Sohn des Hades
Wieso saß Charon dort in der Ecke? Und wieso sah er so fertig aus? Hatte er getrunken? Hatte er nicht geschlafen? War etwas passiert? Hunderte Fragen schossen mir durch den Kopf und ich hatte auf keine einzige eine Antwort. Einzig allein Charon konnte mir das beantworten, doch er schien alles andere als erfreut mich zu sehen.
"Was tust du hier?" knurrte er und stand auf. So wacklig, wie er auf den Beinen war, schien er wirklich betrunken zu sein. Na super. Das hatte mir heute noch gefehlt. Ich hasste betrunkene Männer schon seit Jahren und erst recht jemanden wie Charon.
"Ich soll Ihnen einige Papiere bringen Mr. Black" versuchte ich höflich zu bleiben und lief auf seinen Schreitisch zu. "Geht es ihnen nicht gut?" fragte ich ganz beiläufig, als ich die Papiere dort ablegte. Es schien ihm alles andere als gut zu gehen, doch ich wollte mich nicht weiter damit beschäftigen. Papiere ablegen, nett fragen und dann gehen. Er wollte sicherlich sowieso nicht darüber reden.
"Was geht dich das an?" erwiderte er harsch und kam zu mir. Gott, er stank furchtbar nach Alkohol, so dass ich mir ein kleines Nase rümpfen nicht verkneifen konnte. Die Nase eines Halbgottes war meist um ein vielfaches besser, als die eines Menschen, weshalb ich den Alkohol noch viel stärker roch, als andere.
"Ich habe bloß gefragt. Wenn Ihnen solche Fragen nicht passen, dann trinken Sie nicht in ihrem Büro" antwortete ich mit einem bissigen Unterton. Ich wusste, dass er es gewohnt war, dass alle vor ihm Angst hatten, doch ich war nun mal kein schwacher Mensch. Ich konnte mich wehren.
"Du bist unglaublich frech kleine Wölfin" brummte er und ich konnte die Wut in seiner Stimme hören. Das war es aber nicht, was mich stocken ließ. Mein tierisches Symbol war der Wolf. Jeder wusste das und er erwähnte das sicher nicht zufällig. Nein, er wusste es ganz sicher.
"Dann pass auf, dass ich nicht zuschnappe" drohte ich ihm und sah ihm selbstbewusst in die Augen. "Ich weiß nicht, was dein Problem ist Charon aber ich bin es nicht, also lass es nicht an mir aus" fügte ich hinzu. In seinen Augen funkelte eine Mischung aus Belustigung und etwas Undefinierbarem.
Plötzlich griff Charon nach meinem Kinn und zog mich zu sich. Sofort verspürte ich das Bedürfnis mich zu wehren, doch ich wusste, dass das für meinen Auftrag gefährlich wäre. Ich sah ihm also bloß in die Augen und versuchte mich zu konzentrieren, trotz seines Atems.
"Wessen Mal trägst du am Hals kleines? Meins. Also sei verdammt nochmal nicht so eine Zicke" hauchte er mir gegen die Lippen. "Wieso bist du so Neoma? Wieso verfickt nochmal bist du so?" fügte er hinzu und vielleicht war es das Wort Zicke, die Erwähnung des Mals oder einfach nur sein verdammter Tonfall, doch mir reichte es.
Blitzschnell klatschte ich ihm eine und als er völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, nach hinten taumelte, starrte ich ihn böse an. "Nenn mich nie wieder Zicke. Du hast keinerlei Recht mir zu sagen, was ich tun soll und dieser verdammte Fleck an meinem Hals zeigt bloß, was für ein kranker Mistkerl du bist" warf ich ihm vor. Die Worte sprudelten einfach aus mir raus. Ich wusste, dass das alles wahrscheinlich ein Fehler war, doch es war mir egal.
Charon starrte mich böse an. Es war nicht zu übersehen, dass ihm dieser Schlag keinesfalls gefallen hat. Doch er hatte es verdient. Dieser verdammte Mistkerl hatte es mehr als verdient, dass ihm eine Frau mal zeigte, dass er nicht so weit gehen durfte. Er war mein Zielobjekt. Ich konnte ihn nicht an mich heranlassen und das würde ich auch nicht.
"Wie kannst du es wagen Neoma?" knurrte er und kam langsam auf mich zu. "Raus hier!" befahl er und ich konnte an seinen geballten Händen erkennen, dass er sich beherrschen musste, nicht auszuflippen. Eigentlich war es ja nicht meine Art mich zurückzuziehen, doch ich hatte wohl keine Wahl.
Ich nickte bloß und verschwand dann aus seinem Büro. Ich wollte ihm nicht mehr in die Augen sehen, geschweige denn mit ihm sprechen. Ich blieb also hinter meinem Schreibtisch, bis ich all meine Arbeiten erledigt hatte und betete, dass ich weder Kyon, noch Charon heute sah.
Auch, wenn ich versuchte es zu ignorieren, auf dem Weg nach Hause begann ich nachzudenken. Was war los mit Charon? Wieso hatte er getrunken? Wahrscheinlich tat er das häufiger. Nur so konnte ich mir erklären, dass ein Arsch wie er sich selbst ertragen konnte.
Genervt von dem heutigen Tag schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf und erblickte jemanden, den ich definitiv nicht erwartet hatte. Es war eine der Jägerinnen meiner Mutter. Allerdings war sie nicht nur irgendeine Jägerin, sie war Gaya, die oberste Offizierin meiner Mutter. Shit. Was wollte die denn hier?
