich ins Schloss und atmete tief durch. Geschafft, dachte sie sich und ließ ihren Beutel auf den Boden fallen. Es war kurz nach 18 Uhr. Eigentlich war Maren um diese Uhrzeit schon zwei Stunden zu Hause, aber heute lief halt nichts wie geplant. Grand sollte recht behalten, Kunden waren im LoveStone heute nicht zu finden. Einige wenige kamen für ein heißes Getränk vorbei, aber lange nicht genug, um Maren vor dem Weihnachtsgrauen der Stones zu bewahren. Aus dem einen Karton Weihnachtsmüll wurden letztlich fünf und einer war größer als der andere. Darius kam pünktlich um zwölf und brachte einen riesigen Weihnachtsbaum. Marens flehenden Blick vernahm er und schenkte ihr ein breites Grinsen als Antwort. Was hatte sie auch erwartet? Er liebte Weihnachten, ebenso sehr, wie Ruby und Grand. Darius arbeitete als Aushilfe bei den Jones und so hatten sich die beiden kennengelernt. Es dauerte nur wenige Wochen und die beiden wurden beinahe unzertrennlich. Sie teilten viele Gemeinsamkeiten, na ja, eigentlich alle bis auf Darius Faszination für Weihnachten. Auch er quälte sie mit Weihnachtsmarktbesuchen, Shoppingtrips und der unendlichen Vielfalt von Weihnachtsliedern. Darius stellte den Weihnachtsbaum auf, suchte gemeinsam mit Grand und Ruby die perfekte Position und verschwand dann, so schnell ihn seine dünnen Beine trugen, bevor Maren sich ihn schnappen konnte. Er hätte sie vorwarnen können, dass Grand diesen Dekorationsanschlag auf sie vorhatte. Aber sei es drum. Sie hatte es hinter sich gebracht, auch wenn sie bereits am ersten Tag die Schnauze von „Last Christmas" voll hatte und das, obwohl es noch 23 Tage laufen würde. Auf der anderen Seite war es irgendwie süß zusehen, wie Grand und Ruby durch das nun glitzernde Café tanzten und dabei ihre unendliche Liebe versprühten. Maren streckte ihren Nacken, der sich im Laufe des Tages wieder zu einer festen, starren Masse verwandelt hatte, und streifte den dicken Wollmantel ab. Ruby hatte darauf bestanden, dass sie nicht wieder, wie im Frühjahr, bekleidet durch den Schneesturm lief, der mittlerweile in Hexham tobte. Also hatte sie ihren Dachboden durchwühlt und kam mit diesem Oldtimer aus Wolle wieder. Die Diskussion, dass sie diesen nicht benötigen würde, hatte sie sich direkt gespart und ihn dankend entgegengenommen. Und wenn sie ehrlich war, dieses braune Stück Stoff, hatte seinen Zweck mehr als erfüllt. „Babys?", raunte Maren durch den Flur und sofort war das Tippeln kleiner Pfötchen, welche über den alten Holzboden flitzten, zu hören. Erna und Bernd kamen auf sie zu gerannt, sprangen ihr ans Bein und hangelten sich nach oben. Lächelnd packte Maren die beiden und drückte ihnen nacheinander einen Kuss in ihr flauschiges Fell. „Hab euch auch vermisst."Sie setzte die beiden auf ihre Schultern und sie krallten sich fest, wie kleine Papageien es tun würden. Maren schob den Beutel, welcher vor ihren Füßen lag, beiseite, bevor sie noch darüber stolpern würde, und lief in die Küche. Erna und Bernd fiepten ihr freudig in die Ohren, denn als Erstes stand die Fütterung der beiden Scheißer an. Nachdem Maren das Fleisch aus dem Kühlschrank geholt hatten, sprangen diese mit einem Satz auf die Küchentheke, weiter auf den Boden und rannten quer durch das Wohnzimmer, um aufgeregt auf die vollen Näpfe zu warten. Nachdem die beiden sich über das frische Fleisch hergemacht hatten, band Maren sich ihre langen Haare zusammen und verschwand ins Schlafzimmer. Sie zog sich schnell ihre Klamotten aus und warf sie auf einen Stapel, der dringend mal in die Waschmaschine musste. Sie schlüpfte in eine bequeme Jogginghose und ein weites Shirt. Ihr Blick wanderte durch ihr kleines Schlafzimmer und ließ sie aufstöhnen. In dem Raum gab es nicht viel zu finden. Auf der einen Seite stand ein Bett, welches mit brauner, weicher Bettwäsche bezogen war. Links und rechts davon ein kleiner Nachtschrank, mit jeweils einer Nachttischlampe. Auf der anderen Seite stand ihr großer Kleiderschrank mit zwei Kommenden. Minimalistisch. Eigentlich, wenn da nicht die vielen Klamottenberge liegen würden. Für einen kurzen Moment fragte sich Maren, ob sie dieses Problem direkt noch angehen sollte. „Scheiß drauf", murmelte sie, schaltete das Licht aus und warf die Tür hinter sich zu. Sie stieg über das feuchte Handtuch und den Feuermelder vom Morgen und bahnte sich den Weg zurück ins Wohnzimmer. Sie schnappte sich eine Pizza aus dem Gefrierfach und während sie darauf hoffte, dass diese diesmal nicht zu einem Stück Kohle werden würde, schnappte sie sich ein Feuerzeug und brannte die unzähligen Kerzen in ihrem Wohnzimmer an. Maren liebte Kerzenlicht und die Wärme, welche diese mit sich brachten. Mit einem zufriedenen Lächeln ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Das leichte Flackern der Kerzen tauchte ihre Wohnung in ein warmes, gemütliches Licht und gab dem ganzen einen urigen Flair. Sie liebte ihre Wohnung, in der sie bereits seit 17 Jahren lebte und sozusagen erwachsen geworden war. „Himmel, wenn ihr reden könntet", sagte sie und schüttelte den Kopf, während sie die Wände anlachte. Ja, war wohl besser, dass diese stillschweigend dastanden und nichts taten, außer die vielen Regale voller Pflanzen zu halten. Maren vernahm das leise Brummen ihres Handys und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie es den ganzen Tag noch nicht einmal in der Hand gehabt hatte. Sie lief schnell in den Flur, durchwühlte ihre Tasche und sah gerade, wie das Display wieder dunkel wurde. Sie nahm das Handy und stockte kurz. Ein Dutzend unbeantworteter Anrufe und fast genauso viele Nachrichten. Sie öffnete die Anzeige und als sie sah, von wem die Anrufe waren, seufzte sie. Uninteressant, dachte sie sich und lief zurück in die Küche, während sie die Nachrichten öffnete. -Sonntag 14 Uhr Weihnachtsmarkt am Ufer. Kneifen ist nicht, Beany. Freuen uns schon- Darius. Maren schüttelte den Kopf. „Sicher nicht", murmelte sie und schickte ihm einen Mittelfingersmile zurück. Der drückte mehr aus, als es tausend Worte hätten tun könnten. Plötzlich begann das Handy erneut zu brummen und wieder leuchtete das Display auf. Maren rollte die Augen, warf es auf die Küchentheke und ließ es klingeln. Währenddessen drehte sie sich erneut zum Kühlschrank und nahm sich ein Bier heraus. Als das Handy endlich wieder still war, griff sie erneut danach und sah die restlichen Nachrichten durch, was sich als Fehler herausstellten, sollte. Ein Großteil davon waren von Marian, ihrem Bruder, der sie auch seit Stunden versuchte zu erreichen, aber mehr als ein abschätziges Schnaufen hatte sie dafür nicht übrig und so löschte sie diese, ohne sie vollständig gelesen zu haben. Am Ende blieb nur noch eine Nachricht übrig und diese kam von einer unbekannten Nummer. Sie zögerte kurz, öffnete sie dann aber doch und als sie die Zeilen las, breitete sich sofort wieder Wut in ihr aus. -Lass uns reden. Du kannst das nicht einfach so beenden. Du gehörst mir!- Sie starrte auf das Handy und spürte, wie ihr Griff darum immer fester wurde. Tausende Antworten schossen ihr durch den Kopf, doch am Ende tat sie das einzig Richtige. Sie suchte sich durch die Funktionen und setzte auch diese Nummer auf die Blockierungsliste. „Nummer 5. Dämlicher Penner", raunte sie und schnappte sich ihr Bier. Vor Wut brodelnd, lief sie geradewegs auf die Balkontür zu. Die Kälte, welche ihr beim Öffnen entgegenschlug, ignorierte sie einfach. Sie stieg auf den kleinen Balkon, schnappte sich eine Zigarette aus der Schachtel, welche auf dem Tisch neben der schmalen Sitzbank lag und suchte nach einem Feuerzeug. Dieses benötigte mehrere Versuche, um eine Flamme entstehen zu lassen, und diese Tatsache überreizte Marens angespannte Nerven. „Komm schon", maulte sie und rieb weiter über den Feuerstein. Plötzlich schlug etwas in ihrem Oberarm ein und fiel zu Boden. Ihr Blick folgte dem Geräusch und sah ein