"Neoma" begann sie mit ihrer eiskalten Stimme. Sofort bekam ich eine Gänsehaut. Gaya war diejenige gewesen, die mich als Kind trainiert hatte und sie war alles andere als liebevoll gewesen, weshalb mich ihre Präsenz immer noch einschüchterte.
"Gaya, was tust du hier?" fragte ich und wie auf Knopfdruck spannte sich mein ganzer Körper an. Eigentlich wusste ich ja, was sie hier wollte. Ich brauchte zu lange und meine Mutter wollte Fortschritte sehen. Normalerweise brauchte ich nicht mehr als eine Woche für einen Auftrag, doch für diesen Auftrag... Charon war eben viel schwieriger.
"Wir wollen Ergebnisse sehen. Wieso ist Charon noch am Leben?" fragte sie harsch und ich konnte eine gewisse Enttäuschung in ihrer Stimme hören. Natürlich. Vielleicht war das der Grund, warum ich einer der besten Auftragskiller der Welt war. Ich wollte keine Enttäuschung sein.
"Charon ist klug. Er würde es merken, wenn ich ihm einfach zu Füßen liegen würde" erklärte ich und versuchte den Kloß in meinem Hals zu schlucken. Egal was ich ihr sagen würde, egal was für eine Erklärung ich hätte, mir war klar, dass es nicht reichen würde. Ich wusste es und dennoch versuchte ich mich rauszureden.
Und du solltest klüger sein. Unser Kontakt hat uns berichtet, dass du dich durchgehend mit ihm streitest Neoma. Du hast noch 2 Wochen, ansonsten übernimmt jemand anders diesen Auftrag" meinte Gaya mit rauer Stimme. Ich wusste, dass sie nicht wollte, dass ich versage. Allerdings nicht aus Nettigkeit. Dieser Auftrag war unfassbar wichtig und wenn ich es schaffte, dann würde der Olymp sowohl mir, als auch Gaya und meiner Mutter viel ansehen schenken. Es war also kein Wunder, dass sie so viel Druck auf mich ausübten.
Wie immer nickte ich bloß und versuchte möglichst demütig zu wirken. Ich hatte keine Lust, dass Gaya irgendwas an mir auszusetzen hatte und noch mehr enttäuscht war, als es bereits den Anschein machte. Glücklicherweise schien sie allerdings zufrieden mit meiner Antwort, weshalb sie nach wenigen Sekunden aus meiner Wohnung verschwand.
Erleichtert atmete ich auf und ließ mich auf dem Sofa nieder. 2 Wochen? Wie sollte ich in 2 Wochen Charon so nahe kommen, dass er mir vertraute und ihn dann töten? Es wäre mehr als auffällig, wenn ich ihm jetzt plötzlich alles verzog und ihn wollte. Das wäre... Unglaubwürdig. Ich musste also zulassen, dass er glaubte mich langsam zu verführen.
Plötzlich erschien eine Nachricht auf dem Display meines Handys. Verwundert nahm ich es in die Hand und sah eine unbekannte Nummer. Ich öffnete WhatsApp und las die Nachricht. Morgen. 11 Uhr. Meetingraum 2. Du wirst meine Assistentin sein". War die von Charon? Sicher. Nur er hatte die Hochnäsigkeit so mit mit zu reden.
Ja Sir" schrieb ich zurück. Eigentlich wollte ich etwas bissiges erwidern, doch das wäre kontraproduktiv, also entschied ich meine Mauern ein wenig runterzufahren. Ich würde allerdings keinesfalls erlauben, dass er mir gegenüber so respektlos, wie gestern war. Nein. Das definitiv nicht.
Nachdem ich noch zwei Minuten mein Handy angestarrt hatte und auf eine Entschuldigung für heute gewartet hatte, entschied ich mich, endlich ins Bett zu gehen. Ich war müde und erschöpft von den letzten Tagen. Der Streit mit Kirian, die Sache mit Charon und der große Druck. All das machte mir zu schaffen.
Am nächsten morgen stand ich etwas später auf als sonst. Ich musste mich auf das Meeting vorbereiten, doch das ging auch auf dem Weg, also machte ich mich gemütlich fertig. Ich zog mich besonders schick an. Ein graues, enges Kleid, gepaart mit schwarzen High-Heels und ein wenig aufwendigem Make-Up. Ich wollte heute besonders gut aussehen. Vielleicht konnte ich ja dadurch die Aufmerksamkeit der Teilnehmer des Meetings auf mich ziehen, was Charon sicher nicht gefallen würde.
Um halb zehn kam ich endlich im Büro an und arbeitete einige Akten ab. Es war wirklich unfassbar, wie viel Papierkram solch eine Firma machte. Die meiste Zeit hatte ich überhaupt keine Ahnung, was für Zettel ich sortierte, während ich mit irgendwelchen wütenden Kunden telefonierte.
Kaum hatte ich einen Kunden abgewürgt, sah ich auf die Uhr und realisierte, dass es bereits viertel vor Elf war. Scheiße. Ich musste mich beeilen. Ich war noch nie in einem Meeting gewesen, weshalb ich begann nervös zu werden. Es war immerhin ein Treffen mit lauter wichtigen Menschen.
Angespannt begab ich mich in den 8. Stock und lief eine Weile durch die Gänge, bis ich endlich den richtigen Meetingraum fand. Meine Hand legte sich an die Türklinke, der dunklen Metalltür.
Einige Male atmete ich tief ein, dann trat ich ein.
Sofort trafen meine Augen auf das dunkle Schwarz, dass mich schon die letzten Tage völlig verrückt machte.
Dort saß er.
Charon Black, Sohn des Hades.
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