weiteres Feuerzeug am Boden liegen. „Ich will nicht, dass eine Katastrophe wegen Nikotinentzug ausspricht", raunte es plötzlich neben ihr. „So offensichtlich?", fragte Maren, schloss die Augen und zog tief die kalte Luft in ihre Lungen. „Fehlt nur noch, dass du anfängst, rot zu leuchten." Maren nickte, schlug die Augen wieder auf und während sie nach dem Feuerzeug griff, drehte sie sich in Richtung der Stimme. Eine ältere Frau stand auf dem Nachbarbalkon und sah zu ihr herüber. Sie hatte lange graue Haare, welche sie zu einem Dutt auf ihrem Kopf gebunden hatte. Sie zog selbst an einer Zigarette und zog dann ihren Bademantel etwas fester um sich. „Danke, Gabi", raunte Maren und lief zum Ende des Balkons. Gabi nickte nur und sah sie fragend an. „Was ist los?" Maren nahm einen tiefen Zug und spürte, wie sich ihr Inneres langsam wieder beruhigte. „Nachricht vom Idioten", raunte sie und Gabi nickte sofort. „Hat er immer noch nicht aufgegeben?" Maren schüttelte den Kopf. „Nein, scheinbar nicht." Gabi drückte ihre Zigarette aus und sah zu Maren. „Ignorieren. Einfach ignorieren." Maren lachte traurig auf. Wenn es nur so einfach wäre, dachte sie sich und wollte Gabi gerade das Feuerzeug zurückwerfen, als diese abwinkte. „Behalte es. Wird nicht die Letzte heute sein", sagte Gabi und verschwand zurück in ihre Wohnung. Gabi lebte wohl schon ihr halbes Leben hier und so hatte sie unfreiwillig einen Platz im Leben von Maren bekommen. Sie wusste fast alles von dieser und das, obwohl sich ihre Gespräche schon seit Jahren nur auf dem Balkon abspielten. Sie pflegten eine Art Freundschaft. Eine sehr komische Freundschaft. Maren seufzte, denn sie wusste, dass Gabi recht hatte, aber etwas zu ignorieren, was Wut und Schmerz zu gleichen Teilen hervorbrachte, war nicht so einfach, wie es sich anhörte. Sie zog an ihrer Zigarette, lehnte sich an das Geländer ihres Balkons und ließ den Blick schweifen. Bunte Lichter traten ihr entgegen, denn scheinbar hatte ihre gesamte Nachbarschaft gleichzeitig die Weihnachtbeleuchtung herausgekramt. Die Häuser funkelten in warmen, harmonischen Lichtern, welche die dicke Schneeschicht glänzen ließen. Die ersten Tannenbäume waren erleuchtet, mit bunten Kugeln geschmückt und in einigen Gärten waren bereits Schneemänner zu finden. Maren würde lügen, wenn sie versuchte, zu behaupten, dass dieser Anblick nicht wunderschön war. Doch was bei anderen eine tiefe Zufriedenheit und ein Gefühl der Besinnlichkeit auslöste, rief in ihr eine unfassbare Schwere hervor. Eine Schwere, die durch jede Zelle ihres Körpers drang und je näher Weihnachten kam, sich zu einer tiefen Trauer und Verletzbarkeit entwickelte. Unzählige Zigaretten später durchfuhr Maren ein Frösteln und schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie bereits vollständig durchgefroren war. Schnell trat sie zurück in ihre Wohnung und wurde sofort von einem beißenden Geruch empfangen. „Fuck", entfuhr es ihr und schon rannte sie zu dem Backofen. Sie riss ihn auf und eine dunkle Qualmwolke schlug ihr entgegen. Diese ließ sie sofort auf husten. Sie wedelte mit den Händen wild durch die Luft, schaltete den Herd ab und öffnete schnell das Fenster, damit der Rauch abziehen konnte, bevor es eine 2.0 Feueralarmübung geben konnte. Nachdem sich der Dunst halbwegs verzogen hatte, starrte sie in ihren Herd und betrachtete das verbrannte Stück Kohle, was mal ihre Pizza gewesen war. Schlagartig begann ihr Kopf zu dröhnen und sie gab auf. Der Tag war nicht mehr zu retten und als sie erneut das Brummen ihres Handys vernahm, entschloss sie, dass Gabi recht hatte. Ignorieren. Einfach Ignorieren. Sie schloss den Herd, griff nach dem Handy, um es abzuschalten, und ließ sich auf die Couch fallen. Sie schaltete den Fernseher an, kuschelte sich tief in eine der Decken ein und es dauerte nicht lange, bis sie gemeinsam mit Erna und Bernd tief und fest einschlief.
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